Ein Visum, das es fast nicht gibt

Das humanitäre Visum schafft einen Hoffnungsschimmer auf sichere Fluchtwege. Doch fast immer bleibt es beim Hoffnungsschimmer. Vom Versuch einer Burgdorferin, ihren Vater aus einem pakistanischen Keller zu retten.

Abid und Fatima Andarabi fotografiert am Mittwoch, 9. August 2023 in Burgdorf. (haupstadt.be / Simon Boschi)
Fatima und Abid Andarabi versuchen seit zwei Jahren, ein humanitäres Visum für Fatimas Vater zu erhalten. (Bild: Simon Boschi)

«Ich kann nicht aufhören. Wenn die Behörden ablehnen, muss ich eine neue Beschwerde machen. Ich muss nochmal probieren, nochmal probieren. Solange es irgendeine Möglichkeit gibt, muss ich weitermachen. Es ist das Einzige, was ich für meinen Vater tun kann.»

Wenn sie emotional wird, spricht Fatima Andarabi auf Dari, eine der zwei afghanischen Amtssprachen. Ihr Ehemann Abid übersetzt. Der 35-Jährige spricht ein kerniges Deutsch. Man hört, dass er es in der Schweiz gelernt hat.

Aus dem schräggestellten Fenster dringt Hauptstrassenlärm. Fatima hat Tee vorbereitet, aber als sie mir ansieht, wie heiss mir ist an diesem Nachmittag, bringt sie kaltes Wasser. Dazu stehen hübsch angerichtet ein Teekrug, Früchte, Nüsse auf dem Salontisch bereit. Fatima Andarabi und ihr Ehemann überlassen mir das grosse Ledersofa und holen sich Stühle. Die beiden Kinder machen im Nebenzimmer Mittagsschlaf. Es sind Sommerferien in Burgdorf. Die 29-jährige Fatima Andarabi erzählt.

Der Armeechef im Keller

«Mein Vater war ein ranghohes Mitglied der afghanischen Armee. Er arbeitete mit der Nato zusammen. Seit die Taliban an der Macht sind, ist klar: Wenn sie ihn kriegen, ist er tot. Auch meine Mutter ist in Gefahr, weil sie für eine Menschenrechtsorganisation gearbeitet hat.

Mein Vater floh direkt nach der Machtübernahme nach Pakistan. Der Rest der Familie blieb zuerst noch in Afghanistan. Die Taliban kamen viermal bei ihnen zu Hause vorbei. Beim ersten Mal fragten sie nach dem Vater. Beim zweiten Mal durchsuchten sie das Haus und nahmen seine Uniform mit, seine Dienstwaffe und Fotos. Beim dritten Mal verprügelten sie die Familienmitglieder, nahmen das Auto mit und drohten mit Schlimmerem. Da floh auch die Familie nach Pakistan. Als die Taliban zum vierten Mal kamen, waren sie schon weg. Sie beschlagnahmten alles. Die Nachbarn riefen meine Familie an und sagten: Kommt bloss nicht wieder. Es ist zu gefährlich.

Jetzt verstecken sie sich in einem Keller in Pakistan, aber es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Sie sind illegal da. Es werden immer mehr Leute von der pakistanischen Polizei festgenommen. Wenn sie meinen Vater festnehmen, dann wird er an der Grenze den Taliban übergeben. Und dann ist er tot. Zu hundert Prozent.»

Nachdem in Afghanistan 2021 die Taliban die Macht übernommen haben, hat sich die Menschenrechtslage im Land drastisch verschlechtert. Amnesty International berichtet von willkürlichen Festnahmen und Hinrichtungen von vermeintlichen Gegner*innen, darunter ehemalige Sicherheitskräfte der früheren Regierung.

Viele Afghan*innen flohen nach Pakistan, doch der Staat ist den Flüchtlingen wenig wohlgesinnt. Es mehren sich Berichte von Inhaftierungen und zwangsweisen Rückführungen nach Afghanistan.

Abid und Fatima Andarabi fotografiert am Mittwoch, 9. August 2023 in Burgdorf. (haupstadt.be / Simon Boschi)
Fatima Andarabis Familie ist nach der Machtübernahme der Taliban in Pakistan untergetaucht. (Bild: Simon Boschi)

Im September 2021 stellte Fatima Andarabis Vater auf der Schweizer Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad einen Antrag für ein humanitäres Visum. Seine Tochter und ihr Ehemann hatten ihn von der Schweiz aus instruiert.

Eine Woche später lehnte die Schweizer Botschaft den Antrag ab.

Ein Visum für äusserste Notfälle

Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges führte die Schweiz 1979 das Botschaftsasyl ein. Menschen konnten auf einer Schweizer Botschaft im Ausland direkt ein Asylgesuch stellen. Wurde es bewilligt, durften sie legal in die Schweiz einreisen und bleiben.

2012 schaffte die Schweiz das Botschaftsasyl wieder ab. Es sei zu «verlockend» für ungefährdete Personen, argumentierte der Bundesrat. Stattdessen wurde eine – bewusst strengere – Alternative geschaffen: das humanitäre Visum.

Es ermöglicht Menschen, die in ihrem Herkunftsstaat «unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet sind», auf einer Schweizer Botschaft im Ausland ein Visum zu erhalten, wenn sie einen engen Bezug zur Schweiz aufzeigen können. Danach dürfen sie für 90 Tage in die Schweiz einreisen und hier ein Asylgesuch stellen. 

So wahre die Schweiz ihre humanitäre Tradition, erklärte der Bundesrat.

Im Jahr 2022 gingen via die Botschaften im Ausland beim Staatssekretariat für Migration 1’579 Gesuche für humanitäre Visa ein. 142 Visa wurden ausgestellt, davon gingen 98 an Menschen aus Afghanistan. 2021 waren es 3’703 Anträge, davon wurden 94 gutgeheissen, 37 gingen an Afghan*innen. 

Diese Zahlen machen klar: Für die allermeisten Betroffenen, die irgendwo auf der Welt in Gefahr schweben, ist ein humanitäres Visum so unwahrscheinlich wie baldiger Frieden. Seit 2021 flohen laut der Uno-Flüchtlingsorganisation UNHCR 1,6 Millionen Menschen aus Afghanistan.

Johannes Matyassy, Direktor der Konsularischen Direktion im Schweizer Aussendepartement, sagt gegenüber SWI swissinfo.ch, die Schweizer Botschaften in Teheran, Istanbul und Islamabad seien nach der Machtübernahme der Taliban «geflutet» worden von Anträgen für humanitäre Visa.

Im Juni deutete Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider in einem Interview gegenüber SRF an, sie wolle die Anforderungen für humanitäre Visa lockern. Allerdings müsse sie diese Pläne zuerst im Bundesrat besprechen und ausloten, was machbar sei. Politisch machte sie sich mit dieser Aussage keinen Gefallen. Sie wurde umgehend aufs Schärfste kritisiert: Sie habe den Bezug zur Realität komplett verloren, liess die SVP verlauten. Die linke Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartements ist das erklärte Feindbild der SVP im Wahljahr.

So klein die Chancen auf Erfolg auch sind – für Angehörige in der Schweiz ist der Antrag für ein humanitäres Visum oft die einzige Möglichkeit, irgendetwas für ihre Nächsten zu tun. Denn in der Regel sind sie es, die das Verfahren organisieren. Wie kräftezehrend das sein kann, erleben Fatima und Abid Andarabi seit zwei Jahren.

Beschwerde um Beschwerde

«Mein Vater, meine Mutter, meine Schwester, ihr Mann und ihr zweijähriger Bub sind in diesem Keller. Er hat nur ein winziges Fenster. Mein Vater geht nie raus. Es ist zu gefährlich für ihn. Seit vier Monaten hat er den Keller nicht verlassen. Meine Mutter und meine Schwester gehen manchmal einkaufen, wenn die Strassen leer sind. Aber nur kurz! Meistens können sie nur einmal pro Tag essen.»

Mit Hilfe der Berner Rechtsanwältin Pascale Hollinger erhoben Fatima und Abid Andarabi Einsprache gegen die Ablehnung des humanitären Visums. 

Knapp zwei Monate später, im Dezember 2021, lehnte das Staatssekretariat für Migration die Einsprache ab. 

Der Vater sei in Pakistan nicht akut an Leib und Leben gefährdet, begründete es den Entscheid. Es gebe keine Hinweise dafür, dass Mitglieder der früheren Regierung über die Landesgrenzen hinweg verfolgt oder von den pakistanischen Behörden bedroht würden.

Fatima und Abid Andarabi legten wieder Beschwerde ein, diesmal ans Bundesverwaltungsgericht. Dann geschah ein Jahr lang nichts.

Abid und Fatima Andarabi fotografiert am Mittwoch, 9. August 2023 in Burgdorf. (haupstadt.be / Simon Boschi)
«Solange es irgendeine Möglichkeit gibt, muss ich weitermachen», sagt Fatima Andarabi. (Bild: Simon Boschi)

Die Rechtsanwältin fragte immer wieder nach dem Verfahrensstand, reichte Dokumente beim Gericht ein, die die Dringlichkeit der Sache aufzeigen sollten. 

Fatima und Abid Andarabi warteten. Ihr ging es zusehends schlechter. Durch eine neurologische Krankheit erhöhte sich der Druck in ihrem Gehirn. Der Stress verstärkte das Problem. Bald konnte sie kaum mehr arbeiten, auch der Haushalt und die Kinderbetreuung machten ihr zu schaffen. Abid unterstützte sie, wo er konnte.

«Wir haben etwa einmal pro Woche Kontakt mit der Familie. Nur per Whatsapp, wenn der Hausbesitzer, bei dem sie im Keller leben, ihnen sein Internet zur Verfügung stellt. Wenn wir nichts hören, wissen wir nicht, wie es um sie steht. Wir können hier nicht einfach leben, als wäre alles gut. Jeden Tag fragen wir uns: Wie lange können sie sich noch verstecken? Bis jetzt hatten sie Glück – aber was, wenn etwas passiert? Dann haben wir nichts als eine Whatsapp-Nummer, die nicht funktioniert. Wir können nicht hinfliegen und sie suchen. Wir haben in der Schweiz einen F-Ausweis. Mit diesem Status dürfen wir das Land nicht verlassen. Alles, was wir tun können, ist warten und hoffen.»

Und dann hiess das Bundesverwaltungsgericht am 23. Januar dieses Jahres die Beschwerde gut.

Fatima Andarabis Vater sei als ehemaliger ranghoher Armeeangehöriger in Afghanistan stark in Gefahr. Es sei zu befürchten, dass Afghan*innen von Pakistan zurückgeführt werden. Das Staatssekretariat für Migration habe nicht genügend überprüft, ob der Vater wirklich vor einer Ausschaffung nach Afghanistan geschützt ist.

Nur: Das bedeutete noch nicht, dass er das Visum erhielt und in die Schweiz reisen konnte. 

Es bedeutete lediglich, dass der Fall an das Staatssekretariat für Migration zurückgewiesen wurde. Dieses würde noch einmal entscheiden müssen. Und das dauerte wieder. 

Wer so lange überlebt, ist nicht in Gefahr

Vier Monate später lehnte das Staatssekretariat für Migration wieder ab – zum zweiten Mal.

Es räumt ein, dass in Pakistan wohl Rückführungen von afghanischen Flüchtlingen stattfinden. Doch Fatima Andarabis Vater könne nicht beweisen, dass er besonders gefährdet sei.

Abid und Fatima Andarabi fotografiert am Mittwoch, 9. August 2023 in Burgdorf. (haupstadt.be / Simon Boschi)
Ungefähr einmal pro Woche melden sich die Familienmitglieder per Whatsapp. Doch das geht nur, wenn ihnen der Hausbesitzer seine Internetverbindung zur Verfügung stellt. (Bild: Simon Boschi)

Ausserdem: Seit er das Gesuch eingereicht hat, waren eineinhalb Jahre vergangen, in denen er nicht nach Afghanistan rückgeführt wurde. Das zeige, dass die Gefahr nicht so gross sein könne.

Rechtsanwältin Pascale Hollinger kritisiert diese Argumentation scharf: «Das humanitäre Visum soll Menschen aus einer unmittelbaren Notsituation helfen», sagt sie. «Wenn ihnen die lange Dauer des Verfahrens zu Lasten gelegt wird – oder das Glück, dank dem sie überhaupt noch am Leben sind – wie sollen sie beweisen können, dass sie in Gefahr sind, ohne bereits tot zu sein?»

Sie reichte noch einmal Beschwerde gegen den Entscheid ein. Diese geht wieder an das Bundesverwaltungsgericht. Dort ist sie bis jetzt hängig. Fatima und Abid Andarabi sagen, sie hätten ein kleines bisschen Hoffnung – denn beim ersten Mal entschied das Gericht ja zugunsten des Vaters. 

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Diskussion

Unsere Etikette
Martin Wüthrich
17. August 2023 um 16:09

Interessant dass ausgerechnet die rechten Populisten vom Verlust des Realitätsbezugs sprechen.

Aber was will man von einer Partei auch halten, in deren Reihen der Krieg in der Ukraine verharmlost wird, oder in der man es mit den (Urheber)-Rechten anderer nicht so genau nimmt.

Grausam was deren Politik alles anrichtet, dies ist nur ein Beispiel davon.

Marco Meister
17. August 2023 um 05:52

Ich bin fassungslos und wünsche Fatima Andarabi, dass ihrem Vater doch noch ein humanitäres Visum zugesprochen wird. Hier wird die "humanitäre Tradition" der Schweiz mit Füssen getreten und leider kann dieser Begriff aus dem Vokabular gestrichen werden.