Farbiger Stoff, dunkle Vergangenheit
Die Schweiz hatte nie eigene Kolonien. Trotzdem war sie in den Handel mit Versklavten verwickelt – beispielsweise durch bunte Stoffe «made in Bern».
An der Eigerstrasse im Stadtberner Sulgenauquartier sind längst keine Spuren mehr sichtbar: Das Gebäude ist abgerissen, der Bach kanalisiert, die Talsenke aufgefüllt. Heute steht hier das als «Titanic II» bekannte Gebäude der Bundesverwaltung. Im 18. Jahrhundert jedoch war an der Eigerstrasse jene Berner Manufaktur ansässig, deren Produkte Teil eines globalen Netzwerks zur Verschleppung von Millionen Menschen waren.
Die Baumwollfärberei der Familie Küpfer stand direkt am Sulgenbach. So beschreibt es 1764 der deutsche Adlige Karl von Zinzendorf in seinem Reisebericht. Heiss und feucht sei es im Innern der Manufaktur, das Atmen falle schwer. Von Zinzendorf erwähnt einen Arbeiter, der in einer kupfernen Pfanne Indigo-Brocken zermalmt. Mit dem Farbstoff werden später die leichten Baumwolltücher bedruckt. In der Manufaktur gebe es für jede Grundfarbe einen anderen Raum, so von Zinzendorf: «Eine eigene Stube zum rothen, eine andere zum gelben und eine andere zum blau drucken.» Das, was damals im Betrieb der Familie Küpfer produziert wurde, sind Indiennes. Die farbig bedruckten Stoffe waren im 18. Jahrhundert auf der ganzen Welt ein begehrtes Handelsgut – auch im transatlantischen Handel mit Versklavten.
Lukrativer Handel für Ostindien-Kompanien
Indiennes waren ursprünglich in Indien hergestellte und bedruckte Stoffe. Nach der Entdeckung des Seewegs nach Indien brachten im 16. Jahrhundert zunächst portugiesische Händler die Stoffe nach Europa, später niederländische, englische und französische Ostindien-Kompanien. Deren Handelsnetzwerke ermöglichten ab den 1650er-Jahren immer grössere Indiennes-Importe.
Die Recherche zu Indiennes aus Bern entstand im Rahmen eines historischen Seminars an der Universität Freiburg. Der Text erscheint gleichzeitig auf bern-kolonial.ch. Der Online-Stadtplan wurde 2020 lanciert und soll «Spuren kolonialer Verstrickungen und rassistischer Hintergründe» in Bern sichtbar machen. Gefördert wurde das Projekt unter anderem von der Stadt Bern mit 45’000 Franken. Seit der Lancierung wurden keine neuen Texte publiziert. «Das wird sich in den kommenden Monaten ändern», sagt Karl Rechsteiner von der Stiftung Cooperaxion, die für den Online-Stadtplan verantwortlich ist.
Der Handel war lukrativ. Die europäische Mittel- und Oberschicht riss sich um die exotischen Stoffe. Die bedruckte Baumwolle war so hübsch wie Seide und kratzte weniger als Leinen oder Wolle. Wohlhabende liessen sich elegante Kleider und Vorhänge mit handwerklich anspruchsvollen Blumenmustern anfertigen. Bei der weniger kaufkräftigen Kundschaft waren einfache geometrische Muster als Hals- oder Taschentücher beliebt. Die wechselnden Motive machten Mode erstmals breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich.
Europäische Fabriken kopieren indisches Vorbild
Bald entstanden auch in Europa erste Indienne-Manufakturen – meist im Umfeld grosser Häfen. Die frühesten Unternehmen produzierten ab 1672 in Marseille, andere in London oder Amsterdam. Die europäischen Färbereien imitierten zunächst das indische Vorbild, entwickelten rasch aber auch eigene Drucktechniken und -muster.
In der Stadt Bern begann Hieronymus Küpfer 1706 als erster, Indiennes zu drucken. Die Färberei, die er von seinem Vater übernommen hatte, stand wahrscheinlich an der Eigerstrasse 37. Darauf lässt ein Text des Berner Heimatschutzes schliessen, der besagt, dass ein Gebäude an dieser Adresse «einstmals die Tröckneräume einer auf Wasser angewiesenen Indienne-Textilfärberei beherbergte.» Das Haus wurde im 20. Jahrhundert abgerissen. Heute steht – wie eingangs erwähnt – die «Titanic II».
Der Schweizer Indienne-Boom
Im 18. Jahrhundert entstanden in der ganzen Schweiz Indienne-Manufakturen. Hugenottische Glaubensflüchtlinge brachten in den 1690er-Jahren Kapital und Know-how in das Gebiet der Alten Eidgenossenschaft. Die erste Schweizer Manufaktur entstand in Genf. Weil der König in Frankreich – zum Schutz der traditionellen einheimischen Tuchhersteller – die Produktion der farbigen Stoffe verbot, wurden Schweizer Indiennes zur begehrten Schmuggelware für den französischen Schwarzmarkt. Einheimische Unternehmer folgten dem Beispiel der Hugenotten. Neuenburg, Basel, Zürich und Glarus wurden neben Genf zu Zentren der Schweizer Indienne-Herstellung.
In Bern übergab Hieronymus Küpfer in den 1730er-Jahren die Färberei seinem Sohn Johann Friedrich Küpfer. Dieser war später Teil der sogenannten Henzi-Verschwörung, die sich gegen das regierende Patriziat auflehnte. Mindestens einmal versammelten sich die Verschwörer in Küpfers Fabrik. Mit Johann Rudolf Küpfer, er leitete eine Indienne-Manufaktur in Worblaufen, war auch der Halbbruder J. F. Küpfers beteiligt. Als der Aufstand scheiterte, wurde Johann Friedrich Küpfer auf Lebzeit aus der Eidgenossenschaft verbannt. Er gründete daraufhin 1753 im Exil in Lörrach eine neue Indienne-Manufaktur, die bald zu einer der berühmtesten in Europa wurde.
Globaler Baumwollhandel als Problem
Derweil übernahm die Gattin des Verbannten die Berner Manufaktur, später ihr ältester Sohn und nach dessen Tod bis 1769 seine Frau. Zu dieser Zeit (1764) besuchte der deutsche Adlige von Zinzendorf Bern. In seinem Reisebericht schreibt er, dass die küpfersche Fabrik 180 Angestellte habe, darunter «einen Dessinateur, der sehr geschickt ist, und 3 Formenstecher.» Insgesamt gebe es im ganzen Herrschaftsgebiet Bern neun Indienne-Manufakturen, «wovon die stärkesten die Manufacturen der Frau Küpferin und des Herrn Buret zu Schaffsheim sind.» Man rechne, so Zinzendorf, dass im Bernischen jährlich an die 80'000 Indiennes gedruckt werden.
Hinsichtlich der Verstrickung in den transatlantischen Handel mit Versklavten ist besonders interessant, was vor und nach dem Bedrucken der Indiennes passierte. Wie der deutsche Historiker Sven Beckert in seinem Werk «King Cotton» schreibt, war Baumwolle nämlich einer der ersten Rohstoffe, der global gehandelt wurde. Wo also kam sie her, die Baumwolle, die am Ende in Form von Indiennes «made in Bern» verkauft wurde?
Im Fall der Familie Küpfer ist die Quellenlage dünn. 1739 erhielt Johann Friedrich Küpfer eine Zollbefreiung «für die beschickende rohe Baumwollen Tücher (aus St. Gallen, Zürich und Luzern).» Auch der Aargau war eine wichtige Bezugsquelle für die weissen Stoffe. Von wo die Spinnereien bzw. die Webereien wiederum ihre Rohbaumwolle bezogen haben, ist schwer zu rekonstruieren. In den Quellen werden Ägypten, die Karibik und später auch die US-Südstaaten als wichtigste Anbaugebiete genannt. In diesen Gebieten wurden zumeist Versklavte unter menschenunwürdigen Bedingungen zur Arbeit in den Plantagen gezwungen. Auch Färbstoffe wie der Indigo kamen aus kolonialisierten Gebieten wie Indien, Mittelamerika oder Santo Domingo.
Indiennes und der Handel mit Versklavten
Schweizer Indienne-Produzent*innen waren aber nicht nur Einkäufer*innen von Rohstoffen aus Gebieten mit Sklaverei-Praxis. Sie waren zugleich Zulieferer*innen im transatlantischen Handel mit Versklavten. In dessen Rahmen wurden vom Anfang des 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weit mehr als 10 Millionen Menschen aus Afrika in die Amerikas verschleppt. Trauriger Höhepunkt war dabei das 18. Jahrhundert – just die Hochzeit des Schweizer Indienne-Booms.
Schweizer Handelshäuser verschifften Indiennes nach Afrika und in die Amerikas.
Schweizer Handelshäuser verschifften ihre Indiennes über die grossen Mittelmeer- und Atlantikhäfen nach Afrika und in die Amerikas. Im Gegenzug gelangte die Alte Eidgenossenschaft so an begehrte Kolonialwaren wie Zucker oder Kaffee. 1785 produzierte die Schweiz rund 8,5 Millionen Meter Indiennes, nur Frankreich (16 Millionen) und England (12,4 Millionen) produzierten mehr. Der Grossteil der Schweizer Indiennes (bis zu 95 Prozent) wurde exportiert.
Wie viele davon als Tauschware im transatlantischen Dreieckshandel, ist schwer zu belegen, da der Export stets über den Zwischenhandel im Ausland erfolgte. Unbestritten ist aber, dass Schweizer Indiennes eine Rolle spielten. Nur selten lässt sich das jedoch so genau belegen, wie im Fall der 133 Lenzburger Indiennes, die 1788 an Bord des Schiffs Seine zu afrikanischen Küstenhandelsposten transportiert und dort gegen Versklavte eingetauscht wurden. Lenzburg war damals bernisch.
Berns Handelsverbindungen ins Ausland
Über den Verkauf der küpferschen Indiennes ist wenig bekannt. Im Bericht von Zinzendorf steht lediglich, die Manufaktur habe «einen starken Verschleiss nach Wien». Küpfers waren aber nicht die einzigen, die in der Stadt Bern eine Indienne-Manufaktur führten. Über das 1710 gegründete Unternehmen von Samuel Engelhard weiss man, dass seine Indiennes «in der ersten Zeit nur nach Frankreich ausgeführt» wurden. Französische Häfen wiederum waren wichtige Ausgangspunkte im transatlantischen Handel mit Versklavten.
Engelhards Unternehmen stand im Mattequartier und war lange Zeit Berns grösste Indienne-Manufaktur. 1736 produzierte sie rund 3'000 Stück der farbigen Stoffe. Das dritte grosse Unternehmen war die Firma Morel & Co. Von ihr ist bekannt, dass ihre Produktionsstätte in Holligen stand und sie ihre Indiennes bis nach Guadeloupe auf den Antillen verschickte.
Weiter gab es in der Stadt Bern die Unternehmen Lutz & Hunziker, Flandlin & Malan, Gerber & Co. sowie jenes der Gebrüder Lauterburg. Weil diese Betriebe nur wenige Jahre existierten, ist die Quellenlage entsprechend dünn. Generell ist über die Berner Manufakturen weniger bekannt als über die deutlich grösseren Betriebe in Glarus, Genf oder Neuenburg.
Wie die Berner Indienne-Produktion ihr Ende fand
Das Beispiel der Indiennes zeigt, wie Bern und die Schweiz im 18. Jahrhundert – auch ohne eigene Kolonien – von der Ausbeutung und dem Handel mit Versklavten profitierten. Einerseits, indem Betriebe Rohstoffe bezogen, die unter menschenunwürdigen Bedingungen produziert wurden, andererseits, indem Indiennes als Tauschware im transnationalen Handelsdreieck Bern-Westafrika-Amerikas dienten. Die Obrigkeit liess die zahlreichen Privatinitiativen gewähren.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verliert die Indienne-Produktion in der ganzen Schweiz an Umfang. Hauptgrund dafür ist, dass vielerorts die Einführung des mechanischen Walzendrucks verschlafen wird. Nach einer politischen Kehrtwende des französischen Königs im Jahr 1759 hatte sich die Produktion zudem bereits früher vermehrt wieder nach Frankreich verlagert. In der Stadt Bern meldet 1784 das ehemalige Unternehmen von Samuel Engelhard Konkurs an. Und auch die Manufaktur der Familie Küpfer erlebt einen raschen Niedergang: 1777 beschäftigt sie 150 Arbeiter, die an 56 Drucktischen Indiennes produzieren. 1789 sind es bloss noch 20 Arbeiter und 6 Drucktische. Vier Jahr später wird das letzte Mal Indigo zermalmt, dann ist das Unternehmen bankrott.