Geld und Geist, made in Bern (I)
Die Burgergemeinde ist in der rot-grünen Stadt Bern unangetastet. Weil sie sich seit ihrer Gründung vor 190 Jahren immer wieder clever in die Stadt integriert. Die Bernburger-Saga, Teil I.
Das Burgerspittel neben dem Hauptbahnhof ist ein offenes Haus. Die Burgergemeinde hat aus dem barocken Prunkbau 2014 ein schweizweit pionierhaftes soziales Projekt gemacht. Sie hat ihn in ein Generationenhaus umgewandelt. In einen «Ort der Begegnung und des gesellschaftlichen Dialogs».
An urbaner Vorzugslage, wo in anderen Städten höchste Renditen erwirtschaftet würden, stellt die Burgergemeinde Bern ein Non-Profit-Haus zur Verfügung. Man kann sich dort ohne Konsumzwang aufhalten, im Sommer werden im lauschigen, öffentlich zugänglichen Innenhof unentgeltliche Konzerte organisiert. Es beherbergt Alterswohnungen und soziale Institutionen, wo sich Alte und Junge, Familien und Einzelgänger*innen, Migrant*innen und Einheimische, Angepasste und Aussenseiter*innen treffen.
Im gleichen progressiven Haus befindet sich der Hauptsitz der Bernburger*innen, die in der Öffentlichkeit als konservativer Machtfaktor wahrgenommen wird. Hier beraten die diskreten Spitzen der Burgergemeinde Renditeoptionen für ihr milliardenschweres Vermögen. Und hier entscheiden sie, wen und was sie mit den rund 30 Millionen Franken, die sie jedes Jahr vor allem aus ihrem Bodenbesitz erwirtschaften, unterstützen.
Man kann Bern nicht verstehen, wenn man die Rolle der Burgergemeinde nicht versteht. Mit ihren 18’000 Mitgliedern ist sie eine der grössten und wohlhabendsten Burgergemeinden der Schweiz, die ein Drittel des städtischen Bodens besitzt. Und das ausgerechnet in der linken Stadt Bern, der sie jedoch als grosszügige Kulturmäzenin beisteht. Wie entstand die Burgergemeinde und wie wurde sie reich? Wie funktioniert sie? Wie viel Macht übt sie aus? Und: Was wäre Bern ohne die Burgergemeinde?
Diese Fragen arbeitet die «Hauptstadt» in den nächsten Wochen aus diversen Blickwinkeln in einem mehrteiligen Schwerpunkt auf. Dieser erste Text über die burgerliche Entstehungs-Saga ist der Auftakt dazu. Zudem hast du Gelegenheit, am «Hauptsachen»-Talk vom 7. November im Progr (19.30 Uhr) live über die Burgergemeinde mitzudiskutieren – mit Burgerrats-Präsident Bruno Wild und SP-Stadtrat Halua Pinto de Magalhães, der die Burgergemeinde in Frage stellt.
Macht und Grosszügigkeit. Diskretion und Offenheit. Innovation und Konservatismus. Geld und Geist. Die Gegensätze, die sich im innovativen Generationenhaus verschränken, prägen die Geschichte der Burgergemeinde Bern.
Sie wird hier in zwei Teilen in Kürzestform erzählt. Denn sie zeigt, dass der Einfluss, den die Burgergemeinde bis heute hat, kein Zufall ist. Sondern das Resultat flexibler burgerlicher Strategien mit der Wirkung, in sich wandelnden politischen Umfeldern die eigene Legitimation zu sichern.
Burgergemeinden (auch Ortsgemeinden, Korporationsgemeinden, Borgeoisies oder Patriziati) gibt es in fast allen Kantonen, es sind Hunderte schweizweit. Wenige haben eine dominante Rolle wie die Burgergemeinde Bern. Sie erzielt mit der Bewirtschaftung ihres Vermögens grosse Erträge. So gross, dass sie allein mit deren Verteilung «zum Wohl der Allgemeinheit» eine subtile Form der Einflussnahme auf das Leben in der Stadt Bern ausübt. Ob sie will oder nicht.
Offiziell beginnt die Geschichte der Burgergemeinde Bern gleichzeitig mit der Einwohnergemeinde im Jahr 1833. Verständlich wird sie jedoch nur, wenn man sich vergewissert, was vorher war.
Der Zusammenbruch des Alten Bern
Bevor Napoleon 1798 in der Schweiz den demokratischen Wandel anstösst, ist das Alte Bern über Jahrhunderte eine Macht in Europa. Bern reicht vom Aargau bis an den Genfersee und ist der grösste Stadtstaat nördlich der Alpen.
Man nennt es Ancien Régime: Stadt und Kanton sind eins, und der extrem schlanke Staat besteht ausschliesslich aus der Burgerschaft. Ein erlauchter Kreis von 75 Patrizierfamilien regiert aus dem noblen Machtzentrum der unteren Altstadt das riesige Territorium. Neben den Gnädigen Herren gibt es in der Stadt die einfache Burgerschaft (Handwerker, Beamte, Geistliche), welche die alte Stadtgemeinde bildet, sowie die Hintersassen (Gesellen, Knechte und Tagelöhner).
Wirtschaftlich setzt die Stadtberner Aristokratie auf die Landwirtschaft. Sie baut Reichtum auf, indem sie der Bauernschaft den Zehnten abverlangt, der jedoch im europäischen Vergleich tief ist. Parallel dazu verdient die Herrschaftsschicht an Berner Söldnern in ausländischen Kriegsdiensten sowie an internationalen Geldgeschäften. Zum Beispiel investiert das Alte Bern im 18. Jahrhundert in die britische South Sea Company. Diese importiert aus südamerikanischen Kolonien Nahrungsmittel und Edelmetall, die unter Einsatz von Sklaven hergestellt oder abgebaut werden.
Fremdeln mit dem «Krämer-Geist»
Mit der Industrialisierung kommt unternehmerisches Denken auf. Damit fremdeln die Berner Patrizier. Sie erlassen 1747 gar ein Gesetz, das es den herrschenden Geschlechtern verbietet, sich an kaufmännischen oder industriellen Unternehmen zu beteiligen. Als zu riskant beurteilen sie solches Geschäften und blicken auf Unternehmer und Handwerker herab, weil diese dem «Krämer-Geist» frönen.
Als der legendäre Regierungskritiker Samuel Henzi die verweigerte Beteiligung von Unternehmern und Handwerkern an der Macht offen kritisiert, lässt ihn der Schultheiss – das Stadtoberhaupt – 1749 köpfen. Die brutale Geste unterstreicht, wie erstarrt und weltfremd Berns Machtelite geworden ist. Napoleons Truppen fegen sie 1798 weg – und nehmen bei dieser Gelegenheit neben dem Berner Staatsschatz auch die Bären aus dem Bärengraben nach Paris mit.
Genossenschaftlicher Grundgedanke
In den turbulenten Jahren der Demokratisierung nach Napoleons Einfall entstehen sowohl der Kanton wie die Einwohnergemeinde als staatliche Institutionen. In den Genen der Burgergemeinde steckt jedoch nicht nur die Vergangenheit der aristokratischen Machtausübung. Sondern auch das Prinzip der mittelalterlichen Allmendgenossenschaft. Also die schon fast sozialistische Idee, mit gemeinsamem Besitz und kollektiver Bewirtschaftung des Bodens die Grundversorgung sicherzustellen.
Anfang des 19. Jahrhunderts stellt sich die grosse Frage, wie man die Burgerschaft, der ja der alte, zerschlagene Staat Bern quasi im Privatbesitz gehört hat, entschädigen soll. Wie man sie in die junge Demokratie integrieren soll. Bern findet den Kompromiss im Dualismus zweier Gemeinden, die nebeneinander bestehen: die territoriale Gemeinde aller Einwohner*innen und die Burgergemeinde der Besitzer*innen der Nutzungsgüter (Boden, Wälder, Liegenschaften).
1833 werden die beiden Gemeinden offiziell gegründet. Burger*innen gehören beiden an.
Weil die Einwohnergemeinde mittellos ist, tritt sie der Burgergemeinde als Bittstellerin entgegen, um zu Geld zu kommen und ihre öffentlichen Aufgaben erfüllen zu können.
Als Bern 1848 zur Bundesstadt gekürt wird, spitzt sich dieses finanzielle Abhängigkeitsverhältnis zu: Die Stadt muss den Bau des eidgenössischen Regierungsgebäudes – das heutige Bundeshaus West – aus eigenen Mitteln finanzieren. Deshalb einigen sich Einwohner- und Burgergemeinde 1852 darauf, ihre Besitzverhältnisse in einem Ausscheidungsvertrag zu entflechten.
Das lukrative Feldwesen
Für die prägende Rolle der Burgergemeinde von heute ist das ein entscheidender Moment: die Aushandlung des Ausscheidungsvertrags. Über ihre Interessenvertretung muss sie sich keine Sorgen machen – auch die Verhandlungsdelegation der Einwohnergemeinde besteht zu dieser Zeit noch mehrheitlich aus Burgern.
Auf den ersten Blick sieht es aus, als hätten sich die Burger 1852 mit staubigen Kartoffeläckern begnügt. Aber...
Das Ergebnis knapp zusammengefasst: Die Burger treten der Einwohnergemeinde Stadtliegenschaften ab. Sie sind im Unterhalt aufwändig. Dafür gestehen sie der Einwohnergemeinde das Privileg zu, zwecks Eigenfinanzierung Steuern zu erheben. Sie selber übernehmen die Waisenhäuser, das Burgerspital sowie die musealen Sammlungen, namentlich das Naturhistorische Museum. Dieses erlangt später dank der aus Afrika importierten Hinterlassenschaft des Grosswildjägers Bernhard von Wattenwyl, einem ausgewanderten Bernburger, internationales Renommée.
...es ist, wie sich schon 30 Jahre später zu zeigen beginnt, wirtschaftlich ein absoluter Glücksgriff.
Vor allem aber: Die Burger behalten die noch unüberbauten Stadtfelder ausserhalb der Aareschleife sowie die Wälder in ihrem Exklusivbesitz. Auf den ersten Blick sieht es aus, als hätten sich die Burger 1852 mit staubigen Kartoffeläckern begnügt. Aber es ist, wie sich schon 30 Jahre später zu zeigen beginnt, wirtschaftlich ein absoluter Glücksgriff. Die Stadt fängt an, explosionsartig zu wachsen, die Äcker – etwa im Kirchenfeld oder im Breitenrain – werden zu lukrativem Bauland.
So spült das «Feldwesen» der Burgergemeinde bis heute Millionenerträge in die Kasse.
Herz für Wohlhabende
War es Kalkül? Hatten die Burger diese vorteilhafte Entwicklung bei den Bodenpreisen kommen sehen?
«Dafür habe ich keine Hinweise gefunden», sagt Martin Stuber, Historiker an der Universität Bern, der «Hauptstadt». Er hat sich intensiv mit der Geschichte des burgerlichen Grundeigentums befasst.
Im Vordergrund sieht er zu diesem Zeitpunkt einerseits die historischen Rechte der alten Stadtgemeinde. Sie wurden bereits in der Dotationsurkunde von 1803 festgehalten und leiten das Grundeigentum der heutigen Burgergemeinde aus der jahrhundertelangen gemeinschaftlichen Nutzung der Stadtfelder und –wälder ab.
Andererseits suchten die Bernburger laut Stuber ihren Einfluss auf die Stadtentwicklung zu erhalten. Explizit zielten sie darauf ab, die soziale Zusammensetzung der wachsenden Stadtbevölkerung zugunsten der Wohlhabenden zu beeinflussen.
Der wilde Burgersturm
Bevor sich der Bodenbesitz zu rechnen beginnt, schlittert die Burgergemeinde in eine schwere Krise. Liberale Köpfe stellen die Existenzberechtigung der exklusiven Institution in Frage – besonders heftig aus dem Inneren der Burgergemeinde.
Die materiellen und sozialen Burger-Privilegien seien mit dem demokratischen Staatsverständnis nicht vereinbar, kritisieren interne und externe Oppositionelle. Nie wird die Burgergemeinde in aller Öffentlichkeit so entschlossen in Frage gestellt wie in der wilden Phase des Burgersturms. Neuzeitliche Vorstösse linker Politiker*innen zur Abschaffung der Burgergemeinde sind dagegen laue Lüftchen.
Die Burgergemeinde zieht den Kopf aus der Schlinge. Bei der Volksabstimmung über eine neue Kantonsverfassung 1885 stimmt nur – aber immerhin – der Amtsbezirk Bern für ihre Abschaffung. Die kantonsweite Mehrheit lehnt sie deutlich ab.
Ein erstes Mal erkennen die Berner Burger, dass sie ihre Strategie anpassen und sich integrieren müssen, wenn sie nicht ständig in Frage gestellt werden wollen.
Zum «Wohl der Allgemeinheit»
Sie entschliessen sich, die Hürden für die Einburgerung zu senken, um die Burgergemeinde gesellschaftlich breiter abzustützen. Und den Vorwurf zu entkräften, sie sei bloss ein Relikt der altbernischen Feudalgesellschaft.
Zudem schafft die Burgergemeinde 1888 den Burgernutzen ab: die exklusive Gewinnausschüttung aus dem Bodenbesitz zu Gunsten der Burger. Die Erträge kommen fortan der Allgemeinheit zu.
Damit ist Ende des 19. Jahrhunderts das dreibeinige Fundament gelegt, auf das die Burgergemeinde ihre Legitimation bis heute stützt.
Erstens: Die Existenz der Burgergemeinde ist seit der Abstimmung von 1885 demokratisch abgesichert.
Zweitens: Ihre individuellen materiellen Privilegien sind seit 1888 abgeschafft, was so auch in der Kantonsverfassung verankert wird.
Drittens: Durch die erleichterte Einburgerung versteht sie sich explizit nicht als konservativer Interessenverband alter Berner Patriziergeschlechter. Sondern als «Abbild der modernen, vielfältigen Gesellschaft», wie es Christophe von Werdt, Vizepräsident der heutigen Exekutive der Burgergemeinde, in einem Text formuliert.
In der Tat ist die Burgergemeinde Bern laut Gemeindegesetz eine Gemeinde wie jede andere auch. Sie legt ihre Rechnung offen, ihre Parlamentssitzungen, die im burgereigenen Casino stattfinden, sind öffentlich. Ihre Erträge setzt die Burgergemeinde gemäss Kantonsverfassung «nach Massgabe ihrer Mittel zum Wohl der Allgemeinheit» ein.
Exklusiv an ihr ist aber das: Was das Wohl der Allgemeinheit ist, bestimmt sie ganz alleine.
Lies am Dienstag den zweiten Teil unserer Burger-Geschichte: Wie die Burgergemeinde ihren Bodenbesitz erblühen lässt.
Verwendete Literatur:
Birgit Stalder, Martin Stuber, Sibylle Meyrat, Arlette Schnyder, Georg Kreis: Von Bernern und Burgern. Tradition und Neuerfindung einer Burgergemeinde. Hier und Jetzt. 2015
Katrin Rieder: Netzwerke des Konservatismus. Berner Burgergemeinde und Patriziat im 19. und 20. Jahrhundert. Chronos. 2008.
Stefan von Bergen/Jürg Steiner: Wie viel Bern braucht die Schweiz? Stämpfli. 2012.
Jürg Steiner: Bern – eine Wohlfühloase? Der Weg zur rot-grünen Hauptstadt. Stämpfli. 2020.
Geld und Geist, made in Bern (II)
«Bei der Burgergemeinde habe ich keine Wählerschaft im Nacken»
Gute Rendite, wenig Klimaschutz
Kulturburger
«Unser grösstes Problem ist der Wald»
Einburgern
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Die Artikelserie zur Burgergemeinde wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt.