«Ausschaffungshaft darf Menschen nicht bestrafen»
Die Rechtsprofessorin Martina Caroni ist Präsidentin der Schweizer Anti-Folter-Kommission. Haft für abgewiesene Ausländer*innen sei aus menschenrechtlicher Sicht problematisch, sagt sie im Interview.
Martina Caroni, Sie haben zuletzt im Januar 2024 das Regionalgefängnis Moutier besucht, das der Kanton Bern für Ausschaffungshaft braucht. Wie sind die Bedingungen dort?
Es ist ein Gefängnis. Vom Bau her, und auch von den Bedingungen herrschen Gefängnisstrukturen. Auch das Personal kommt eher aus dem Justizvollzug und hat ein entsprechendes Mindset. Das kann man nicht wegdiskutieren. Und das dürfte bei der Administrativhaft eigentlich nicht sein.
Warum ist es so wichtig, dass die Administrativhaft keinen Gefängnischarakter hat?
Personen in Administrativhaft haben keine Straftat begangen oder dann haben sie die bereits verbüsst. Diese Personen sind in Administrativhaft, weil sie die Schweiz verlassen müssen. Die Haft ist somit nicht strafend – das muss Auswirkungen auf die Haftbedingungen haben. Sie müssen deutlich lockerer sein als im Strafvollzug und die beiden Formen dürfen nicht vermischt werden. Das Bundesgericht hat das in den letzten Jahren auch mehrfach klargestellt.
Es ist immer noch Haft. Sie sollte aber rein administrativer Natur sein. Ist das überhaupt möglich? Kann man Menschen einsperren, ohne dass es wie eine Gefängnisstrafe wirkt?
Das Gesetz sieht es so vor. Menschenrechtlich haben wir aber grosse Bedenken, dass der Staat überhaupt Personen wegen ihres Aufenthaltsstatus inhaftiert. Es ist ein massiver Eingriff in ihre Rechte. Wenn, darf die Haft nur als absolut letztes Mittel eingesetzt werden. Sie darf die Leute eigentlich nicht «bestrafen». Beispielsweise fordert die NKVF, dass es in der ausländerrechtlichen Administrativhaft keine Arreststrafen mehr gibt. Wenn Disziplinarstrafen notwendig sind, dann sollen diese anders erfolgen als Einzelhaft für ein paar Tage.
Martina Caroni (56) ist Professorin für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Luzern. Seit 2023 ist sie Präsidentin der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF).
Die Kommission ist behördenunabhängig und hat den gesetzlichen Auftrag, regelmässig Hafteinrichtungen zu besuchen und auf die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte hin zu überprüfen. Sie begleitet auch Ausschaffungsflüge. Aus den Beobachtungen formuliert sie Berichte mit Empfehlungen an die Behörden. Der neuste Bericht der NKVF zur Administrativhaft im Kanton Bern nach einem Besuch im Regionalgefängnis Moutier ist von 2024.
Das Gesetz erlaubt es auch Minderjährige zu inhaftieren. Die NKVF fordert aber, dass die Schweizer Behörden das nicht mehr tun.
Das sind Kinder. Bis 18 Jahre gilt die Kinderrechtskonvention. Das heisst, Behörden müssten im Umgang mit ihnen immer das überwiegende Kindesinteresse an erste Stelle setzen. Darum dürften sie kein Kind einsperren, weil es kein Aufenthaltsrecht hat. Man muss sich vorstellen: Was macht eine Haft mit einem Kind? Ist in diesem Zusammenhang die Verhältnismässigkeit der Haft gegeben?
Der Kanton Bern stellt sich auf den Standpunkt: Das Gesetz sieht es so vor.
Das Gesetz erlaubt es. Aber es sagt nicht, die Behörden müssen es tun. Andere Kantone setzen das Gesetz in der Praxis nicht um.
Recherchen der «Hauptstadt» zeigen: Die Bundesbehörden wissen nicht, wie viele Kinder die Schweiz einsperrt. Denn nicht alle Kantone geben ihre Daten zu kurzfristigen Festhaltungen an den Bund weiter. Was sagen Sie dazu?
Die NKVF kennt die Abmachungen zwischen Bund und Kantonen betr. Statistiken nicht und kann sich somit nicht äussern, weshalb welche Daten nicht weitergegeben werden. Aus einer menschenrechtlichen Sicht ist es wichtig, dass detailliert erfasst wird, wie oft Kinder inhaftiert werden zu ausländerrechtlichen Zwecken.
Wie gross ist der Spielraum der Kantone bei der Administrativhaft? Sie sind zuständig, das Bundesrecht umzusetzen.
Das ist der Klassiker im Migrationsrecht. Wir haben 26 Kantone und ungefähr 26 Ansätze. Wir wissen, es gibt Unterschiede. Aber wir haben nicht wirklich den Überblick. Ich kann auch nicht sagen, wo der Kanton Bern im Vergleich einzuordnen ist.
Das zeigte sich auch bei den Recherchen der «Hauptstadt». Die Datenlage ist unübersichtlich und verlässliche Vergleiche zwischen den Kantonen gibt es kaum. Ist das nicht problematisch bei einem so heiklen Thema wie Haft?
Ja, aber die kantonale Vollzugskompetenz ermöglicht es auch, dass gute Praktiken entwickelt werden können. Wenn zum Beispiel ein Kanton in der Praxis keine Kinder in ausländerrechtliche Haft nimmt, dann kann diese Handhabung anderen Kantonen aufgezeigt werden. Die Umsetzung ist eine Frage des politischen Willen.
In den letzten Jahren hat das Bundesgericht mehrmals entschieden, dass die Bedingungen in der Ausschaffungshaft besser werden müssen. Die NKVF schreibt in ihren Berichten, die Haft befinde sich deshalb in einer Umbruchphase. Dabei gibt es diese Haft seit 1994. Warum müssen Gerichte die Behörden jetzt zurückpfeifen?
Das Gesetz ist relativ offen formuliert. Und lange Zeit gab es wenige Beschwerden. Es braucht auch Anwältinnen und Anwälte, die diese einreichen. Es könnte sein, dass in den letzten Jahren mehr Menschenrechtsorganisationen sich dem Thema angenommen haben. Jetzt hat das Bundesgericht zum Beispiel zu Recht klargestellt: Es braucht eine gesonderte, spezifische Haftanstalt. Eine Einrichtung, die nur für diesen Zweck besteht. Ohne Vermischung mit anderen Haftformen. Aber die Umsetzung ist langsam.
Der Kanton Bern schliesst Ende Jahr das Regionalgefängnis Moutier und bringt die Administrativhaft nach Witzwil. Witzwil ist auch eine Justizvollzugsanstalt. Was sagen Sie dazu?
Ich weiss nicht, was der Kanton genau plant. Deshalb kann ich mich noch nicht dazu äussern.
Aber der Ort steht schon fest: Es wird in einem Gefängnis sein.
Die Kommission hat das Gefängnis Sion besucht. Die ausländerrechtliche Administrativhaft ist in einem neuen Gefängnis untergebracht. Das könnte dem Kanton Bern ein paar Hinweise geben, ob das gut ist oder nicht.
Im Bericht zu Sion bezeichnet die NKVF den Entscheid, die Ausschaffungshaft im gleichen Gebäudekomplex wie das Gefängnis unterzubringen, als nicht kompatibel mit den rechtlichen Vorgaben und als «verpasste Gelegenheit, die Administrativhaft grundlegend zu reformieren». Wie müsste die Haft denn idealerweise aussehen?
Im Ausland gibt es Anstalten, die viel offener sind, zum Beispiel in Deutschland und Österreich. Das Areal kann nicht verlassen werden und ist kontrolliert, aber innerhalb ist der Alltag nicht wie in einem Gefängnis strukturiert, sondern wie in einer Unterkunft. Aber es ist keine einfache Aufgabe, eine Haft so auszugestalten, dass sie nicht wie Haft wirkt. Wichtig ist deshalb auch, dass sie nur im Notfall überhaupt angeordnet wird.
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Diese Recherche wurde mit Unterstützung von JournaFONDS realisiert.
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