So entstand die «Hauptstadt»
Das ist die Geschichte der «Hauptstadt» in Kurzform, von der ersten Idee bis zum ersten Publikationstag.
Zwischen dem ersten Publikationstag der «Hauptstadt», am 7. März 2022, und dem ersten Gedanken an ein neues, unabhängiges Online-Medium für Bern sind ziemlich genau eineinhalb Jahre vergangen. Als Tamedia im Oktober 2020 ankündigte, per Herbst 2021 auch noch die Lokalteile der Tageszeitungen Bund und BZ redaktionell zusammenzulegen, fassten Marina Bolzli und Jürg Steiner bei einem Mittagessen im Lorrainepark spontan den Entschluss, auf die Fusion mit einem eigenen, von Journalist*innen getragenen Projekt zu reagieren. Respektive es zu versuchen.
Christian Zeier, der mit «Reflekt» ein Recherche-Startup gegründet hatte, reaktivierte die «Bärner Rundi» – eine zuvor etwas eingeschlafene gelegentliche Diskussionsrunde von Berner Journalist*innen. Fast gleichzeitig klinkte sich Joël Widmer ein. Am ersten Zoom-Call der «Bärner Rundi» etwa zwei Wochen später, an dem man sich noch etwas vage über publizistische Ideen als Reaktion auf den Bund/BZ-Vollzusammenschluss unterhielt, nahmen rund 40 Journalist*innen teil.
Dieser Startimpuls genügte, damit das Projekt – begünstigt durch die vielen unbelegten Abende während der Pandemie rasch Fahrt aufnahm. Schon kurze Zeit später bildete sich eine lose Projektgruppe von rund 20 Journalist*innen, die sofort einen speditiven Arbeitsrhythmus fand und die Idee in zweiwöchentlichen Plenumscalls vorantrieb. Das Projekt hiess «Neuer Berner Journalismus» (NBJ). Joël Widmer, Marina Bolzli und Jürg Steiner kündigten ihre festen Arbeitsstellen und hielten zusammen mit Jessica King die Fäden als NBJ-Organisationskomitee (OK) zusammen.
NBJ blieb als Gruppe stets offen für neue Leute, setzte auf Crowdintelligenz und wandelte sich von einem Projekt von (ehemaligen) Bund- und BZ-Journalist*innen in eine diversere Gruppe, der sich auch Fotograf*innen, Multimedia-Producer*innen, Social-Media-Expert*innen und Fundraiser*innen anschlossen – alles in ehrenamtlichem Engagement. Grosses Gewicht legte NBJ von Beginn weg auf die Vernetzung mit anderen «neuen unabhängigen Medien». Kolleg*innen der städtischen Portale Tsüri (Zürich), Bajour (Basel), Kultz (Luzern) und Kolt (Olten) sowie der Republik teilten grosszügig ihre Erfahrungen und schenkten NBJ Schub und Mut. Auch mit dem Berner Pionier-Onlinemagazin Journal B entstand ein Austausch.
NBJ betonte stets, nur dann ein Online-Medium lancieren zu wollen, wenn in Bern dafür eine Nachfrage besteht. Zudem erwies es sich von Beginn weg als schwierig, in Bern genügend Anschubfinanzierung von Stiftungen, Institutionen oder Privaten beschaffen zu können. Deshalb fokussierte NBJ seine Kräfte ab dem Frühsommer 2021 auf die Durchführung eines Crowdfundings, das vom 19. Oktober bis zum 19. November 2021 laufen sollte, mit zweifachem Ziel: Der Verkauf von Jahresabonnementen à 120 Franken sollte genügend Geldmittel für das erste Betriebsjahr generieren – und gleichzeitig die real existierende Nachfrage testen. NBJ definierte 1000 gelöste Abos als Mindestgrenze.Darunter hätte die Realisierung eines Online-Mediums keinen Sinn ergeben.
Der Name «Hauptstadt» ist eine Aufforderung, Mut zu zeigen.
Mit dem Start des Crowdfundings im Herbst enthüllte NBJ auch den Namen des Mediums: «Hauptstadt». Dabei ist Bern doch Bundesstadt. Weshalb also dieser Name? Mitunter aus historischen Gründen: 1848 wurde Bern zur Bundesstadt der modernen Schweiz. Zuvor während Jahrhunderten der grösste und reichste Stadtstaat nördlich der Alpen, setzte sich Bern damals zwar in der internen Ausmarchung gegen das prosperierende Zürich durch. Gleichzeitig wurde das einst mächtige Bern im föderalistischen Sinn und Geist in die Schranken gewiesen: Bern erhielt den Sitz von Regierung und Bundesverwaltung, andere klassisch hauptstädtische Funktionen wie die Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH), das Bundesgericht oder das Landesmuseum vergab man jedoch nach Zürich oder Lausanne. Die offizielle Bezeichnung Bundesstadt ist deshalb auch eine Chiffre für ein klein gehaltenes Bern. Der Name «Hauptstadt» für das neue Berner Onlinemagazin war deshalb von Beginn weg auch eine Aufforderung an Bern, sich zu bewegen, Selbstbewusstsein, Mut und Unternehmer*innengeist zu zeigen.
Bei der Namenwahl liessen wir uns auch nicht davon abhalten, dass vor uns bereits zwei Medien mit dem Namen «Hauptstadt» existiert hatten: In den 1990er-Jahren war die «Berner Tagwacht» die letzte linksalternative Tageszeitung der Schweiz. Als der ökonomische Atem des SP-Traditionsblattes knapp wurde, leitete der «Tagwacht»-Chefredaktor, Michael Kaufmann, 1997 eine Rettungsaktion ein, indem er aus seinem Blatt eine Wochenzeitung namens «Hauptstadt» machte. Der Versuch dauerte nur ein halbes Jahr. Ebenfalls nur ein halbes Jahr war 2010/11 das Zürcher Satiremagazin «Hauptstadt» am Leben.
Das Crowdfunding selber übertraf alle Erwartungen. Das «Hauptstadt»-Projektteam mietete für einen Monat das stillgelegte Kultrestaurant Chun Hee an der Münstergasse, um während der Kampagne auch physisch in der Stadt präsent zu sein. Bereits am ersten Tag wurde das Minimalziel von 1000 Abos übertroffen, bis zum Ende des Crowdfundings schrieben sich über 3000 Menschen als Abonnent*innen ein.
Am letzten Crowdfunding-Tag verkündete die «Hauptstadt», sie werde im März 2022 mit Publizieren beginnen. Dank finanzieller Startunterstützung der Basler Stiftung für Medienvielfalt, der Winterthurer Volkart Stiftung und der Burgergemeinde Bern sowie vor allem den einbezahlten Abo-Beiträgen der «Hauptstädter*innen» konnte ein Jahresbudget für 2022 finanziert werden, das die Anstellung einer Startredaktion in der Grösse von knapp fünf Vollzeitstellen erlaubte.
Zwischen dieser Ankündigung und dem ersten Publikationstag vergingen fiebrige, arbeitsame Monate rasend schnell. Oft wurden wir gefragt, was denn neu sein soll am Journalismus, den die «Hauptstadt» in Bern machen will. Unsere Antwort lautete stets:
«Die Frage ist berechtigt, wir stellen sie ja uns oft selber. Das Interview, die Reportage, das Porträt – die journalistischen Formen, die wir alle kennen, sind längst erfunden. Die «Hauptstadt» masst sich sicher nicht an, diese grundlegend zu erneuern. Und logisch: Neben der grossen Tamedia mit ihrer zwangsverheirateten, aber hervorragend besetzten Bund-BZ-Redaktion überhaupt noch etwas Neues machen zu wollen, ist sicher ambitiös.»
Unser Geschäftsmodell verändert die Art, wie wir Journalismus machen.
Mittlerweile sind wir aber sicher: Man muss in Bern etwas Neues machen. Denn Journalismus besteht nicht bloss aus dem, was am Schluss als Text, Ton oder Bild erscheint, sondern auch daraus, wie diese entstehen und warum.
Dass die «Hauptstadt» ein gemeinnütziges Geschäftsmodell verfolgt, das nicht nur auf Klickzahlen fokussiert, sondern auf den Mehrwert für die lokale Demokratie – das verändert die Art, wie wir Journalismus machen. Dass die «Hauptstadt» auf eine transparente, respektvolle und konstruktive Unternehmenskultur Wert legt und sie umsetzt – das verändert die Art, wie wir Journalismus machen. Und dass die «Hauptstadt» hinterfragt, ob der Lokaljournalismus, wie ihn Bund und BZ geprägt haben, wirklich das ist, was den Leser*innen nützt und die moderne Pendler*innenregion Bern weiterbringt – das verändert die Art, wie wir Journalismus machen wollen.»
Abgesehen davon: Die «Hauptstadt» will ihr publizistisches Selbstverständnis nicht auf klassische Redaktionsarbeit beschränken, sondern ist offen dafür, Neues auszuprobieren und allenfalls auch wieder zu verwerfen. Die «Hauptstadt» will auch öffentliche Diskussionen zu aktuellen Themen live moderieren oder an wechselnden Stationen in der Agglomeration physisch präsent sein. Die «Hauptstadt» sucht neue Zusammenarbeitsformen mit anderen konzernunabhängigen Medien, um das Netzwerk gemeinnützig arbeitender Stimmen in Bern zu stärken.
Eineinhalb Jahre nach den ersten Gedanken dazu startete die «Hauptstadt»-Crew im März 2022, um jeden Tag alles zu geben, damit sie dieses Credo in die Tat umsetzen kann.