Die Kocherpark-Epoche
Anfang der 90er-Jahre dominierte das «Drogenproblem» das Stadtbild in heute kaum mehr vorstellbarer Art. Jürg Steiner, damals junger Lokaljournalist bei der «Berner Zeitung», erinnert sich.
In der Nacht auf heute vor genau 30 Jahren schloss die Berner Stadtregierung die offene Szene im Kocherpark und verbot öffentliches Fixen. Im Rückblick gilt das als politischer Akt, der die Entwicklung zur entspannten drogenpolitischen Situation von heute einleitete.
Es war, natürlich, komplizierter. Und ist es bis heute. Die ewige Frage, ob man Drogensüchtigen gegenüber zu viel Toleranz zeigt oder ihnen mit zu viel Repression begegnet, soll und muss man immer wieder aufwerfen. Abschliessend beantwortet wird sie wohl nie.
Vor 30 Jahren war das Bild von Menschen, die sich irgendwo in der Stadt in aller Öffentlichkeit einen Schuss setzten, allgegenwärtig. Ab 1982 trieb die Polizei die wachsende offene Szene zwecks Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung von der Münsterplattform in die Münster- und Herrengasse, später auf die Kleine Schanze, ehe sie im Kocherpark strandete. Alle diese Orte gehören heute zum herausgeputzten Stadtbild.
Für alle, die sich an die Kocherpark-Epoche nur noch schwach oder gar nicht erinnern, kommentiere ich folgende vier Bilder.
Man spricht immer vom Kocherpark, aber die Kleine Schanze war vor und nach der Kocherpark-Phase der Treffpunkt der Drogenszene. Eigentlich war das Betreten des Rasens auf der Kleinen Schanze verboten, aber die offene Szene richtete den von Hunderten frequentierten illegalen Freiluftdrogenbazar trotzdem ein.
Im Umfeld des Bundeshauses spielten sich unglaubliche Szenen ab. Auf der Bundesterrasse lungerten Junkies und Alkoholiker*innen und bettelten eidgenössische Parlamentarier und Bundespersonal an. Bundesratssitzungen fanden bei geschlossenen Fenstern statt, damit sie nicht von grölenden Alkoholiker*innen gestört wurden. Oder von Fixer*innen, die sich in den abgebundenen Arm einen Schuss setzten. Auf der Bundesgasse, zwischen Kleiner Schanze und dem «Bellevue», befand sich der Berner Strassen- und Drogenstrich, auf dem über 100 Frauen arbeiteten.
Der Bundesrat begehrte auf. Er verlangte von der Berner Stadtregierung, mit einem Zaun um Bundeshaus und Kleine Schanze einen überwachten Park einzurichten, aus dem weggeschafft werde, wer sich nicht an die Benimmregeln halte. Die Stadt weigerte sich und versuchte, sich mit der Verdrängung der Szene in den Kocherpark Luft zu verschaffe. Als sie diesen Ende März 1992 schloss, kehrte die Szene auf die Kleine Schanze zurück. Entspannung gab es erst nach der Jahrtausendwende, als man die Kleine Schanze für fast eine Million Franken sanierte und der Öffentlichkeit zugänglich machte.
«Wenn wir eine unliebsame Minderheit weghaben wollen, braucht es eine Gestaltung, von der die Mehrheit etwas hat», erklärte der zuständige Chefbeamte der Polizeidirektion damals den Medien.
Zwischen 1991 und 1992 war der Grünraum im Villettequartier, einen Steinwurf nur von den Bürohochhäusern des City West entfernt, aber ausserhalb des Sichtbereichs der Bundespolitik, deshalb der Treffpunkt der offenen Drogenszene. Hunderte Fixer vegetierten im Kocherpark, teilweise in behelfsmässigen, sumpfigen Unterständen oder Zelten, im vor Schmutz starrenden Park. Das zu lukrativen Marktpreisen verdealte Heroin war oft zu rein oder dann wieder gestreckt mit Fremdsubstanzen, unberechenbar, so dass lebensgefährliche Überdosen zur Normalität gehörten.
Allerdings wurden offene Drogenszenen nicht nur als Übel gesehen. Besonders Fachleute aus der Drogenarbeit sahen in den grossen Ansammlungen auch die Möglichkeit, überhaupt mit den Abhängigen in Kontakt zu kommen und ihnen medizinische oder soziale Unterstützung zu geben. Deshalb war jede politische Entscheidung zur offenen Drogenszene heftig umstritten.
Die öffentliche Debatte um den Umgang mit Drogenabhängigen rief auch zuvor kaum bekannte zivilgesellschaftliche Aktivitäten hervor. 1990 entstand die erste Notschlafstelle, die auch Drogenkonsument*innen akzeptierte. Freiwillige sorgten mit Gassenküchen für eine Basisversorgung der Drogenabhängigen. Allerdings stilisierten sie die Junkies oft hoch zu Opfern der kapitalistischen Leistungsphilosophie.
Meiner Meinung nach ist etwas in Vergessenheit geraten, dass die Stadt Bern in drogenpolitischen Fragen Innovationsgeist zeigte, früh voranging und pragmatische Lösungen möglich machte. Oft orientierte man sich am Vorbild Holland.
Schon 1986 eröffnete Bern als erste Stadt der Welt ein sogenanntes Fixerstübli, einen Ort, an dem Heroinabhängige unbehelligt ihren Stoff konsumierten. Ein «Erdbeben in der Drogenpolitik», sei das gewesen, kommentierte Jakob Huber, der langjährige Geschäftsführer der Berner Suchthilfestiftung Contact. Es war der Vorläufer der heutigen Drogen-Anlaufstelle an der Hodlerstrasse.
An den Standorten der offenen Drogenszene verteilten Sozialarbeiter*innen saubere Spritzen. Die Gefahr einer HIV-Infektion war gross. Bis zu 7000 Spritzen wurden beispielsweise im Kocherpark abgegeben.
1994 begann man, in einem Pilotprojekt im pathologischen Institut der Universität Bern ausgewählten Süchtigen unter ärztlicher Kontrolle versuchsweise Heroin abzugeben. Dieser Versuch war eine Grundlage für den Bundesbeschluss über die ärztliche Verschreibung von Heroin, den das Schweizer Stimmvolk 1999 annahm. Dieser politische Schritt beschleunigte das Verschwinden des Drogenelends aus der öffentlichen Wahrnehmung in der Stadt Bern entscheidend.
Nach der Räumung des Kocherparks verkleinerte sich die offene Drogenszene zwar, auch, weil auswärtige Abhängige konsequent weggewiesen wurden. Aber die Szene verkroch sich, von der Polizei in einem endlosen, unwürdigen Katz- und Mausspiel gejagt, unter die Lauben der oberen Altstadt, wo Laden- und Hausbesitzer zu Selbsthilfe griffen, private Sicherheitsfirmen engagierten und etwa die Zeughausgasspassage nachts mit einem absenkbaren Gitter verschlossen. An den Kornhausplatz, auf die Schützenmatte.
Jahrelang beschäftigte sich die Stadtregierung in höchster Priorität mit einer von Gymnasiast*innenen betriebenen mobilen Gassenküche, die immer am Sonntagabend in der Reitschule zubereitete Mahlzeiten gratis an Randständige verteilte. Die Küchenbetreiber hielten sich nicht an die von den Behörden definierten Standorte, weshalb die Polizei sie regelmässig mit Tränengas einnebelte mit der Begründung, dass die Gassenküche die Neubildung einer Drogenszene begünstige.
Es dauerte nach der Kocherpark-Schliessung noch Jahre, ehe sich eine Balance zwischen Repression, Therapie, Prävention und Schadensminderung einstellte. Bis heute müsse dieses Gleichgewicht immer wieder neu justiert werden, sagt Rahel Gall, Geschäftsleiterin von Contact. Ein wesentlicher Schritt war 2004 die Etablierung der in linken Kreisen umstrittenen Gasseninterventionstruppe Pinto – abgekürzt für Prävention, Intervention, Toleranz. Pinto, eine nicht polizeiliche Patrouille, versucht, störendes Verhalten im öffentlichen Raum im Gespräch mit den Betroffenen zu eliminieren.