Gerade jetzt: Mutgeschichten
Ein neues Stationentheater führt durch Bern. Es wirft den Blick zurück auf das Leben eines jungen Berner Anwalts vor dem Zweiten Weltkrieg – und erzählt auch andere mutmachende Geschichten.
Das Besondere an einem Stationentheater sind die flüchtigen Momente, wenn das ganz normale Berner Alltagsleben auf eine Fiktion trifft. Vor dem Mobiliar-Gebäude beim Hirschengraben blicken die vorbeisausenden Velofahrer*innen plötzlich ganz erstaunt zur Seite, weil sie nicht verstehen, warum da jemand mit einem Schild in der Hand auf sie zeigt. Auf der kleinen Schanze unterhalten sich Jugendliche in einer slawischen Sprache einen Tick zu laut, vermutlich gerade, weil sie merken, dass nebenan ein Theatermonolog gesprochen wird. Und am Loebegge tanzt eine Strassenkünstlerin mit wilden Verrenkungen zu einem technoiden Stück, während das Publikum mit raschen Schritten weitergeht.
«Zivilcourage bewegt – das Prinzip Brunschvig» heisst der neue theatrale Rundgang des Theaters an der Effingerstrasse, der an diesem Samstag Premiere feiert. Er dauert gut 1,5 Stunden und führt über knapp zwei Kilometer durch die Innenstadt, vom Theater an der Effingerstrasse bis in die Heiliggeist-Kirche. Dabei wird die Geschichte des mutigen jüdischen Berner Anwalts Georges Brunschvig (1908-1973) erzählt, der sich sein Leben lang für Menschenrechte eingesetzt hat und Anwalt beim damaligen Berner Prozess war, auf den die «Hauptstadt» diesen Sommer ausführlich zurückgeschaut hat.
Der Tag der Premiere am 14. Oktober ist nicht zufällig gewählt: Genau 50 Jahre zuvor ist Brunschvig an einem Herzinfarkt gestorben, den er kurz nach Beginn des Jom-Kippur-Kriegs gegen Israel erlitten hatte. Dass sich Israel nach dem Angriff der Hamas vor Wochenfrist erneut im Kriegszustand befindet, ist zwar nicht in das Theater eingeflossen, hat aber Einfluss auf die Stationen: Die Kantonspolizei Bern hat der Theatergruppe kurzfristig untersagt, wie ursprünglich geplant eine Episode vor der Berner Synagoge zu spielen.
Die persönlichen Kämpfe
Regisseurin Uta Plate hat das Stück mit 16 Berner Laien-Schauspieler*innen entwickelt. Dabei sind die persönlichen Geschichten der Darsteller*innen ein wichtiger Teil davon. In Generationentandems erzählen sie von ihren persönlichen Kämpfen: dem Gang bis vor Gericht, um eine Lehre beenden zu können; den unermüdlichen Anstrengungen, als Mädchen in den 1960er-Jahren eine Lehre als Hochbauzeichnerin machen zu können; aber auch das bis heute andauernde Ringen um gleiche Rechte von Frauen und Männern und queeren Personen.
Eindringlich ist insbesondere der Monolog der jungen Frau, die im öffentlichen Raum sexuell belästigt wurde und sich überwinden musste, überhaupt zur Polizei zu gehen. Es ist ein wütender Monolog, den sie noch auf der Polizeistation geschrieben hat und jetzt im schmucken Saal des offenen Hauses La Prairie vorträgt.
Die Geschichten berühren, gerade weil sie echt sind, weil sie vielleicht alltäglich sind und doch etwas erzählen: Dass es auch im Alltag Mut braucht, um Dinge zu ändern. Und dass jede*r zu einer mutigen Person werden kann.
Brunschvig als roter Faden
Als roter Faden dient die Lebensgeschichte von Georges Brunschvig. In jeder der sieben Stationen erfährt das Publikum einen Teil seiner Biografie: Da geht es darum, in welchem Haus er aufgewachsen ist. Oder wie er seiner Angebeteten einen Antrag machte und sie schliesslich heiratete. Und natürlich geht es um den langen und zähen Prozess vor dem Berner Regionalgericht, in dem darum gerungen wurde, ob die antisemitischen «Protokolle der Weisen von Zion» zu «Schund» erklärt werden könnten.
Die Protagonist*innen lesen dabei auch aus dem Werk vor, das nachweislich eine Fälschung und keine Weltverschwörung der Juden ist. So zum Beispiel kommt diese Passage mehrmals ins Stück vor: «Bald werden alle Hauptstädte der Welt von Stollen der Untergrundbahnen durchzogen sein. Von diesen Stollen aus werden wir die ganzen Städte in die Luft sprengen.»
Genau dieselben Sätze geistern heute immer noch in verschwörungstheoretischen Foren herum, so etwa in Telegram-Chats von Corona-Leugner*innen.
Georges Brunschvig war mutig, er trat gegen das gefälschte Pamphlet an. Und der Rundgang «Zivilcourage bewegt – das Prinzip Brunschvig» ermutigt, auch heute hinzustehen und hinzusehen. Das ist keine neue Botschaft. Aber eine, die man sich immer wieder in Erinnerung rufen muss.
Die Rundgänge finden bis Ende Oktober und wieder ab März 2024 statt. Die Plätze müssen im Voraus gebucht werden. Der Eintritt ist frei, es gibt eine Kollekte. Im nächsten Frühling wird es im Theater an der Effingerstrasse auch ein Theaterstück zum «vergessenen Prozess» geben.
Die «Hauptstadt» ist Medienpartnerin der beiden Projekte.