Ein Blick in die Reitschule 2024
Seit 37 Jahren prägt das alternative Kulturzentrum Reitschule das Berner Stadtbild. Ein Besuch mit Blick auf seine aktuellen Herausforderungen.
Die Reitschul-Zeitung Megafon hat ihren Stand unübersehbar im Gang zum Innenhof platziert und begrüsst die Besucher*innen, die sich die Räume der Reitschule anschauen wollen. Es ist der «Tag der offenen Tore», den die Reitschule etwa einmal pro Jahr organisiert. Die Räume sind offen für alle, die Mitglieder des Kollektivs stehen bereit, um Fragen zu beantworten und Einblicke in ihre Arbeit zu geben.
Auf dem Standtisch des Megafons liegen aktuelle Hefte, ältere Ausgaben und eher zufällig wirkende Postkarten. Dahinter haben die Mitglieder des Megafons Merchandise-T-Shirts an einem Sonnenschirm aufgehängt. Auf ihnen steht «Für eine schönere Medienlandschaft seit 1987», darunter die Illustration einer Wiese mit farbigen Blumen.
1987, vor 37 Jahren, haben Aktivist*innen die Reitschule besetzt, seither ist sie aus Berns Stadtbild kaum mehr wegzudenken. Auf der angrenzenden Schützenmatte beginnen oft Demonstrationen, die auf dem Bundesplatz enden. Sie ist eine der grössten Gastrobetriebe der Stadt, Firmen können Reitschulführungen buchen und der Dachstock ist eines der bestausgerüsteten Konzertlokale. Die Reitschule ist über Berns Stadtgrenzen hinweg bekannt.
Gleichzeitig fordert die Reitschule die Stadt durch ihre Unangepasstheit und rebellische Auflehnung immer wieder heraus. Sie ist links, alternativ, aktivistisch und zieht ein Publikum an, das nicht immer zahm ist. In der Vergangenheit führte das wiederholt zu Schlagzeilen in den Medien und zu Polizeiaufgeboten, wenn links-extreme Gruppen in der Reitschule zugegen waren.
Doch die Reitschule ist sich am Wandeln. Die Namen der Räume ändern, es gibt einen Generationenwechsel. Die «Hauptstadt» hat mit den verschiedenen Kollektiven der Reitschule gesprochen.
Progressiv versus konservativ
Hinten links im Innenhof befindet sich die Druckerei der Reitschule. Hier werden zum Beispiel die Ausgaben des Megafons gedruckt. Aber auch Externe können Druckaufträge bestellen. Wir treffen Paolo Riva an, er kocht gerade Pasta im engen Gang der «Drucki-Räumlichkeiten». Er ist seit sieben Jahren in der Reitschule aktiv.
Riva ist eines der wenigen Mitglieder der Reitschule, die mit ihrem vollen Namen Medien Auskunft geben. Der Grund für die Zurückhaltung liegt darin, dass die Reitschule schon oft Negativ-Schlagzeilen verbucht hat und die Aktivist*innen deshalb vorsichtig sind.
Paolo Riva findet, dass es in der Reitschule auch interne Herausforderungen gebe. Zum Beispiel aufgrund der basisdemokratischen Selbstverwaltung. Sie führe dazu, dass die Reitschule Veränderungen oft konservativ gegenüberstehe, sagt er. Jede*r rede mit, was zu ausschweifenden Diskussionen führe, die nicht immer zu einem Resultat kämen.
Ein Beispiel: Die Umbenennung des Frauenraums in Queerfeministischen Raum dauerte fünf Jahre. Es habe viele Gespräche, Geduld und Kraft erfordert, bis sich Gründungsmitglieder und junge Aktivist*innen mit neuen Ideen verstanden haben und einigen konnten, erzählt ein Mitglied des Queerfeministischen Raums, das seinen Namen nicht in der «Hauptstadt» lesen möchte.
Der Queerfeministische Raum ist der vielleicht schönste Raum der Reitschule. Er befindet sich im hinteren Teil des Innenhofs im ersten Stock. Ein Billardtisch, verschiedene Sofagruppen und Sessel aus der Brocki sowie leere Fässer, die als Tische genutzt werden, stehen im dachschrägen Raum. An der weissen Wand sind die Regeln des Raums in grossen blauen Buchstaben festgelegt: «Kein Rassismus, kein Sexismus, keine physischen, psychischen, sexuelle Übergriffe, keine Homophobie, kein Deal, kein Klau.»
Vor dem Eingang auf der Treppe treffen wir vier Mitglieder des Raums. Einige davon wollen ohne Pronomen angesprochen werden. Sie erzählen, dass sie ein Team aus rund 50 Personen seien und Mitglieder suchen. Die Schwierigkeit: Das «Ausbrenn-Potenzial» sei hoch. Denn wer sich ehrenamtlich engagieren und sich so richtig reinhängen wolle, könne das in der Reitschule zwar gut ausleben. Doch weil das gesamte Reitschul-Kollektiv so vielzählig ist und nicht jedes Mitglied sich gleich einbringe, könne das eigene Engagement zermürbend sein.
Auch, weil sich nicht alle unter denselben Voraussetzungen engagieren. Einige Räume zahlen Lohn, andere nicht.
Ehrenamtlich oder lohnzahlend
Die Mitglieder des Infoladens, des Kinos und des Queerfeministischen Raums arbeiten ehrenamtlich. Die Mitarbeiter*innen des Konzertlokals Dachstock, der Druckerei und der beiden Gastrolokale Rössli und Sous le Pont aber erhalten Lohn.
Beides habe Vor- und Nachteile, finden die Aktivist*innen des Queerfeministischen Raums. Einerseits seien die lohnzahlenden Räume den – wie sie es nennen – «kapitalistischen Strukturen» ausgesetzt. «Der Dachstock muss regelmässig genug Gäst*innen anziehen, damit er die Löhne zahlen kann», sagt ein Mitglied. So werde dort eher mal ein Auge zugedrückt, wenn das Programm in punkto Diversität oder toxischer Männlichkeit der Vision der Reitschule widerspreche.
Der Queerfeministische Raum könne da viel eher «sein Ding» durchziehen, mit einer klaren Tinfa-Quote (Trans-, Inter-, Non-Binäre-, Frauen, Agenderpersonen) zum Beispiel.
Und da im Queerfeministischen Raum alles ehrenamtlich ist, sei die Stimmung auch immer super, finden die Mitglieder.
Andererseits will sich der Queerfeministische Raum umstrukturieren, weil bisher viele Mitglieder an ihre Grenzen gekommen seien.
Das Ausbrennen ist auch anderswo ein Thema. So hat das ehrenamtlich organisierte Kino in der Reitschule bereits Massnahmen dagegen umgesetzt: Bevor im Kino ein Projekt gestartet wird, müssen sich immer mindestens zwei Personen bereit erklären, mitzumachen. Der Grund ist einfach: Ein Projekt soll nicht nur an einer Person hängen bleiben.
Ort für alle
Wir gehen weiter zum Infoladen Borke. Er hat im November 2023 neu eröffnet. Hier stehen hohe Bücherregale an den Wänden, zwei Computer mit Zugang zum Internet und daneben eine Kiste mit der Aufschrift «Alles für alle». Darin sind Lebensmittel wie Pasta und Tomatensauce, aber auch Notizhefte. Bücher gibt es in verschiedenen Sprachen zu queerfeministischen und anarchistischen Themen. Sie können gratis ausgeliehen werden. Auf dem Tisch in der Mitte des Raums stehen verschiedene Kuchen bereit, sie sind vegan und glutenfrei.
Der Infoladen sei ein niederschwelliges Angebot, erklärt ein Mitglied. Das wollen alle Räume der Reitschule sein: ein Ort für alle.
Auf und Ab auf dem Vorplatz und der Schütz
Zu den Pflichten der Reitschüler*innen gehört die Teilnahme an den Vollversammlungen. Diese erfordern Sitzleder: Sie finden alle paar Wochen am Sonntag statt und können sich bis zu drei Stunden ziehen. Vertreter*innen aus allen Kollektiven in der Reitschule sind dabei.
Hinzu kommen regelmässige Sitzungen der Sub-Kollektive, die über die verschiedenen Räume in der Reitschule organisiert sind. Das kann zeitintensiv werden.
Für Diskussionen sorgt an den Vollversammlungen auch immer wieder der Vorplatz.
In den Jahren vor der Corona-Pandemie war der Vorplatz der Treffpunkt der Jugendlichen. Vor allem abends an den Wochenenden hingen viele von ihnen zusammen ab und tranken selbst mitgebrachte Getränke. Das hat sich geändert.
«Der Vorplatz ist bei der Jugend nicht mehr so beliebt wie noch vor fünf Jahren», sagt David Böhner, Mitglied der Druckerei der Reitschule und Berner Stadtrat (AL). Die Gründe dafür sind vielschichtig.
Die Rössli Bar, direkt beim Haupteingang, und das Restaurant Sous le Pont, dessen Eingang sich im Gang zum Innenhof befindet, ziehen ein relativ diverses Publikum an. Weil sie zum Vorplatz gerichtet liegen, bekommen sie am meisten davon mit, was auf dem Vorplatz passiert.
Im Sous le Pont herrscht an diesem Tag gegen Abend immer mehr Betrieb. Trotzdem erzählt uns eine Mitarbeiterin an der Bar, während sie Bestellungen aufnimmt und Bier, Kaffee oder Babyccinos ausschenkt, wie sie die Situation auf dem Vorplatz wahrnimmt.
Derzeit habe eine regelrechte Drogen- und Gewaltwelle den Vorplatz erfasst, sagt sie. Man wisse, dass die Drogen- und Gewaltprobleme auf dem Vorplatz in Wellen kämen. Das habe man in den letzten Jahrzehnten immer wieder beobachtet: Die Probleme hätten sich gehäuft und seien wieder abgeflaut.
Der Gastronomiebetrieb Sous le Pont/Rössli ist deshalb in einem Dilemma: Er will zwar für alle zugänglich sein, indem er zum Beispiel keine Konsumpflicht in seinen Räumen hat. Andererseits sollen in diesen Räumen keine Menschen dealen oder harte Drogen konsumieren.
Die Reitschule ist in engem Kontakt mit der Suchthilfe-Stiftung Contact und der Stadt Bern. Zudem will sie die Schützenmatte wieder mehr beleben, indem die verschiedenen Reitschul-Kollektive vermehrt Events dort veranstalten. Aktive Belebung, zum Beispiel mit Musik, Barbetrieb oder gemeinsamem Schlangenbrot essen, habe sich auch schon in der Vergangenheit bewährt, sagen verschiedene Mitglieder.
Eine weitere Initiative, um die Situation auf der Schützenmatte wieder zu entschärfen, ist der Verein Medina, der als mobiles Gemeinschaftszentrum in einem Container auf dem Platz präsent ist.
Und die Stadt will neben einer Umgestaltung der Skateranlage auch eine erhöhte Präsenz der mobilen Interventionsgruppe Prävention, Intervention, Toleranz (Pinto) einführen. Das Ziel sei eine tägliche Präsenz zwischen zehn Minuten und einer Stunde tagsüber an den Werktagen, schreibt der Gemeinderat in einer Antwort auf eine kleine Anfrage von Eva Chen (AL).
Da es abends vermehrt zu Bedrohungen und Angriffen auf Mitarbeitende kam, sei die Präsenz in den Abend- und Nachtstunden reduziert worden, schreibt der Informationsdienst der Stadt Bern auf Anfrage der «Hauptstadt». Der Gemeinderat evaluiere zurzeit mögliche weitere Schritte, unter anderem den Ausbau bestehender Angebote. Über neue Beschlüsse werde der Gemeinderat gegebenenfalls informieren.
Es ist dunkel geworden, als wir aus dem vollen Sous le Pont treten. Wer auf dem Vorplatz die Ohren spitzt, hört Musik aus dem Dachstock wummern. Dort findet gerade ein Nachtflohmi statt.
In einer früheren Version stand, dass die Organisationen Medina und Pinto auf dem Vorplatz aktiv seien. Das wurde nun korrigiert: Beide Organisationen sind nur auf der Schützenmatte aktiv.