Blickwechsel – Gleis 49/#1
Wie weit sind Biel und Bern wirklich voneinander entfernt? Das fragen sich Nicoletta Cimmino und Jürg Steiner in der neuen Kolumne «Gleis 49».
Jürg: Nicoletta, was denkst du, wenn du von Biel her in Bern auf Gleis 49 einfährst?
Nicoletta: Ich ärgere mich jedes Mal. Dabei sollte ich mich inzwischen daran gewöhnt haben. Es ist für mich einfach nicht verständlich, dass ausgerechnet Biel, die Nachbarstadt von Bern, so aufs Abstellgleis gestellt wird.
Jürg: Verstehe ich gut. Für mich als Berner ist Gleis 49 ein Sinnbild dafür, dass Biel mental weiter weg von Bern ist als die 30 Kilometer reale Distanz. Lustigerweise sind liebe Bekannte von mir entweder Hardcore-Bieler oder extra von Bern nach Biel gezügelt. Sie finden Biel so unfassbar anders und cool, dass ich mich unwillkürlich in der Rolle wiederfinde, Bern zu verteidigen. Was ist Biel für dich?
Nicoletta: Meine Heimat. Die übrigens – so finde ich – verkannt wird. Es gibt in den Schweizer Medien kein Mittelding, wenn es um Biel geht. Die Stadt wird entweder als Ghetto beschrieben, mit horrenden Sozialhilfequoten, heruntergekommenen Aussenquartieren und einem generellen Ausländerproblem. Oder aber sie wird überhöht, als Hort der Kreativen und freien Geister, der billigen Wohnungen und des welschen Charmes. Beides ist ein bisschen wahr und ein bisschen falsch. Aber zurück zum Gleis 49: ich glaube an diesem Beispiel sieht man gut, dass Biel keine Lobby hat. Jedenfalls nicht so wie Bern.
Jürg: Ist das dein Bieler Blick, mit dem du eine Stadtberner Lobby erkennst?
Nicoletta: Nein, das würde ich mir nie anmassen. Die Berner*innen lobbyieren besser, weil sie dürfen. In Biel herrscht ein Doppelmandatsverbot, den Mitgliedern unserer Stadtregierung ist es verboten, im bernischen Grossen Rat oder im Nationalrat zu sitzen. Bern macht das gut; viel besser als Biel. Findest du nicht?
Jürg: In der Theorie schon. In der Praxis nimmt im Moment niemand aus der Stadtregierung ein Doppelmandat wahr. Was Bern aber sehr gut kann, ist sich selber toll und wichtig zu finden. Bier-Hauptstadt, Velo-Hauptstadt, YB-Hauptstadt, Aare-Hauptstadt, Lebensqualitäts-Hauptstadt. Habe ich etwas vergessen? Ein gesundes Selbstvertrauen ist ja voll okay. Aber es kippt schnell in eine provinzielle Nabelschau, die nicht einmal zum nahen Biel ein entspanntes Verhältnis zulässt.
Nicoletta: Interessant, ich finde die Berner gar nicht so selbstgerecht. Ich finde eher, Biel leidet gegenüber Bern an Minderwertigkeitskomplexen. Aber weisst du was? Das ist wohl Stoff für unser nächstes Gespräch.
Jürg: Ich bin gespannt!
Seit 2019 startet und hält der Zug IR 65 von und nach Biel am weit entfernten Perron 49 im Bahnhof Bern. Wir finden, die beiden wichtigsten Städte im Kanton Bern sollten sich näher kommen als die periphere Gleissituation suggeriert.
Deshalb unterhalten sich Nicoletta Cimmino (Publizistische Leiterin Gassmann Medien, Biel) und Jürg Steiner (Co-Redaktionsleiter «Hauptstadt», Bern) in dieser Kolumne einmal im Monat über Bieler und Berner Blickwinkel auf das Leben. Mit Humor und Lebenslust.