Erst die Wohnung, dann der Rest

Bern will ein neues Konzept in der Obdachlosenhilfe testen. Finnland wendet es schon lange erfolgreich an. Was steckt dahinter? Ein Besuch in Helsinki.

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In diesem Haus am Zentrumsrand von Helsinki leben 127 ehemals obdachlose Menschen. (Bild: Reetta Saarikoski)

Auf sechs Spuren fahren Autos stadtein- und auswärts. Eine Baumallee, in der Trams verkehren, trennt die Fahrtrichtungen. An dieser Strasse am Zentrumsrand von Helsinki steht ein sechsstöckiges Haus aus beigen Backsteinen, die weisse Farbe an den Fensterrahmen bröckelt. Darin wohnen 127 Menschen. Alle sind sie suchtkrank, haben psychische Krankheiten – und waren einst obdachlos.

Etwa ein Dutzend der Bewohner*innen stehen vor dem Haus oder sitzen im Rollstuhl und unterhalten sich, als die «Hauptstadt» an einem Freitagnachmittag im Juli den Wohnblock besucht. Betreuerin Juuli Syväste wird später erzählen: «Die meisten von ihnen haben nichts zu tun. Sie sind den ganzen Tag einfach hier.»

Das Haus ist das Resultat des finnischen Weges, mit Obdachlosigkeit umzugehen. In den 1980er-Jahren zählte Finnland rund 20’000 Obdachlose, 2023 waren es 3400. Der stärkste Rückgang setzte nach 2008, als die Statistik 8'000 Obdachlose zählte, ein. In diesem Jahr wurde der sogenannte Housing First-Ansatz eingeführt.

Dessen Idee: Zuerst die Wohnung, dann der Rest. Obdachlose sollen eine Wohnung erhalten, ohne sich dafür qualifizieren zu müssen, zum Beispiel durch Abstinenz oder Therapie. Die Sicherheit und Stabilität der eigenen vier Wände wird als Schlüssel dazu angesehen, dass die ehemals obdachlosen Menschen wieder körperliches und psychisches Wohlbefinden erlangen.

Vielversprechende Forschung

Der bedingungslose Anspruch auf eine Wohnung ist aber nur ein Teil. Housing First umfasst sieben weitere Prinzipien. Zum Beispiel sollen die Menschen selbst entscheiden können, wie viel und welche Art von Unterstützung sie beanspruchen wollen. Oder sie werden dazu ermutigt, sich ein soziales Umfeld aufzubauen und sich in einer Gemeinschaft einzubringen.

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Pinja Pitkänen und Juuli Syväste arbeiten als Betreuerinnen im Pessi. (Bild: Reetta Saarikoski)

Zahlreiche Wissenschaftler*innen haben Housing First untersucht und vielversprechende Erkenntnisse gewonnen: Rund acht von zehn Personen leben nach einem Jahr immer noch in ihrer Housing First-Wohnung, sind also nicht mehr obdachlos. Ausserdem verbessere sich ihre mentale Gesundheit und die Lebensqualität. Die Forschung weist aber auf die Grenzen ihrer Untersuchungsmethoden hin: Weil sich die Sozialsysteme der Länder unterscheiden und nicht immer klar ist, ob sie alle Housing First-Kriterien tatsächlich anwenden oder nur davon sprechen, seien die Resultate schwer zu vergleichen oder als absolut anzusehen.

Entwickelt wurde der Ansatz Anfang der 1990er-Jahre in New York, zehn Jahre später erreichte er Europa. Deutschland und Österreich wenden ihn an, in Basel und Zürich laufen Pilotprojekte. Finnland aber hat Housing First weltberühmt gemacht, weil dort anders als in vielen anderen Ländern die Zahl obdachloser Menschen sinkt statt steigt.

44 Obdachlose in Bern – mindestens

Auch in Bern ist der Ansatz angekommen. 2020 haben zwei Stadträtinnen aus der Fraktion des Grünen Bündnisses und der Jungen Alternative einen Vorstoss eingereicht, in dem sie fordern, dass die Stadt ein Housing First-Pilotprojekt durchführt. Das Parlament hat dieser Forderung zugestimmt. Und so stellt der Gemeinderat in seiner im November 2023 publizierten «Strategie Obdach 2024-2027» in Aussicht, ein Pilotprojekt gemeinsam mit einer bestehenden Institution der Wohn- und Obdachlosenhilfe durchzuführen.

Diese Ankündigung ist allzu vollmundig, wie die Recherche der «Hauptstadt» zeigt. Weil diverse Housing First-Prinzipien bereits angewendet werden, ist kein eigentliches Pilotprojekt geplant. Doch dazu später mehr.

In der Strategie Obdach steht auch, dass die Zahl obdachloser Menschen in der Stadt Bern in den vergangenen Jahren «stark angestiegen» sei und die bestehenden Strukturen nicht mehr ausreichen, um diesen Menschen zu helfen. Im Winter 2022/23 waren der Stadt 44 Obdachlose bekannt, 2020 waren es erst 28. Schweizweit gelten 2200 Menschen als obdachlos. Die Zahl wurde 2022 erhoben – zum ersten Mal.

Die Statistiken sind aber nur eine Annäherung an die Realität: In der Schweiz werden nur Menschen als obdachlos erfasst, die draussen übernachten. Wer in einer Notschlafstelle unterkommt oder bei Freund*innen, zählt nicht dazu. Die Berner Gassenarbeit geht davon aus, dass im Winter 2022/23 in Bern durchschnittlich 131 Menschen ohne Wohnung lebten, eine hohe Dunkelziffer noch nicht eingerechnet.

Stiftungen kaufen Wohnraum

In Finnland läuft die Zählung anders. Da gelten alle Menschen, die kein eigenes Zuhause haben, als obdachlos. Von den 3400 Menschen schläft etwa jeder Dritte draussen und würde auch in der Schweiz als obdachlos zählen.

Der Wohnblock am Zentrumsrand von Helsinki diente einst als Leimfabrik und als Gehörlosenschule. 2008 hat die Blue Ribbon Foundation (Finnisch: Sininauhasäätiö) das Gebäude gekauft. Sie ist eine von mehreren Stiftungen, die in Finnland Housing First-Wohnraum zur Verfügung stellen. Das können ganze Wohnblöcke mit unabhängigen Einzelwohnungen sein oder einzelne Wohnungen in Blöcken, in denen auch Menschen ohne Strassenerfahrung leben. Oder eben Häuser mit Unterstützungsangeboten, wie am Ort, den die «Hauptstadt» besucht.

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Die Bewohner*innen müssen ihren Tag selbst strukturieren. Zum Beispiel dürfen sie den Fitness-Raum benutzen. (Bild: Reetta Saarikoski)

Die Blue Ribbon Foundation erhält Geld vom Finnischen Sozial- und Gesundheitsministerium und von der Europäischen Union. Die Mieten der Bewohner*innen – alle verfügen über einen eigenen Mietvertrag – bezahlt zum grössten Teil Kela, die finnische Sozialversicherung, die sich über Steuerbeträge finanziert.

Eigenes Geld hätten die Bewohner*innen kaum, erzählt Betreuerin Pinja Pitkänen, die gemeinsam mit ihrer Kollegin Juuli Syväste die «Hauptstadt» durch das Gebäude führt. Niemand habe einen festen Job. Einige verdienen maximal 60 Euro pro Woche, indem sie das Treppenhaus oder den Aufenthaltsraum putzen. Andere befinden sich in Programmen, die sie in den Arbeitsmarkt führen sollen.

Pikkis’ Palast

Pessi heisst die Wohneinheit, angelehnt an einen Troll aus einer finnischen Kindergeschichte. Ein Bild der namensgebenden Figur ist im Aufenthaltsraum an die Wand gesprayt. Daneben stehen zwei Sofas, ein Fernseher und ein Tischhockey-Kasten.

Wie die 127 Bewohner*innen im Alter zwischen 20 und 73 Jahren den Tag verbringen, ist ihnen selbst überlassen. Am Morgen gibt es Porridge und Kaffee, die restlichen Mahlzeiten müssen sich die Menschen selbst beschaffen. Im Haus gibt es einen Fitness- und einen Musikraum sowie einen Bastelkeller. Der Musikraum sei am beliebtesten, erzählt Pinja Pitkänen.

Ganz auf sich allein gestellt sind die Bewohner*innen aber nicht: Wenn sie möchten, unterstützen sie Sozialarbeiter*innen und Pfleger*innen im Umgang mit ihrer Sucht, bei Behörden- oder Ärzt*innenbesuchen. «Manchmal gehen wir auch ausserhalb von Pessi zusammen Kaffee trinken, da sind ganz andere Gespräche möglich», erzählt Juuli Syväste. Im Sommer gibt es einmal pro Woche ein Grillfest im Innenhof. Und in der Einangshalle können die Bewohner*innen sich auf HIV testen lassen und rund um die Uhr saubere Spritzen beziehen.

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So sieht der «Palast» von Pikkis im Pessi aus. (Bild: Reetta Saarikoski)

Drei Stöcke weiter oben, in einem grauen Gang gelegen, zeigt ein Bewohner von Pessi seine Wohnung: Küchenzeile, Bad, und ein kombiniertes Wohn- und Schlafzimmer. Auf dem Boden stapeln sich unzählige DVD-Hüllen, an der Wand hängen Bilder und gerahmte Fotografien von Marilyn Monroe, Buddha-Figürchen stehen auf einem Tischchen. «Das ist mein Palast», sagt Pikkis und präsentiert Dinge, die er auf dem Sofatisch lagert: Eine Postkarte, die er sich selbst zum Geburtstag geschickt hat, Illustrierten, und einen PEZ-Bonbonhalter mit Minion-Figur.

Seit der Eröffnung von Pessi lebt Pikkis in dieser Wohnung. Nicht alle seien so vorzeigbar wie diese, erklärt Betreuerin Juuli Syväste. Und nicht alle Bewohner*innen seien so offen wie Pikkis. Bei Führungen zeigten sie darum meistens seine Wohnung als Beispiel.

Housing First bei Wohnenbern

Die Stadt Bern stellt nicht selbst Angebote für Obdachlose zur Verfügung, sondern hat Leistungsverträge mit drei Partner*innen geschlossen, auch mit dem Verein Wohnenbern. Er bietet rund 160 Plätze in betreuten, teilbetreuten und begleiteten Wohnformen an.

Wohnenbern orientiert sich an den Housing First-Prinzipien, wie auf seiner Website steht. Naemi Wälchli, stellvertretende Geschäftsleiterin von Wohnenbern, bestätigt das auf Anfrage der «Hauptstadt». Seit 2016 hätten die Housing First-Prinzipien eine zentrale Bedeutung für die Arbeit von Wohnenbern.

«Das individuelle Lebenskonzept unserer Kund*innen steht im Mittelpunkt unserer Betreuung», so Wälchli. Die betroffenen Personen würden aktiv in die Planung ihrer Betreuung einbezogen. Ausserdem seien die 80 Wohnungen im begleiteten Wohnen zugänglich, ohne dass die Bewohner*innen Bedingungen wie Abstinenz oder Therapieteilnahme erfüllen müssen. «Unser Ziel ist es weiter, dass Untermietverträge durch Hauptmietverträge abgelöst werden können, um die mietrechtliche Position unserer Kund*innen zu stärken.» Die Liegenschaftsverwaltungen bevorzugten jedoch in der Regel, dass Wohnenbern als Hauptmieter für die Erfüllung der Mieter*innenpflichten verantwortlich bleibt. Wohnenbern besitzt keine eigenen Liegenschaften.

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Der Musikraum sei bei den Bewohner*innen am beliebtesten, erzählen die Betreuerinnen. (Bild: Reetta Saarikoski)

Um die Umsetzung der Prinzipien zu schärfen, wie es im Jahresbericht von Wohnenbern steht, habe der Verein 2023 zusammen mit dem Obdachlosenkoordinator der Stadt Bern, Ralph Miltner, und zwei Forschern der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) drei Workshops durchgeführt. Dabei habe sich bestätigt, so der Jahresbericht, dass Wohnenbern «die Grundlagen des Housing First-Ansatzes bereits erfolgreich umsetzt».

Potenzial für Verbesserungen

Wozu braucht es also noch ein Pilotprojekt, wie es das Berner Stadtparlament fordert, wenn der Housing First-Ansatz bereits in der Praxis umgesetzt wird?

Ralph Miltner schreibt auf Anfrage der «Hauptstadt», dass gar kein eigentliches Pilotprojekt vorgesehen sei. Trotzdem tut sich was: Aus den Workshops habe ein Bericht der FHNW resultiert, der zeige, wie sich Wohnenbern verbessern könne. So empfiehlt die FHNW, dass die Untermietverträge künftig keine «Zusammenarbeitsbedingungen» wie die Einhaltung der Gesprächstermine am Wohnort der Kund*innen mehr enthalten, sondern lediglich mietrechtliche Bestimmungen. Weiter sollen Begleitungsangebote und schadensmindernde Massnahmen ausgebaut werden. Diese Anpassungen seien bereits vollzogen oder aktuell im Gange.

Ausserdem lasse die Heilsarmee, die ebenfalls einen Leistungsvertrag mit der Stadt Bern geschlossen hat, derzeit ihre Angebote bezüglich der Housing First-Kriterien überprüfen. Sie beabsichtige, ihre Angebote im begleiteten Wohnen künftig an den Housing First-Kriterien auszurichten, so Ralph Miltner.

Wohnkompetenzen

Ob der Housing First-Ansatz tatsächlich bereits in der Praxis umgesetzt wird, stellt Eva Gammenthaler von der Berner Gassenarbeit in Frage. Im Gespräch mit der «Hauptstadt» betont sie zwar, wie wichtig und wertvoll die Arbeit von Organisationen wie Wohnenbern sei. «Sie machen einen geilen Bügu. Aber wir von der Gassenarbeit haben andere Vorstellungen davon, was bedingungslos im Sinne von Housing First heisst.»

Zum Beispiel seien die Angebote von Wohnenbern nicht zugänglich für Menschen mit einem Haustier und Angebote für gewaltbetroffene Menschen wie die Frauen-WG oder das Frauenhaus seien nur schwer zugänglich für Suchtbetroffene.

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In der Wohnung von Pikkis stapeln sich DVD-Hüllen entlang der Wand. (Bild: Reetta Saarikoski)

Eva Gammenthaler beobachtet, dass in der Stadt Bern ein «Treppenhausmodell» existiert. Von der Notschlafstelle würden die Menschen erst in WG-Settings gelangen. Eine eigene Wohnung stehe nur jenen zur Verfügung, die ihre Wohnfähigkeit unter Beweis gestellt hätten. Das heisst: Die regelmässig an vereinbarten Termine erscheinen, nicht zu laut Musik hören, ihr Zimmer aufräumen oder sich nicht streiten mit Mitbewohnenden. «Wir kennen keine Fälle, wo Personen aus der Notschlafstelle heraus eine eigene Wohnung gefunden haben oder wo es direkt in ein autonomes Wohnangebot ging. Es gibt kein Angebot in Bern, das bedingungslos und unbefristet Wohnungen anbietet.»

Gammenthaler versteht Housing First als Paradigmenwechsel: «Niemand muss sogenannte Wohnkompetenzen beweisen. Es wird angenommen, dass jeder Mensch wohnfähig ist.» Diese Idee gefällt ihr und sie ist «mega fest der Meinung» dass es diesen Paradigmenwechsel braucht in der Stadt Bern und begrüsst die Bestrebungen.

Kritik an Housing First

Zurück in Helsinki. Die beiden ausgebildeten Krankenpflegerinnen Pinja Pitkänen und Juuli Syväste finden den Housing First-Ansatz eine «sehr, sehr gute Sache». Doch gerade in der Bedingungslosigkeit, auf deren Basis die Wohnungen vergeben werden, sehen sie seine Schwäche: «Die Wohnungen sind teilweise sehr chaotisch. Doch wir dürfen niemanden zum Aufräumen zwingen. Oder dazu, zur Ärztin zu gehen, wenn sie eine entzündete Wunde haben», sagt Pitkänen. «Wir möchten helfen, doch der Wille der Bewohner*innen hat Vorrang», ergänzt Syväste.

Auch die finnischen Medien rahmen Housing First nicht mehr als Hochglanz-Erfolgsgeschichte. Eine Podcastfolge vom nationalen öffentlich-rechtlichen Rundfunk Yle beleuchtet, dass die Zahl obdachloser Menschen ohne finnische Staatsangehörigkeit zunimmt, während die Zahl von obdachlosen Finn*innen abnimmt. 2023 waren 24 Prozent der Obdachlosen Immigrant*innen. Wer kein Aufenthaltsrecht besitzt, hat kein Recht auf Housing First-Angebote.

Auch in Bern können Menschen ohne Aufenthaltsrecht die Housing First-Angeboten nicht beanspruchen. Sie haben lediglich Anspruch auf «Hilfe in Notlage», nicht aber auf reguläre Sozialhilfe. Rund jede*r Zweite der obdachlosen Menschen, die der Stadt Bern bekannt sind, seien ausländischer Herkunft, mehrheitlich ohne gültigen Aufenthaltsstatus. So steht es in der Strategie Obdach der Stadt Bern.

Die Rolle der Politik

Forscher*innen der finnischen Universität Tampere haben 2022 die Erfolgsfaktoren des finnischen Housing First-Modells untersucht. Als entscheidend erachten sie, dass alle politischen Parteien den Ansatz unterstützen und er so unabhängig von Wechseln in der Regierung weiterverfolgt wird.

Aber auch die Forscher*innen zeigen auf die Schwächen des Modells. Notunterkünfte seien in Housing First-Wohnungen umfunktioniert worden, wodurch jetzt zu wenig kurzfristige Schlafplätze vorhanden seien. Ausserdem gebe es immer noch Wohnangebote, die Abstinenz oder Therapiewillen voraussetzen. Und viele Wohnungen seien in den 1970er-Jahren gebaut worden und müssten bald saniert werden – was eine finanzielle Herausforderung darstelle.

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Viele Housing First-Wohneinheiten in Finnland müssen bald altersbedingt saniert werden. (Bild: Reetta Saarikoski)

Obwohl keine Partei sich gegen den Housing First-Ansatz stellt, verändert sich in Finnland im Moment die Qualität des Sozialstaates. Die Regierung unter Premierminister Petteri Oropo von der konservativen Nationalen Sammlungspartei kürzt unter anderem Beiträge für Arbeitslose und Familien. Menschenrechtsorganisationen warnen davor, dass dadurch die Armut in Finnland zunehme. Auch Housing First-Stiftungen wehren sich dagegen, dass der Staat sie weniger unterstützt.

Pinja Pitkänen und Juuli Syväste zeigen sich besorgt über diese Entwicklung. Die Bewohner*innen von Pessi würden aber im Moment noch nichts spüren von diesen Kürzungen, die finnische Sozialversicherung Kela zahle weiterhin ihre Miete.

Anderes Land, anderes System

Was kann die Stadt Bern aus Finnlands Erfahrungen lernen?

Finnland eigne sich «nur bedingt als Vorbild für eine Umsetzung in Bern», findet der städtische Obdachlosenkoordinator Ralph Miltner. Zu gross seien die Unterschiede in der Struktur des Wohnungsmarktes und die Einflussmöglichkeiten der Behörden auf diesen. Jedoch finde ein Austausch mit der Stiftung Heilsarmee Schweiz statt, die den Pilotversuch in Basel durchführt und auch Leistungsvertragsnehmerin der Stadt Bern ist.

Die Heilsarmee führt im Auftrag der Stadt eine Wohnberatungsstelle. Sie unterstützt armutsbetroffene und armutsgefährdete Menschen dabei, eine Wohnnung zu finden und zu halten. Keine einfache Aufgabe für Menschen, die lange auf der Strasse gelebt haben. In einem Talk im Polit-Forum Bern, der auf Youtube verfügbar ist, erklärt es der Berner Surprise-Stadtführer Roger Meier so: «Nach 22 Jahren auf der Strasse kannte ich mich dort besser aus als in einer Wohnung. Ich musste erst wieder lernen zu putzen.»

Die sogenannten Wohnkompetenzen – die Wohnung sauber halten, die Hausregeln beachten – sind auch ein Thema im Pessi in Helsinki. Wenn Pinja Pitkänen und Juuli Syväste beobachten, dass Bewohner*innen diese Kompetenzen wahrscheinlich erfüllen, schreiben sie eine Empfehlung, damit diese Menschen vom Pessi in eine eigene Wohnung in einem gewöhnlichen Block ziehen können. Das passiere selten, komme aber vor. Im Schnitt bleiben die Bewohner*innen fünf Jahre lang im Pessi. «Dann ziehen sie in eine andere Housing First-Einheit. Oder sie landen wieder auf der Strasse, weil wir den Vertrag auflösen mussten. Zum Beispiel, weil sie gewalttätig waren», erklärt Pinja Pitkänen.

Die Führung durch Pessi endet im Aufenthaltsraum. Ein Bewohner belädt einen Rollwagen mit Wischmop und Becken, um das Treppenhaus zu putzen. Heute sei sein Geburtstag, erzählt er. Juuli Syväste und Pinja Pitkänen gratulieren ihm: «Hyvää syntymäpäivää», heisst das auf Finnisch.

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