«Das Problem sind nicht einfach bestimmte Menschen»

Die kirchliche Gassenarbeit spricht mit marginalisierten Menschen und findet: Die sozialen Probleme auf der Schützenmatte gibt es, weil die Menschen ansonsten keinen Raum haben.

Eccentrici Dadarò
«Öffentliche Räume sollten von denen bespielt werden, die sie brauchen», sagt Nora Hunziker von der Gassenarbeit. (Bild: Marion Bernet)

Die Schützenmatte ist kein idyllisch gelegener Ort. Sie liegt umrahmt von drei Strassen im Schatten der Eisenbahnbrücke und vor dem Kulturzentrum Reitschule. Hier strömen nachts Partygänger*innen über den Platz, tagsüber treffen sich Demonstrationszüge, um zum Bundesplatz zu ziehen. Nicht weit entfernt befinden sich eine Drogenanlaufstelle mit Konsumraum und eine Notschlafstelle mit Gassenküche

Der Platz fällt in den Medien immer wieder negativ auf. Auch weil es zu Gewaltausschreitungen kommt. Im Frühjahr reduzierte die Stadt Bern – obwohl sie auf der Schützenmatte mehr Präsenz zeigen wollte – den Einsatz ihrer Gassen-Interventionsgruppe Pinto (Prävention, Intervention, Toleranz) in den Abend- und Nachtstunden auf der Schützenmatte. Es sei vermehrt zu Bedrohungen und Angriffen auf Mitarbeitende gekommen. 

Seit Anfang August, mit dem Start der Sommerbühne, ist das wieder anders. Pinto könne sich zu jeder Zeit um marginalisierte Menschen kümmern, sagte Leiter Silvio Flückiger gegenüber Bund/BZ (Abo). Den Mitarbeiter*innen sei seit einiger Zeit keine Gewalt mehr angedroht worden.

Als Pinto die Präsenz reduzierte, kritisierte die kirchliche Gassenarbeit den Entscheid. Eine professionelle Soziale Arbeit beinhalte es, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen, schrieb sie in einer Story auf Instagram. So sei man im öffentlichen Raum akzeptiert und werde als Gast empfangen. Die Mitarbeitenden der Gassenarbeit gingen ohne Unterbruch auch nachts auf die Schützenmatte und fühlten sich nicht gefährdet, sagt Nora Hunziker von der Organisation. 

Über die Organisation

Die kirchliche Gassenarbeit wurde zur Zeit der offenen Drogenszene in den 80er-Jahren gegründet. Etwas später kam das offene Büro dazu.

Neben der aufsuchenden Arbeit und dem offenen Büro hat die Organisation auch weitere Angebote: Das Verteilen von Kleidung oder ein Tierarzt. Für Tinfa-Personen (trans, inter, non-binär, agender und Frauen) gibt es zusätzliche Möglichkeiten, wie separate Büroöffnungszeiten oder eine Schreibgruppe, die vierteljährlich das Magazin Mascara herausbringt, das einen Einblick in das Leben auf der Gasse gibt.

Wie unterscheiden sich die Gassenarbeit und die Interventionstruppe Pinto?

Partei ergreifen – oder nicht

Die beiden Organisationen sind zwar beide aufsuchend unterwegs. Das heisst, die Mitarbeitenden sprechen in der Stadt Bern mit Menschen, die sich vorwiegend draussen aufhalten, und bieten ihnen Hilfe an. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Art, wie sie arbeiten. 

Pinto ist eine nicht polizeiliche Patrouille und von der Stadt beauftragt, störendes Verhalten im öffentlichen Raum im Gespräch mit den Betroffenen zu verhindern. Mitarbeitende tragen ein rotes Gilet.

Die kirchliche Gassenarbeit ist konfessionslos sowie behördenunabhängig. In der Stadt fällt sie nicht auf, weil die Mitarbeitenden keine Kleidung tragen, an der sie zu erkennen sind. 

Sie verfolgt das Prinzip der Nächstenliebe und die Bedürfnisse ihrer Klientel stehen für sie an erster Stelle.

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Die Mitarbeitenden der Gassenarbeit bereiten einen Kleidertausch vor. (Bild: Marion Bernet)

Das heisst, sie handelt anwaltschaftlich, nimmt also Partei ein für die Person, die sie betreut. Das ist in der sozialen Arbeit nicht überall so. Andere Organisationen arbeiten allparteilich – auch die städtische Institution Pinto. Bei diesem Ansatz sollen Anliegen und Erwartungen aller Parteien verstanden werden, so dass zwischen ihnen vermittelt werden kann. 

Bürozeiten ohne Ansprüche

Bei der Gassenarbeit können Hilfesuchende zu bestimmten Zeiten ins Büro kommen. Das sei wichtig, sagt Nora Hunziker. Sie arbeitet seit fünf Jahren für die kirchliche Gassenarbeit. «Es reicht nicht, ausschliesslich aufsuchend zu sein. Die Personen, die Hilfe benötigen, wissen ja nicht, wann und wo wir unterwegs sind.»

Wenn jemand zu einem abgemachten Termin nicht erscheine, zu spät komme oder erst nach einem halben Jahr wieder auftauche, erfahre die Person keinen Nachteil. «Wir akzeptieren die Menschen so, wie sie sind, und beharren nicht auf Gegenleistung.»

Kritik

Die Unabhängigkeit von Behörden sei ein Grund, weshalb sich die Gassenarbeit auch immer wieder kritisch zu aktuellen Ereignissen äussern kann. «Wir sind die, die mitbekommen, wie es den Menschen geht, deshalb sehen wir uns in der Verantwortung, uns in den Diskurs einzumischen und Themen anzuprangern», sagt Hunziker.

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Menschen können hier auch Medikamente für ihre Tiere beziehen. (Bild: Marion Bernet)

«Es sind nicht einfach eine bestimmte Menschengruppe oder ein Ort für die Probleme verantwortlich», sagt Nora Hunziker. Sie vergleicht ihre Arbeit mit der einer Gärtnerin: «Nicht jede Pflanze braucht dieselbe Behandlung, nicht jede denselben Standort und dieselbe Wassermenge.» Genauso sei es in der sozialen Arbeit. 

Auf der Suche nach Lösungen

Es gibt verschiedene Ansätze, die Situation auf der Schützenmatte zu entschärfen. Im August 2023 hat die Stadt Bern auf der Schützenmatte ein provisorisches Schutzmobil in Form eines Wohnwagens aufgestellt. Besucher*innen der Schützenmatte und Umgebung finden dort jeweils in der Freitag- und Samstagnacht Schutz und Rückzug. Weil das Angebot rege genutzt worden sei, hat die Stadt Bern Ende Mai 2024 entschieden, dass das Mobil zum festen Angebot wird. Sie wird es laut ihrer Mitteilung es 2028 finanzieren. Ausserdem soll ab Herbst ein Drug-Checking-Angebot als Pilotprojekt das Schutzmobil ergänzen. 

Auch das Team der Gassenarbeit macht sich Gedanken, welche Möglichkeiten es gibt, damit sich die Situation auf der Schützenmatte beruhigen kann. Es sei wichtig, die Situation gut und mit entsprechenden sozialarbeiterischen Werkzeugen zu erfassen, sagt die Sozialarbeiterin Nora Hunziker. Also den Menschen, den Ort, die Situation und alle weiteren Faktoren möglichst gut zu verstehen. Und erst nach eingehender Analyse mögliche Lösungen zu etablieren. 

Raum für alle

Für Hunziker stellt sich nicht die Frage, wie eine gute Schützenmatte auszusehen habe. Eher müsste die Frage gestellt werden, wie eine gute Stadt aussehen müsste. «Öffentliche Räume sollten von denen bespielt werden, die sie brauchen. Viele Menschen sind auf der Schütz, weil sie sonst keinen Platz in der Stadt haben», sagt Hunziker. Der öffentliche Raum müsse für alle zugänglich sein. 

Auch Menschen mit Lebensmittelpunkt auf der Gasse hätten Anspruch auf Raum, findet sie. Es sei nicht fair, dass nur ein Teil der Gesellschaft bestimme, wer wo sein dürfe.

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