Der graue Star von Köniz
Unscheinbar produziert Haag-Streit in Köniz Medizinaltechnologie für Augenärzte und beschäftigt 900 Mitarbeitende. Die US-Regierung und die Löhne der Verwaltung machen der Firma aktuell zu schaffen.
«Grosse, kleine, runde, eckige: Den grössten Teil der metallischen Fertigungsteile stellen wir selber her», sagt Haag-Streit CEO Thomas Bernhard laut. Eine Maschine im hinteren Teil der Produktionshalle piept unablässig, eine andere zischt laut und bei einer dritten schleift es. Bernhard steht im Erdgeschoss des Firma Haag-Streit-Firmengebäudes an der Sägetrasse im Industriequartier, gleich hinter dem Bahnhof Köniz.
Hinter einer unscheinbaren grau-braunen Fassade produziert die Medizinaltechnikfirma Mess- und Diagnosegeräte für Augenärzt*innen. Das wichtigste Produkt ist eine sogenannte Spaltlampe, mit der Augenärzt*innen das Auge von Patient*innen genauestens untersuchen können. Bei rund 90 Prozent der Schweizer Augenarztpraxen stehe eine solche Lampe von Haag-Streit, sagt Bernhard stolz. Immer bedeutender werden für Haag-Streit auch hochtechnologische Diagnosegeräte, zum Beispiel zur Untersuchung des Grauen Stars. Das ist eine Trübung der Linsen, die häufig im Alter auftritt.
Bernhard führt durch die Produktionsanlagen und erklärt minutiös einen Roboter, der aus Gussmetallstücken Geräteteile für die Spaltlampe fräst. Aktuell arbeitet das Bearbeitungscenter, wie die Anlage genannt wird, an einer Kinnstütze der Spaltlampe. Bernhard muss laut sprechen, um den Lärm zu übertönen: «Ein Block von 6,5 Kilogramm Metall geht rein, eine Stütze von 710 Gramm kommt fixfertig raus; da muss man nichts mehr daran machen», sagt er. Ein solches Center kostet über zwei Millionen Franken und wird innert acht Jahren abgeschrieben.
«Nur dank dieser hohen Automatisierung können wir hier in Köniz überhaupt noch produzieren», sagt der CEO. Rund 350 Mitarbeitende beschäftigt Haag-Streit in der Agglomerationsgemeinde, davon rund 150 in der Produktion. Aktuell bildet sie laut Bernhard 15 Lernende aus: Polymechaniker, Produktionsmechaniker, Elektroniker und Informatiker.
Viele Komponenten der Diagnosegeräte werden in Köniz hergestellt. Dazu betreibt die Firma auch eine eigene Werkzeugmacherei sowie eine Lackiererei. Kunstoffteile hingegen werden zugekauft. «Die Spaltlampe hat eine Fertigungstiefe von bis zu 80 Prozent», sagt Bernhard stolz. Das heisst: 80 Prozent der Wertschöpfung des Produktes werden in der Firma selbst hergestellt.
Logistisch ist der Standort nicht optimal
Am 16. Mai öffnet Haag-Streit die Türen ihrer Produktion auch für die lokale Bevölkerung. Die Firma nimmt am Programm der ersten Könizer Industrienacht teil, welche Gemeindepräsidentin Tanja Bauer (SP) und die Wirtschaftsorganisationen auf dieses Jahr hin lanciert haben. Und kürzlich beherbergte Haag-Streit eine Medienkonferenz des Handels- Industrievereins Bern zu seinem Strategieprogramm für den Kanton Bern.
Laut Haag-Streit-CEO Bernhard ist der Standort mitten in der Köniz für eine auf Hightech-Geräte spezialisierte Produktionsfirma eigentlich nicht optimal. «Aus produktionslogistischer und prozesstechnischer Sicht wäre eine neue Anlage auf dem freien Feld, etwa in Lyssach, besser», sagt Bernhard. Trotzdem gebe es gewichtige Gründe, die für den Verbleib in Köniz sprächen.
Am Freitag, 16. Mai, findet die erste Könizer Industrienacht statt. Laut der Gemeinde kann die Bevölkerung dann unkompliziert einen Blick hinter die Kulissen von sechs Könizer Industriebetriebe werfen. Von 17 bis 21 Uhr bieten die Firmen Haag-Streit, Adval-Tech, Stromer, Thömus, Mb-Microtec sowie Merz und Benteli Betriebsbesichtigungen an.
Vorteile hat der Standort Köniz für die Mitarbeitenden. Die Erreichbarkeit mit ÖV und Auto ist gewährleistet. Ein Grossteil der Belegschaft wohnt laut Bernhard in und um Köniz, in der Region Bern oder im Freiburgischen. Und da in Zeiten von Fachkräftemangel die Zufriedenheit der Belegschaft fundamental sei, dazu gehört auch der Arbeitsweg, bleibt der Standort mitten in Köniz für Haag-Streit laut Bernhard unter dem Strich sehr gut. Zudem bemühe sich Gemeindepräsidentin Tanja Bauer mit der Verwaltung, möglichst gute Voraussetzungen für das Gewerbe zu schaffen, so der CEO.
Dennoch muss die Firma immer wieder neue Mitarbeiter*innen rekrutieren. Denn oft verliere man Fachkräfte an die öffentliche Verwaltung oder staatsnahe Betriebe in der Region, stellt Bernhard fest. Diese könnten oft bessere Entschädigungspakete bieten. «Gestern hat eine Frau gekündigt, da sie bei einem öffentlichen Arbeitgeber der Region 15 Prozent mehr verdient», sagt Bernhard.
Haag-Streit-CEO Bernhard engagiert sich persönlich für die Ausbildung von Fachkräften. Er präsidiert das strategische Führungsorgan der Berner Fachhochschule. Entsprechend zufrieden ist er, was die Ausbildungsstätte leistet: «Die Berner Fachhochschule ist exzellent, die Ausbildungen sind auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten.» Bei Haag-Streit brauche man junge Mitarbeitende, die praxisnah ausgebildet werden.
Haag-Streit ist eine Traditionsfirma, gegründet vor 167 Jahren. Zuerst war sie eine Werkstätte für Präzisionsinstrumente. Ab 1933 konzentrierte man sich auf die ophthalmologischen Geräte, wie die Instrumente der Augenheilkunde korrekt bezeichnet werden. Schon die erste Spaltlampe setzte laut der Firmenchronik neue Massstäbe.
Lange war die Firma im Besitz der Familien Haag und Inäbnit und wurde von Walter Inäbnit geführt, einer illustren Berner Unternehmerpersönlichkeit. Inäbnit gehörte etwa zu den Investoren der gescheiterten Berner Airline Skywork.
2018 wurde die Haag-Streit-Gruppe an den Industriekonzern Metall Zug verkauft. 2022 betrug der Umsatz 220 Millionen Franken. Die Firma beschäftigt in der Schweiz, Deutschland, Grossbritannien und den USA rund 900 Mitarbeitende.
Steuerlich ist der Kanton Bern für Haag-Streit in Ordnung
Der im Geschäftsbericht der Metall Zug ausgewiesene Gewinn lag laut Bernhard im letzten Jahr bei nur gut einer Million Franken. Mit ein Grund dafür waren Investitionen von rund 30 Millionen Franken in Forschung und Entwicklung. Die steuerliche Möglichkeit der Patentbox helfe auch bei der Reduktion von Steuern. Bernhard klagt darum nicht über die Steuerbelastung im Kanton Bern. Die Firma profitiere von verschiedenen Instrumenten der nationalen Steuerreform STAF. So könne man für Forschung und Entwicklung einen Teil der in Köniz investierten Entwicklungsaufwände abziehen.
«Steuerlich ist der Standort Bern für uns in Ordnung», sagt Bernhard. Die Innerschweiz wäre zwar besser. «Aber unsere aktuellen Besitzer verfolgen eine nachhaltige Philosophie: Wir wollen dort Steuern zahlen, wo unsere Mitarbeitenden ihren Lebensraum haben.»
Sorgen bereitet Bernhard hingegen die Situation mit den USA: «Die Instabilität des Verhaltens der Regierung Trump macht uns zu schaffen.» Man habe grossen Respekt vor den möglichen Zöllen: «Das könnte für uns schmerzhaft sein.» Denn die USA ist für Medizingerätehersteller allgemein und damit auch für Haag-Streit ein sehr wichtiger Markt. Einen kleinen Vorteil habe man, da Haag-Streit gewisse Möbelteile zu den Diagnosegeräten für den amerikanischen Markt in den USA fertige, so Bernhard. «Zudem haben wir die Lager in den USA so gut als möglich und vertretbar gefüllt.»
Auf dem Rundgang sind wir nun in der Gerätemontage angekommen. Ein Mitarbeiter bringt mit ruhiger Hand einen kleinen Streifen Klebstoff an und schiebt dann einen Teil des Instruments Lenstar LS 900 in den Härter-Ofen. Das Instrument hilft bei der Diagnose von grauem Star. Davon fertigt Haag-Streit jährlich einige hundert Stück. «Da lohnt sich eine Automatisierung der Montage mittels Roboter nicht», sagt Bernhard und führt uns weiter zum neuen grossen Bruder des Lenstar 900.
«Der Eyestar 900 ist am Standort Köniz unser teuerstes und anspruchsvollstes Gerät», sagt Bernhard. Ein komplexes Zusammenspiel von Elektronik, Software, Optik und Mechanik. Damit könne man das Auge dreidimensional ausmessen. Ein Scanner misst rund 30’000 Mal in einer halben Sekunde die Reflexion eines Lichtimpulses. «Von diesem Hightechgerät fertigen wir nur rund hundert Stück im Jahr», sagt Bernhard. Es koste den Endkunden zwischen 65’000 und 80’000 Franken, je nach Ausbau und Konfiguration.
Die Produktion des Eyestar 900 rechne sich mit allen Entwicklungskosten nur sehr knapp, so Bernhard. Aber das sei wie bei den Autoherstellern: «Mit dem Eyestar 900 zeigen wir, was wir technologisch können, und mit dem kleinen Bruder Lenstar LS 900 verdienen wir eher das Geld.»