Das Glühwein-Geheimnis liegt im Piemont

Schmale Tische, ein fruchtig süsser Glühwein und viele Gäste, die helfen, Energie zu sparen: Das «Märitbeizli» ist das heimelige Zentrum des Berner Weihnachtsmarktes.

Märitbeizli auf dem Handwerkermarkt Bern Dez 2022
Die Gasöfen im «Märitbeizli» laufen nur ein paar Stunden am Tag. Wenn am Abend die Gäste drinnen sitzen, wird es von ganz alleine über 20 Grad warm. (Bild: Manuel Lopez)

Die Weihnachtszeit macht sich in Berns Altstadt in vielen Formen bemerkbar. Lichterketten funkeln in den Fenstern der Sandsteinhäuser, Leuchtsterne sind in über den Gassen zwischen die Häuserfassaden gespannt, Weihnachtsbäume säumen die Lauben. Erster Schnee bedeckt vielleicht schon das Kopfsteinpflaster, das vom Zytglogge-Turm, dem Glockenspiel am oberen Altstadtende, nach unten zum Bärenpark führt. Und das besondere an der Weihnachtszeit in Bern ist, dass man sie vom Münsterplatz bis hinauf zum Zytglogge riechen kann: Wenn Christian Wäfler früh an einem Dezembermorgen in einem riesigen Topf den Sirup für den Glühwein braut, dann hängt der Duft von Zimt, Kardamom und Hagebutte in der Luft. Mit einer Holzkelle, die halb so gross ist wie er, rührt er in dem Topf, in den locker zwei Kinder passen würden. Er wirft Zimtstangen, Zucker und Gewürze hinein, giesst Wasser nach und rührt wieder. Die Weihnachtsmarktzeit hat begonnen.

Der «Handwerkermärit» auf dem Münsterplatz ist der älteste Weihnachtsmarkt der Stadt Bern. Seit 1984 verkaufen hier Künstler*innen und Handwerker*innen zur Adventszeit ihre Ware. Der Glühwein, der im «Märitbeizli» neben den Ständen verkauft wird, hat bis heute den Ruf, der beste der ganzen Stadt zu sein – dies, obwohl eine Vielzahl an neuen Pop-ups und der Sternenmarkt die Berner Weihnachtsszene in jüngster Zeit massgeblich verändert haben. «Kathedralen und Kirchen wurden immer schon an Orten gebaut, die besonders sind. Vielleicht herrscht hier deswegen auch ein ganz anderer Groove als oben in der Stadt», sagt Pia Reist, Mitinhaberin des «Märitbeizli». «Man spürt schon beim Runterlaufen durch die Altstadt, wie die ganze Hektik plötzlich abnimmt.»

Märitbeizli auf dem Handwerkermarkt Bern Dez 2022
«2008 hatten wir nur zwei kleine Töpfe Glühwein – heute brauchen wir hunderte Liter!»: Pia Reist führt seit Jahren im Dezember das Märitbeizli auf dem Münsterplatz. (Bild: Manuel Lopez)

Es ist der Morgen des 6. Dezember, einer dieser eisigen Wintertage, an denen man die Alpen scharf hinter dem Münster emporragen sehen kann, der Himmel beinahe wolkenlos. Auf dem Münsterplatz ist es noch ruhig. Die Aussteller öffnen ihre Stände, im «Märitbeizli» gehen die Ofen an, die Kaffeemaschine wird gespült. Bevor sie Kaffee und Tee in den Keramiktassen servieren kann, muss Service-Chefin Chrigä die Tasse jeweils mit warmem Wasser ausspülen. Keramik leitet Kälte, das heisse Getränk würde sofort kalt – deswegen gibt es für den Glühwein im Aussenausschank nur Plastikbecher.

Chrigä – im engen Kreis der «Märitfamilie», wie sie es selbst nennt, fallen die Nachnamen weg – ist Pias beste Freundin und im Laufe der Zeit zum Team dazugestossen. Insgesamt arbeiten 36 Leute im Dezember für das «Märitbeizli». Der Kern besteht aus dem Trio Pia Reist, Christian Wäfler und David Fischer. Gemeinsam gründeten sie 2013 den Verein «Dreierlei», der seither dem Verein des Berner Handwerkermarkts angeschlossen ist. Das Weihnachtsmarkttreiben kennen sie allerdings schon sehr viel länger: «Angefangen haben wir hier schon um 2008», erinnert sich Pia. «Chrigu in der Küche, ich im Service und David draussen am Grill. Damals hatten wir nur zwei kleine Töpfe Glühwein – heute brauchen wir hunderte Liter!» Der Cateringservice, der das «Beizli» damals betrieb, wurde schliesslich an die Firma Sportgastro verkauft, die drei aber entschieden sich für den Markt und machten sich selbstständig. «Wir wollten nicht von dem weggehen, was wir für richtig halten», meint Pia. Herzblut, Handarbeit, Gemeinschaft. Dafür steht der Handwerkermarkt – und das «Märitbeizli» ist ein integraler Teil davon.

Die Aussteller verkaufen an ihren Ständen nur handgefertigte Ware. Denselben Anspruch hat auch das «Märitbeizli». «Wenn wir keine Wurst mehr haben», erzählt Christian hinter dem Küchentresen, «rufe ich auch mal nachts noch den Metzger an, Christoph Rösch in Wichtrach. Mein Vater ist sein Nachbar und bringt mir das Fleisch oft am frühen Morgen vorbei.»

Märitbeizli auf dem Handwerkermarkt Bern Dez 2022
Das Bier wird geliefert, der Glühwein selbst gebraut. (Bild: Manuel Lopez)

Christian ist es auch, der lange Zeit am perfekten Glühwein getüftelt hat. Abend für Abend habe er seine Mitbewohner den Sirup abschmecken lassen, die Grundlage für die Heissgetränke – Glühwein, Glühmost, Glüh-Mate. Ich folge Christian hinter das «Beizli», wo die Vorräte aufbewahrt werden und der grosse Glühweintopf schon für den nächsten Einsatz bereitsteht. Christian deutet mit der Hand zwei Drittel des Topfes an. «In den Mengen kann ich das nicht mehr genau messen, aber etwa so viel Wasser kommt rein. Dann Zimtstangen, drei Säcke Zucker, Hagebutten-Teebeutel.» Jeder Sack Zucker ist 25 Kilo schwer.

«Wie viele Teebeutel kommen rein?», frage ich. Christian grinst verschmitzt. «Weiss auch nicht!» Dann lacht er. «Ich weiss es natürlich schon, aber das ist mein Geheimnis.»

Wenn der Zucker sich setzt, wird er braun

Nachdem Christian die Rezeptur für den Glühweinsirup perfektioniert hatte, ging es daran, den passenden Wein zu finden. «Man soll mit dem Wein kochen, den man zum Essen trinkt», sagt David. Er ist mit dem Inhaber des Berner Weinkellers Tredicipercento befreundet, der das Trio schliesslich zu einem kleinen Weingut im Piemont führte. Von da bezieht das «Märitbeizli» seither einen fruchtigen Wein, der dem Glühwein den Ruf eingebracht hat, der beste der Stadt zu sein. «Unser Glühwein ist ein Naturprodukt», sagt Pia. «Man kann die Farbveränderung gerade beim Weissen sehr gut beobachten. Wenn der Zucker sich setzt, wird er braun. Daran erkennt man aber einfach, dass er selber gemacht ist.»

Die Luft auf dem Markt ist trocken, die Kälte beisst. Man riecht den Schnee, der am Wochenende fallen soll, schon förmlich. Die ersten Gäste trudeln zum morgendlichen Kaffee ein, eine Ausstellerin lässt sich auf einer der Holzbänke beim Gasofen nieder, ihre Hände schliessen sich um die heisse Kaffeetasse. «Alles hier drin ist meine Kreation», sagt Pia und zeigt stolz um sich. Es ist hell im «Märitbeizli», das Holz, die Tische, das Licht. Zwei elektrische Ofen stehen auf beiden Seiten des Raums, aus der Küche dringt der Geruch von Linseneintopf. Die Wände sind verziert mit handgemachten Sternen und Lichterketten, eine grosse Fotocollage, die Pias Mutter gebastelt hat, mit Bildern von Pia, Christian und David hängt da.

Märitbeizli auf dem Handwerkermarkt Bern Dez 2022
Die Tische sind schmal, um den Platz optimal auszunutzen. «Ich möchte die Menschen zusammenbringen», sagt Pia. (Bild: Manuel Lopez)

Jedes Jahr mieten sie das Haus im Rohbau. Das sind die vier Wände, der Boden und die Decke. Stühle, Tische, Küche, Dekoration – all das müssen sie zusätzlich zusammensuchen. «Ich möchte die Menschen zusammenbringen», sagt Pia. Das bedeutet Bänke anstatt Stühle, auf denen man näher zusammenrücken kann; befreundete Schreiner haben extra schmale Tische gesägt, damit es in dem engen Raum mehr Sitzplätze gibt. «Wir bieten auch ein ‹Münschter Brättli› an», führt Pia aus. Käse und Fleisch mit eingemachtem Gemüse, serviert auf einem Brett für den ganzen Tisch. «Meistens werden Speck und Wurst mundgerecht portioniert. Hier servieren wir stattdessen ein Messer mit.» Pia zwinkert vergnügt. «Manchmal fragen die Leute, ob wir’s für sie vorschneiden könnten. Dann sage ich: ‹Hier sitzen acht Leute – redet miteinander!›»

Wichtig ist der Kuchen von Ursula

Es ist ein schöner Gedanke. Tradition, Weihnachtsgefühl, Glühwein und Wärme in der vertrauten Holzhütte. Aber der «Handwerkermärit» ist ab vom Schuss. Zu ihm führt der Weg aus den Büros vorbei am Sternenmarkt neben dem Bundeshaus, vorbei am Glühwein Pop-Up «Øscår Elch» im Ringgepark und am «Chalet Alpenland» auf dem Kornhausplatz. Wer nach der Arbeit rasch einen Glühwein trinken gehen möchte, bleibt ganz einfach auf der Strecke hängen. «Das erste Jahr, als der Sternenmarkt aufging, spürten wir das deutlich», sagt David Fischer. «Da verkauften wir auf einmal nur noch halb so viel Glühwein wie in den Vorjahren. Das war nicht so cool, denn wir hatten natürlich viel zu viel eingekauft.»

Inzwischen haben die drei sich den neuen Umständen angepasst. «Veränderung wird es immer geben», sagt Pia nachdenklich. Das «Märitbeizli» versucht, sich mit eigenen, handgeschöpften Kreationen von der Konkurrenz abzuheben. Die Speisekarte bewegt sich jedes Jahr zwischen den alten Vorlieben der Gäste, neuen Kreationen von Küchenchef Christian – und den vorhandenen Ressourcen. «Am wichtigsten ist sowieso der Kuchen von Ursula», sagt Pia. Sie legt ein Stück auf den Tisch. Feuchtes Marroni-Cake einer privaten Bekannten des Trios. Eine Hausfrau, die gerne bäckt und deren Kuchen ein grosser Hit bei den Kundinnen ist.

Märitbeizli auf dem Handwerkermarkt Bern Dez 2022
«Wenn die Menschen hier sonntags ganz gehetzt ankommen», sagt Pia, «dann versuchen wir erst einmal, sie von der Realität etwas herunterzubringen.» (Bild: Manuel Lopez)

Auch bei allem Optimismus und Wohlwollen gegenüber den anderen Märkten, legt die Eröffnung des Sternenmarkts doch eine Ungleichheit offen. Der «Handwerkermärit» unterliegt dem Berner Marktrecht. Der Sternenmarkt dagegen geht als Event durch. Das mag weiter nicht gross von Bedeutung sein – wäre da nicht auch noch der Berner «Zibelemärit». Jedes Jahr am vierten Montag im November werden in Berns Gassen schon vor Sonnenaufgang Zwiebeln in allen Farben und Formen verkauft und Glühwein ausgeschenkt. Der Zibelemärit ist der älteste Markt der Stadt Bern und hat jedes Jahr Priorität. Das heisst, die Weihnachtsmärkte dürfen erst am darauffolgenden Wochenende öffnen. In der Regel ist das der erste Advent. Aber weil der Zibelemärit dieses Jahr erst nach dem ersten Adventswochenende stattfand, verloren die Weihnachtsmärkte eine Woche. Alle, mit Ausnahme des Sternenmarkts, der offiziell eben ein Event ist.

Es ist finster geworden. Das Münster erhebt sich stolz und mächtig dem Abendhimmel entgegen. Nebelschwaden tanzen um die Turmspitze. «Das Licht vom Münsterturm am Abend macht die halbe Stimmung auf dem Märit aus», sagt David.

Im Herbst beschloss die Stadt ein Massnahmenpaket zum Energiesparen. Das Ziel lag bei 15 Prozent Einsparungen, die Weihnachtsbeleuchtung sollte zum Beispiel nur von 17 bis 22 Uhr eingeschaltet sein – anders als in den Vorjahren. Räume sollten zudem nicht über 18 Grad beheizt werden. Das Münster als öffentliches Gebäude sollte nicht mehr beleuchtet werden. Diese Massnahme hielt nur eine gute Woche im September. Weil der beleuchtete Turm in der Einflugschneise von den Flughafen Belpmoos ansteuernden Flugzeugen steht, stellte sich diese Massnahme rasch als viel zu gefährlich heraus.

Märitbeizli auf dem Handwerkermarkt Bern Dez 2022
Viel Stimmung mit wenig Energie: Die ganze Beleuchtung ist mit LED-Lampen ausgestattet. (Bild: Manuel Lopez)

David steht an den Bartresen vor der Hütte gelehnt. Er lacht trocken, als er die Vorschriften aufzählt. «Das ist das 21. Jahrhundert – wir haben sowieso nur energiesparende LED-Beleuchtung! Und die Gasöfen im Beizli laufen nur ein paar Stunden am Tag. Wenn am Abend die Gäste drinsitzen und Fondue essen, wird es von ganz alleine über 20 Grad warm!»

David ist der Vorsitzende des Vereins «Dreierlei». Einen Stand wie das «Märitbeizli» aufzustellen, ist mit viel Aufwand und Kosten verbunden. Es braucht eine Festwirtschaftsbewilligung, Strom- und Wasserzufuhr, der Marktverein erhält Umsatzbeteiligung, dazu kommt die Platzmiete. Rund zehn Prozent der Einnahmen gehen an den Verein des Handwerkermarkts. Mit der Stadt muss geklärt werden, an welchen Tagen die städtischen Mülleimer zusätzlich geleert werden müssen. Es sei kein Geschäft, mit dem man reich werde, sagen alle drei. Dennoch: Das «Märitbeizli» macht einen rentablen Umsatz, von dem alle Löhne bezahlt werden können.

Der «Handerwerkermärit» ist der wohl romantischste Weihnachtsmarkt in Bern. «Wenn die Menschen hier sonntags ganz gehetzt ankommen», sagt Pia, «dann versuchen wir erst einmal, sie von der Realität etwas herunterzubringen. Ich sage zu ihnen: ‹He, wie schön ist das hier!› Dann gebe ich ihnen einen Glühwein und sie entspannen sich.»

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Diskussion

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Maja Balmer
15. Dezember 2022 um 16:52

Seit gefühlt "ewigen Adventen" gehe ich mindestens ein mal auf dem Münsterplatz einen Glühwein (oder zwei oder drei 😉) trinken - ich freue mich auf den nächste Woche!