Burgergemeinde Spezial

«Bei der Burgergemeinde habe ich keine Wählerschaft im Nacken»

Barbara Mühlheim war dreissig Jahre lang Politikerin. Jetzt sitzt sie in der Exekutive der Burgergemeinde. Warum gefällt es ihr dort?

Portrait der ehemaligen Grossrätin und jetzt kleinen Burgerrätin Barbara Mühlheim im Innenhof des Generationenhauses. 


© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus. 

«Ich wage zu bezweifeln, dass die Stadt Bern zum Beispiel ihre grossen Museen ohne die Burgergemeinde finanzieren könnte.» Barbara Mühlheim sieht in der Burgergemeinde kein Demokratieproblem. (Bild: Dres Hubacher)

Man nannte Barbara Mühlheim ein politisches Urgestein, da war ihr Rücktritt als Grossrätin noch acht Jahre entfernt. Wenn eine die Berner Politik kennt, dann sie.

Sie hatte im Kocherpark bereits Hunderte Heroinsüchtige beatmet, als Bern sie 1992 in den Stadtrat wählte. Zwölf Jahre später erreichte sie die Amtszeitbeschränkung, landete kurz darauf im Grossen Rat und blieb bis 2022. Sie war Sozialdemokratin, dann bei der GFL, dann grünliberal.

Immer war sie auch Burgerin. Wie schon die Mutter und der Grossvater, ein Berner Metzgermeister, der sich in den 1930er-Jahren einburgern liess. 

Als Mädchen waren es die Erdbeertörtchen am Kinderfest, die Mühlheim das Gefühl gaben, zur Burgergemeinde dazuzugehören. Als Politikerin waren es die Gesetzesreformen. 

Sie liess im Grossen Rat bei zwei neuen Gesetzesvorhaben die Interessen der Burgergemeinde geschickt einfliessen. Heute sitzt sie in deren Exekutive: Per 1. Januar 2023 wurde Barbara Mühlheim in den Kleinen Burgerrat gewählt. 

Sie erklärt, wie sich Burgergemeinde und Politik unterscheiden. Und warum sie das Vermögen der Burgergemeinde nicht verstaatlichen würde: Eine Innensicht aus der Burgergemeinde Bern, wo die Wege kürzer sind und die Gelder verfügbar.

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Barbara Mühlheim, was bedeutet ein Amt als Kleine Burgerrätin?

Für mich bedeutet es, dass ich mich mit Freude und grossem Interesse für eine Sache einsetze, die mir am Herzen liegt: das soziale Engagement. Ich mache das wie alle ehrenamtlich und wende etwa einen Tag pro Woche dafür auf. Das Milizsystem gehört zur DNA der Burgergemeinde. Die Menschen engagieren sich neben ihrem eigentlichen Job in verschiedenen Funktionen für die Burgergemeinde. Vergleichbare politische Ämter üben hingegen meist Vollprofis aus.

Der Kleine Burgerrat ist die «Regierung» der Burgergemeinde. Warum braucht er 14 Mitglieder?

Alle Mitglieder präsidieren auch eine Kommission. Bei mir ist das SORA, eine soziale Institution der Burgergemeinde Bern. Sie ist zuständig für Jugend- und Familienarbeit – nicht nur für Burger*innen, sondern für die Allgemeinheit. In der Kommission fällt die meiste Arbeit an. Im Kleinen Burgerrat, der Exekutive, treffen wir uns in der Regel monatlich und diskutieren die Geschäfte der Kommissionen auf strategischer Ebene.

Was interessiert Sie an dieser Position?

Ich habe dreissig Jahre lang Suchtarbeit gemacht, davor Jugendarbeit. Und daneben Politik. Nun kann ich beides miteinander kombinieren und am Puls der Jugend- und Sozialpolitik arbeiten. 

«Die Burgergemeinde denkt nicht in Legislaturen, sondern in Generationen.»

Was ist denn anders an der Arbeit bei der Burgergemeinde als bei anderen Gemeinden? 

In der Burgergemeinde Bern kann ich zusammen mit vielen spannenden Menschen innovative Ideen entwickeln – und diese dank vergleichsweise kurzen Entscheidungswegen auch umsetzen. Nicht zuletzt, weil die Burgergemeinde Bern dazu die notwendigen Mittel zur Verfügung hat. Gleichzeitig ist die Burgergemeinde Bern dem kantonalen Gemeindegesetz unterstellt und demokratisch organisiert. Sie wird wie andere Gemeinden von der Regierungsstatthalterin beaufsichtigt. Das Gesetz sieht vor, dass wir uns nach Massgabe unserer Mittel zum Wohl der Allgemeinheit einsetzen. Organisiert sind wir wie andere Gemeinden auch. Das sind wesentliche Punkte, die ich an der Burgergemeinde so spannend finde.

Weil die Arbeit Ihnen persönlich viel Gestaltungsspielraum lässt?

Wenn wir beim SORA in einem bestimmten Bereich Handlungsbedarf sehen, dann werden wir aktiv. Jüngstes Beispiel ist das neue «Eltern Walk-in», ein Beratungsangebot für Eltern von Kindern ab 6 Jahren. Für uns gelten dieselben Vorgaben, die auch eine staatliche Institution erfüllen muss. Dieses Beispiel zeigt, dass gute und durchdachte Ideen immer Gehör finden. So können wir uns alle aktiv einbringen und mitgestalten.

Portrait der ehemaligen Grossrätin und jetzt kleinen Burgerrätin Barbara Mühlheim im Innenhof des Generationenhauses. 


© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus. 

Barbara Mühlheim war langjährige Stadträtin, dann langjährige Grossrätin. Jetzt ist sie Kleine Burgerrätin. (Bild: Dres Hubacher)

Wie wird man Burgerrätin?

Bei mir war es so, dass ich bereits während mehreren Jahren in der SORA-Kommission mitarbeitete, bevor mich die Burgergemeinde für ein Engagement im Grossen und später im Kleinen Burgerrat anfragte. 

Auch, weil Sie sich als Politikerin einen Namen gemacht hatten?

Im Grossen Rat erarbeiteten wir zwei neue Gesetze, die die Interessen der Burgergemeinde Bern tangierten: das Kinder- und Erwachsenenschutzgesetz und das Kinder- und Förderschutzgesetz. Weil die Burgergemeinde eine eigene KESB und Sozialhilfe hat, mussten Finanzierungsfragen geklärt werden. Darum habe ich mich als Grossrätin gekümmert. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt natürlich auch bereits Kontakt mit einzelnen Burgerinnen und Burgern, die kamen auf mich zu und sagten: «Ui, da müssen wir etwas machen.» So bin ich reingerutscht. Meine guten Kontakte zum Kanton und meine Mitarbeit in den entsprechenden Kommissionen waren dabei hilfreich.

In der Burgergemeinde wächst man in ein Amt hinein. Gibt es trotzdem so etwas wie einen Wahlkampf?

Wie in jeder Gemeinde gibt es Wahlen. Aber tatsächlich ist es eine gezieltere Suche nach den richtigen Leuten in der richtigen Position. Bei der Burgergemeinde Bern gibt es kein Hickhack zwischen den Parteien. Sie betreibt keine Parteipolitik. Oft hören wir auch, dass Leute, die sich engagieren wollen, genau das schätzen: Dass es um die Sache geht. Sie würden nie in der Politik aktiv sein wollen, aber sie setzen sich gerne für eine sinnstiftende Arbeit ein.

Das schlägt sich auch in den Wahlresultaten nieder. Kandidat*innen werden jeweils fast einstimmig gewählt. 

Das stimmt. Das könnte man als Handicap ansehen. Für mich ist es das nicht. Nur eine überschaubare Gruppe von Menschen kann und will das Engagement, das ein solches Amt mit sich bringt, überhaupt leisten. Ausserdem: In der Burgergemeinde Bern kannst du dich nicht profilieren. Als Grossrätin bist du jemand, du kannst theatralisch sein. Bei der Burgergemeinde Bern arbeitest du im Stillen. 

Die Burgergemeinde hat immerhin 18'000 Angehörige – die sind kaum alle immer gleicher Meinung. Da gibt es doch in den Räten sicher auch umstrittene Themen und interne Kämpfe?

Im Grossen Burgerrat, dem Parlament der Burgergemeinde Bern, wird tatsächlich wenig kontrovers diskutiert. Das ist kein Vergleich zum Grossen Rat, wo «die grosse Schlacht» inszeniert wird. Der entscheidende Unterschied zwischen Parteien- und unseren Strukturen ist: In der Burgergemeinde können wir mehr sachbezogen diskutieren. Ich finde das wahnsinnig angenehm. Nach dreissig Jahren kann ich endlich mal wieder über die Sache reden. Ich muss mir nicht überlegen, welche Personengruppe ich befriedigen muss, damit ich wiedergewählt werde. In der Politik hast du viel mehr im Nacken, was die Wählerschaft wohl denkt. 

«Nach dreissig Jahren kann ich endlich mal wieder über die Sache reden.»

Was unterscheidet Burger*innen denn von anderen Leuten?

Ich sag’s jetzt mal salopp: Wir wissen, dass Geld nicht auf dem Rasen wächst. Eigentum verpflichtet. Das klingt ein bisschen bürgerlich, aber ich denke, dieses Thema ist bei der Burgergemeinde Bern tief verankert. Wir haben historisch Vermögen anvertraut erhalten, und dazu müssen wir Sorge tragen. Deshalb wissen wir, dass wir nur ausgeben können, was wir auch wieder einnehmen werden. Man darf nicht vergessen: Unser Vermögen, der Boden, ist die Basis für unsere Einnahmen. Damit finanzieren wir unsere Aufgaben. Im Gegensatz zu einer Einwohnergemeinde haben wir ja keine Steuereinnahmen.

Haben Burger*innen stärker das Gefühl, es handle sich um ihr eigenes Vermögen als Steuerzahler*innen beim Staat?

Ich kann da nur für mich persönlich sprechen. Durch meine aktive Rolle in der Burgergemeinde Bern und in Kenntnis der Geschichte habe ich stets das Gefühl: Es ist «unser» Geld. Als Steuerzahlerin in der Einwohnergemeinde hingegen fehlt mir der unmittelbare Bezug, was mit «meinem» Geld gemacht wird.

Was ist Ihre persönliche Beziehung zum Vermögen der Burgergemeinde?

Ich habe grossen Respekt, dass über mehrere Generationen hinweg sorgfältig gewirtschaftet wurde. Es war immer sehr wichtig, das Vermögen nicht für kurzfristige Interessen auszugeben. 

Ein exklusiver Kreis ausgewählter Personen bildet eine eigene Gemeinde und verfügt über ein sehr grosses Vermögen. Das ist doch undemokratisch. 

Wir haben den Auftrag, unsere Mittel für die Allgemeinheit einsetzen, nicht zum privaten Zweck der Burgerinnen und Burger. Wie die rund 260 Burgergemeinden, Zünfte, Korporationen und Gesellschaften im Kanton Bern übrigens auch. Die Burgergemeinde Bern unterstützt Kultur, Soziales, Natur und Wissenschaft jährlich mit etwa 25 Millionen Franken. Diese Unterstützung kommt allen zugute – nicht nur den Menschen in der Stadt Bern. Wir unterstützen im ganzen Kanton. Es geht nicht um Selbstzweck. 

Die Burgergemeinde versteht sich als Ergänzung zur Einwohnergemeinde? 

Ja. 

Man kann auch sagen, das ist ein Problem. Ein Demokratieproblem.

Das Nebeneinander von Einwohnergemeinde und Burgergemeinde an einem Ort ist eine schweizweite Eigenheit und demokratisch legitimiert. Man kann alles als Problem anschauen. Nur: Die Burgergemeinde Bern hat zahlreiche Aufgaben übernommen, die der gesamten Bevölkerung dienen und die anderen Gemeinwesen entlasten. Ich wage zu bezweifeln, dass die Stadt Bern zum Beispiel ihre grossen Museen ohne die Burgergemeinde finanzieren könnte.

Aber wäre es nicht fairer, das Vermögen zu verstaatlichen? Dann könnte die Gesamtbevölkerung darüber verfügen.

Mit grosser Wahrscheinlichkeit würde das Geld bei einer Verschmelzung mit anderen Gemeinwesen rasch ausgegeben: um neue, kurzfristige Projekte zu finanzieren. Oder einen Lastenausgleich.

Sie sähen nur Nachteile in der Auflösung der Burgergemeinde.

Nein, darum geht es nicht. Die Burgergemeinde Bern hat eine andere Perspektive als ein Gemeinwesen mit Steuereinnahmen. Sie gibt das Geld zweckmässig und für die Allgemeinheit im grösseren Sinn aus. Beide Systeme ergänzen sich. Das ist meine These nach dreissig Jahren Erfahrung in der Politik.

«Wir Burger*innen wissen, dass Geld nicht auf dem Rasen wächst.»

Wie unterscheidet sich denn die Perspektive der Burgergemeinde konkret von der Politik?

Die Politik ist naturgemäss stark auf unmittelbare politische Interessen ausgerichtet. Ich mache Ihnen ein Beispiel. Nehmen wir an, das Geld der Burgergemeinde Bern würde verstaatlicht. Dann fände die Linke: «Wir brauchen den vollen Teuerungsausgleich für alle, unabhängig davon, was sonst noch läuft.» Und die Rechte würde sagen: «Wir haben so viel Klauerei, wir müssen subito den Sicherheitsapparat hochfahren.» Die Burgergemeinde muss keine unmittelbaren politischen Interessen bedienen, sondern kann in engem Kontakt mit der Einwohnergemeinde und dem Kanton im Sinne der Gesamtbevölkerung etwas bewegen.

In einer idealen Welt würden wir alle unser öffentliches Vermögen zusammen auf eine sinnvolle Art und Weise verwalten. Sie klingen, als könnte das Gemeinwesen von der Burgergemeinde lernen, wie man mit Geld umgeht?

Nein, das wäre anmassend. Ich war lange genug Teil des politischen Systems. Ich glaube einfach, dass die Politik, so, wie sie tickt, teilweise langfristiges Denken schwieriger macht. Mit den Vierjahreszyklen. Denken Sie an das ungeschriebene Gesetz: Wer als Regierungsrat ein Spital schliesst, wird nicht wiedergewählt – selbst wenn es das Spital nicht mehr braucht. Das macht es schwierig, auch unliebsame Entscheide zu fällen, die das Stimmvolk vielleicht nicht versteht. Deshalb sind das Gemeinwesen und die Burgergemeinde zwei unterschiedliche Systeme, die sich ergänzen. Man kann – schon rein rechtlich – das eine nicht einfach ins andere überführen.

Wurden Sie als Politikerin mit der Abschaffung der Burgergemeinde konfrontiert?

Im Grossrat wurde das nie thematisiert. Auch bei SP und den Grünen bremsten da meist Leute aus den eigenen Reihen. Am häufigsten kommen die Forderungen von den Jungparteien. Ich finde es auch legitim, zu fordern, das Geld der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Meine Erfahrung sagt, dass das nicht sinnvoller wäre. Die Burgergemeinde kann als eigenständige Struktur mehr bieten.

Sie sagen, die Forderung hat in Bern politisch keine Chance.

Auf Kantonsebene hat sie es in der neueren Geschichte noch nie bis ins Parlament geschafft. In der Stadt noch eher. Aber die Forderungen sind meistens eher «Einmal-Hypes», von denen man sich dann doch wieder verabschiedet – und zwar auch von linker Seite.

Portrait der ehemaligen Grossrätin und jetzt kleinen Burgerrätin Barbara Mühlheim im Innenhof des Generationenhauses. 


© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus. 

In der Burgergemeinde gehe es mehr um die Sache als in der Politik, sagt Barbara Mühlheim. (Bild: Dres Hubacher)

Im Kleinen Burgerrat sitzen zehn Männer und drei Frauen. Wo steht die Burgergemeinde bei der Gleichstellung?

Zu Beginn meines Engagements war es sogar nur eine Frau. Das hat mich gestört. Ich habe das auch thematisiert. Den Grund sehe ich im Milizsystem: Ein solches Amt ist sehr aufwändig. Solange Frauen neben Erwerbs- einen Grossteil der Care-Arbeit leisten, können sich viele die Zeit für eine solche Tätigkeit einfach nicht nehmen. 

Geht es länger, bis gesellschaftliche Veränderungen wie die Gleichstellung der Geschlechter in der Burgergemeinde ankommen?

Das kann ich so nicht unterstreichen. Wir können die Dinge reifen lassen. Aber dass es deswegen länger dauert, bis gesellschaftliche Veränderungen bei uns ankommen, würde ich nicht sagen. Wir sind stolz auf unser Milizsystem. Ohne das grosse freiwillige Engagement würde die Burgergemeinde Bern heute nicht funktionieren. Und in den Kommissionen zeigt sich ein anderes Bild: Dort sind viele jüngere Frauen aktiv. Bis sie aber ein Amt im Kleinen Burgerrat übernehmen können, dauert es noch eine Weile. Die Burgergemeinde Bern denkt nicht in Legislaturen, sondern in Generationen.

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Die Artikelserie zur Burgergemeinde wurde mit Unterstützung von JournaFONDS recherchiert und umgesetzt.

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