«Der Freiheitsentzug birgt Gefahren»

Annette Keller war 13 Jahre lang Direktorin des Frauengefängnisses Hindelbank. Ende Mai geht sie in Pension. Wie blickt sie auf den Schweizer Strafvollzug?

Annette Keller von der JVA Hindelbank fotografiert am Mittwoch, 20. Maerz 2024 in Hindelbank. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
Annette Keller war Pfarrerin, bevor sie eine Stelle im Frauengefängnis Hindelbank antrat. (Bild: Manuel Lopez)

Hindelbank sieht erst auf den zweiten Blick aus wie ein Gefängnis. Vor allem, wenn die Sonne scheint. Das Gelände ist weitläufig. Die Insassinnen leben in Wohngruppen auf freistehende Häuser verteilt, dazwischen grünes Land, Hühner, Esel. Um alle herum spannt sich Stacheldrahtzaun.

107 Frauen sitzen hier Freiheitsstrafen und Massnahmen ab. Nachts werden sie in ihre Einzelzellen eingeschlossen. Tagsüber arbeiten sie, intern oder extern. Wenige leben mit ihren Kleinkindern in der Anstalt. Es ist die einzige Justizvollzugsanstalt für Frauen in der Deutschschweiz.

Die Gefängnisverwaltung arbeitet im Schloss, das früher die «Zwangsarbeitsanstalt für Weiber» war. Frauen wurden hier teilweise administrativ versorgt – weggesperrt ohne Gerichtsurteil, weil ihr Lebenswandel bürgerlichen Werten nicht entsprach. Annette Keller empfängt die «Hauptstadt» im Schlossgarten. Es sind die letzten Wochen vor der Pensionierung für die 63-jährige Direktorin.

Annette Keller, was macht eine Gefängnisdirektorin?

Meine Arbeit besteht zu 80 Prozent aus Kommunizieren. In Sitzungen, Gesprächen, E-Mails. Zum Beispiel mit einem der vielen Arbeitspartner im Schweizerischen Justizvollzug oder innerhalb der Sicherheitsdirektion des Kantons Bern. Ins Tagesgeschäft bin ich nur in aussergewöhnlichen Situationen involviert. 

Kennen Sie die Insassinnen persönlich?

Die allermeisten kenne ich mit Namen. Es gibt jeden Monat eine Begrüssungsrunde für neu eingetretene Frauen. Ich habe Gott sei Dank ein gutes Namensgedächtnis. Je länger die Frauen bleiben, desto besser kenne ich auch ihre Hintergründe.

Sie waren Pfarrerin, bevor Sie vor 25 Jahren eine Stelle als Betreuerin in der Justizvollzugsanstalt Hindelbank antraten. Wie hat der theologische Hintergrund Ihre Arbeit im Gefängnis geprägt?

Dass ich Pfarrerin wurde und dass ich hier so lange arbeitete, hat beides mit den Fragen zu tun, die mich schon mein Leben lang beschäftigen: Nach dem Sinn des Lebens, nach dem guten Zusammenleben, nach Gerechtigkeit und dem Umgang mit Versagen und Schuld. All diese Fragen werden im Christentum reflektiert. Und sie stellen sich auch im Gefängnis. 

In welcher Form stellen sich diese Fragen im Gefängnis?

Menschen sind hier mit ihrer eigenen Schuld konfrontiert. Und sie haben meistens selbst viel Unrecht erlebt. Die Fragen eines momentan nicht gelingenden Lebens sind im Freiheitsentzug sehr präsent. Man muss als Gesellschaft irgendwie umgehen mit Unrecht und Schuld. Da hat mir der theologische Hintergrund geholfen. Auch die christliche Haltung, dass jeder Mensch seine Würde hat, die nicht verloren geht. 

Was halten Sie davon, Menschen zu bestrafen?

Ich glaube, wir brauchen Strafen als Gesellschaft. Nur so können wir sicherstellen, dass Gesetze und Regeln gelten. Wenn man sie ohne Konsequenzen übertreten kann, gelten Regeln irgendwann nichts mehr. Schaden zufügen ruft nach einem Ausgleich. 

Was bringen Freiheitsstrafen?

Das ist eine gute Frage. Ich glaube, unsere Gesellschaft hat Freiheitsstrafen nur, weil wir noch nichts Besseres gefunden haben. 

Das sind erstaunliche Worte von einer Gefängnisdirektorin. 

Der Freiheitsentzug birgt Gefahren. Denn eigentlich ist er widersinnig: Wir nehmen Menschen aus der Gesellschaft heraus mit dem Auftrag, dass sie dabei lernen sollen, in der Gesellschaft zu leben, ohne straffällig zu werden. Selbst im Strafgesetzbuch ist die Einsicht in die Gefahren festgehalten: Das Gesetz schreibt vor, dass wir den schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs aktiv entgegenwirken müssen.

Freiheitsstrafen bringen also nichts?

So würde ich es nicht sagen. Sie haben eine generalpräventive Wirkung: Man will nicht in die Kiste kommen, also lässt man eher die Finger von kriminellen Handlungen. Und auch spezialpräventiv, also auf den betroffenen Menschen bezogen, beobachte ich immer wieder, dass Insassinnen die Strafe positiv für sich nutzen. Sie arbeiten an sich und fragen sich: Wie ist es so weit gekommen? Was muss ich tun, damit es nicht mehr so weit kommt? So kann eine Freiheitsstrafe dem Individuum auch dienen. Aber das ist nicht immer so. Eine Sucht etwa lässt sich kaum heilen mit einem Zwangsaufenthalt im Freiheitsentzug.

Was sind konkret die Gefahren des Freiheitsentzugs?

Oft gehen zum Beispiel viele Kontakte zum sozialen Beziehungsnetz verloren. Die Trennung von den eigenen Kindern wiegt für eine inhaftierte Mutter und für ihre Kinder besonders schwer. Es besteht aber auch die Gefahr, dass sich Inhaftierte an das Leben in der Anstalt gewöhnen und ihre Fähigkeiten für ein eigenverantwortliches Leben verlieren. Diesen Gefahren gilt es aktiv entgegenzuwirken.

Annette Keller von der JVA Hindelbank fotografiert am Mittwoch, 20. Maerz 2024 in Hindelbank. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
«In meiner Position bin ich immer zwischen den Fronten: Die einen sagen, es sei Kuscheljustiz und die anderen, es sei zu hart», sagt Annette Keller. (Bild: Manuel Lopez)

Welche Alternativen gibt es denn zur Freiheitsstrafe?

Gesetzlich vorgesehen sind etwa das Electronic Monitoring oder die gemeinnützige Arbeit. Beides finde ich sinnvolle Instrumente. Ausserdem gibt es das Konzept der Restaurativen Justiz, wo der Dialog zwischen den Personen, die an einer Straftat beteiligt waren, gefördert wird. Auch zwischen Tätern und Opfern. Ich habe selbst aber wenig Erfahrung damit, weil wir das in Hindelbank bisher nicht installiert haben.

In der Anstalt werden Menschen mit einer bereits verhängten Freiheitsstrafe eingewiesen. Welchen Gestaltungsspielraum haben Sie hier als Direktorin?

Der Gestaltungsspielraum ist innerhalb der Anstalt erstaunlich gross. Der Freiheitsentzug ist gesetzlich streng geregelt, was sinnvoll ist, denn er ist ein starker Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen. Aber im Rahmen dieser Vorgaben besteht Spielraum. Ich sage immer: Man kann das Gitter betrachten oder den Raum zwischen den Gitterstäben. 

Wie haben Sie diesen Spielraum genutzt?

Zum Beispiel bei der Sicherheit: Wir setzen stärker auf Sicherheit durch Beziehungsgestaltung – also durch respektvollen Umgang mit den Insassinnen – und weniger auf technische Sicherheit. Wir brauchen dadurch kaum Hochsicherheits-Massnahmen. Wir legen grossen Wert darauf, den Umgang, den wir von den Insassinnen verlangen, auch unter den Mitarbeitenden vorzuleben. Ausserdem habe ich immer versucht, den Vollzug danach auszurichten, dass die Frauen wirklich bereit sind, sich wieder zu integrieren, wenn sie entlassen werden.

Wie sieht dieser Vollzug aus?

Seit 2022 haben wir eine neue Aussenwohngruppe. Sie dient als letzte Station vor der Entlassung und ist stark auf ein normalisiertes Leben ausgerichtet: Alle Frauen arbeiten extern, haben beschränkten Zugriff auf ein eigenes Bankkonto und verpflegen sich selbst. Ausserdem haben wir eine Job-Coach eingestellt, die den Frauen hilft, eine externe Arbeit zu finden. Das ist eine Neuheit im Schweizer Strafvollzug und wir haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht. 

Sind Sie auf Widerstände gestossen, als Sie solche Ideen umsetzten?

Ja. Das hat zum Teil Überzeugungsarbeit gebraucht. Manchmal kam die Frage: Ist das denn noch Strafe? Da entgegne ich klar: Ja, ist es. Es geht hier nicht um Spass. Man ist nicht frei. Es geht um eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft, und das ist harte Arbeit. Aber heute können wir zeigen, dass es ein Erfolgsmodell ist. Unterdessen gibt es im Strafvollzugskonkordat auch einen Pilotversuch dazu. Die Idee hat sich etabliert. 

Der Strafvollzug ist ein politisch aufgeladenes Thema. Wie hat das Ihre Arbeit beeinflusst?

In den letzten Jahren ist ein Bedürfnis nach Null-Risiko aufgekommen. Bedingte Entlassungen werden später gewährt – auch bei Menschen, bei denen man schwer begründen kann, wo noch ein Risiko besteht. Manchmal ist es schwierig, einer Frau zu erklären, warum sie noch nicht bedingt entlassen wird. Ausserdem ist das mediale Interesse am Strafvollzug sehr gross. In meiner Position bin ich immer zwischen den Fronten: Die einen sagen, es sei Kuscheljustiz und die anderen, es sei zu hart.

Wie gemütlich soll eine Gefängniszelle sein?

So, dass ein Mensch jahrelang darin leben kann, ohne zu verkümmern und ohne seine Menschenwürde zu verlieren. Sonst widerspricht es dem Auftrag des Vollzugs.

Nach der Haft sollen die Verurteilten in der Gesellschaft leben, ohne wieder straffällig zu werden. Erreichen Sie dieses Ziel in Hindelbank?

Vier von fünf Frauen kommen nicht zurück in den Vollzug. Ich finde, diese Quote darf sich sehen lassen. Die, die zurückkommen, haben oft eine Suchterkrankung oder leben in Strukturen, in denen Kriminalität dazugehört. Die Statistik erfasst aber nur Frauen, die nach der Entlassung in der Schweiz bleiben. Bei vielen ist das aber nicht der Fall: 30 bis 40 Prozent der Insassinnen haben einen Landesverweis und müssen nach der Strafe die Schweiz verlassen. 

Wo besteht Reformbedarf im Schweizer Strafvollzug?

Wir müssen dringend einen Umgang mit der Digitalisierung finden. Wegen Sicherheitsbedenken sind digitale Geräte wie Mobiltelefone und Zugang zum Internet im Freiheitsentzug mehrheitlich verboten. Aber unsere Gesellschaft digitalisiert sich so rasant, dass das einen immer grösseren Einschnitt ins Leben bedeutet. Der Strafvollzug ist hier sehr rückständig: Wer sonst muss etwa heute noch Briefe schreiben als Kommunikationsmittel? Gerade bei Müttern mit Kindern wäre es sehr wertvoll, wenn sie digital den Kontakt halten könnten zu ihrer Familie. Ausserdem wird es beim Austritt immer schwieriger, den Anschluss an die digitalen Kompetenzen wiederzufinden, die in der Gesellschaft erforderlich sind. 

Annette Keller von der JVA Hindelbank fotografiert am Mittwoch, 20. Maerz 2024 in Hindelbank. (VOLLTOLL / Manuel Lopez)
«Wer sonst muss heute noch Briefe schreiben?» – In der Digitalisierung sei der Schweizer Strafvollzug sehr rückständig, findet Annette Keller. (Bild: Manuel Lopez)

Hindelbank ist ein Frauengefängnis. Wie gehen Sie mit Insass*innen um, die sich keinem Geschlecht eindeutig zuordnen? 

Gefängnisse sind eine der letzten binären Bastionen. Deshalb bleibt das eine Herausforderung. Man muss in jedem Fall individuell abwägen, was besser passt – der Männer- oder der Frauenvollzug. Leider kommt man aber oftmals zum Schluss: Es passt weder noch. Darum müssen Betroffene teilweise im Untersuchungsgefängnis bleiben, wo sie stärker isoliert sind. Seit ich in Hindelbank arbeite, hatten wir aber immer auch trans Frauen hier im Vollzug. Und einmal hat eine Person in der Anstalt die Umwandlung von Frau zu Mann vollzogen. Das war mit einem individuellen Setting ausnahmsweise möglich.

Wie unterscheidet sich der Frauen- vom Männervollzug?

Nur sechs Prozent der inhaftierten Personen in der Schweiz sind Frauen. Es gibt also nur eine Justizvollzugsanstalt für die ganze Deutschschweiz. Deshalb müssen wir hier alle verschiedenen Haftregimes vollziehen: Hochsicherheit und Kleingruppen, offenen und geschlossenen Vollzug, Massnahmen, externe Beschäftigung und Arbeitsexternat. Das ist herausfordernd, weil wir sehr individualisiert arbeiten müssen. Gleichzeitig prägt es: Therapeutische Ansätze sind zum Beispiel über alle Vollzugsformen hinweg stärker präsent. Auch eine Mutter-Kind-Abteilung gibt es nur im Frauenvollzug. 

Was kommt nach der Pensionierung?

Ich freue mich darauf, wieder mehr Einsätze als internationale Wahlbeobachterin zu machen – und im Alltag dazwischen all das neu zu entdecken, was ich schon immer gerne gemacht habe oder machen wollte. 

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Diskussion

Unsere Etikette
Peter Birrer
21. April 2024 um 18:58

"Nur sechs Prozent der inhaftierten Personen in der Schweiz sind Frauen." Sechs Prozent! Das spricht nicht unbedingt für das andere Geschlecht. Schreiben wir das mal ganz vorsichtig so.

Markus Troxler
13. April 2024 um 10:50

Die Insassinnen können von Glück reden dass Annette Keller mit ihrem Einfühlungsvermögen und ihrer Kompetenz über Jahre hinweg ihre Direktorin war.