Kinder ohne Zukunft

Für Kinder gilt der Aufenthaltsstatus ihrer Eltern – auch, wenn er fehlt. Im Kanton Bern leben über 100 Kinder in der Nothilfe. Ihre Lebensumstände sind belastend.

Firooze Miyandar fotografiert am Dienstag, 29. Oktober 2024 in Aarwangen. (VOLLTOLL / Jana Leu)
Firoozeh Miyandar lebt mit ihrem zehnjährigen Sohn im Rückkehrzentrum Aarwangen. Sie engagiert sich auch politisch für die Rechte von Kindern in der Nothilfe. (Bild: Jana Leu)

An einem Morgen im Spätherbst führt Firoozeh Miyandar in den Besuchsraum des Rückkehrzentrums Aarwangen. Dem Raum nach zu urteilen, sind Besucher*innen hier nicht sonderlich willkommen: Er gleicht einer grossen Abstellkammer, vollgestellt mit ausrangierten Schliessfächern und anderem Kram. Doch aufs Zimmer, das Miyandar gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihrem 10-jährigen Sohn bewohnt, darf sie mich nicht mitnehmen – dort sind externe Besucher*innen nicht erwünscht. 

Firoozeh Miyandar verbringt ihre Nächte oft in diesem Besuchsraum. «In der Nacht», sagt sie, «sind im Zentrum viele Leute wach.» Man treffe einander in der Dunkelheit, jeder für sich auf ziellosen Spaziergängen. «Die Leute sitzen draussen, rauchen. Unsere psychischen Schwierigkeiten lassen uns nicht schlafen.» 94 Personen leben hier, 38 davon minderjährig.

Wenn Miyandar nicht schlafen kann, setzt sie sich hier an den langen Tisch mit den ranzigen Stühlen und lernt Deutsch.  

Die 37-jährige Iranerin spricht die Sprache fliessend, obwohl sie bei ihrer Ankunft in der Schweiz vor zwei Jahren noch nicht einmal das lateinische Alphabet kannte. Seit kurzem hat sie ein B2-Sprachzertifikat in der Tasche. 

Miyandar hat an einer renommierten iranischen Universität studiert. Danach führte sie in ihrer Heimat eine eigene Praxis als Physiotherapeutin. «Meine Zertifikate waren in der Schweiz schon fast anerkannt», erzählt sie. Eine Praxis in Zollikofen hätte sie einstellen wollen. 

Doch im März dieses Jahres kam der negative Asylentscheid. Als abgewiesene Asylsuchende würde die Familie fortan von der Nothilfe leben müssen: 10 Franken pro Tag und Person, striktes Arbeitsverbot und der erzwungene Umzug von einer Kollektivunterkunft in Zollikofen in ein Rückkehrzentrum. 

«Wir Eltern sind ein Filter»

Firoozeh Miyandar und ihr Mann sind Sufis, im Iran eine religiöse Minderheit. Dass sie überwacht wurden, Männer unangemeldet in ihre Praxis kamen und sämtliche Kameras mitnahmen, sie polizeilich vorgeladen wurden – all das gehörte in der Heimat seit einiger Zeit zu ihrem Leben. 

Doch die Probleme mit dem Geheimdienst, erzählt sie, seien immer grösser geworden. Bis die Beamten anfingen, ihren Mann über Nacht auf der Station zu behalten. Und bis schliesslich vier oder fünf Männer unangekündigt in ihrer Praxis auftauchten und alles zerstörten. Einer schleuderte sie, die im dritten Monat schwanger war, gegen Wand und Tisch. Sie verlor das ungeborene Kind. Das habe den Ausschlag gegeben, das Land zu verlassen. 

«Wir besorgten uns ein Touristenvisum auf der erstbesten Botschaft, die geöffnet war», sagt sie. Es war die schweizerische. 

So erzählt sie es heute, und so hat sie es auch den Schweizer Asylbehörden dargelegt. Diese sahen die Geschichte der Familie als nicht genügend erwiesen an und lehnten das Asylgesuch ab.

Firooze Miyandar fotografiert am Dienstag, 29. Oktober 2024 in Aarwangen. (VOLLTOLL / Jana Leu)
Im Rückkehrzentrum Aarwangen sind knapp 100 Personen untergebracht. 38 davon sind Kinder und Jugendliche. (Bild: Jana Leu)

Firoozeh Miyandar erzählte ihrem Sohn nicht sofort die ganze Wahrheit vom negativen Entscheid. «Wir Eltern sind auch ein Filter», sagt sie. «Wir versuchen, die Welt für ihn ein bisschen zu verschönern. Wir informieren ihn, aber leichter. Nicht so unangenehm und bitter, wie es in Wahrheit ist.»

Es dauerte trotzdem nicht lange, bis er wusste, dass sie nicht wie manche seiner Freunde in eine Wohnung ziehen würden, sondern in ein anderes, schlechteres Zentrum. Und dass er auch die Schule würde wechseln müssen. Es belastete ihn stark, sagt die Mutter. «Er gab uns teilweise die Schuld dafür. Er fand, wir hätten beim Asylantrag unsere Aufgabe nicht gut gemacht. Er ist eigentlich ein herzlicher Junge. Aber er war sehr gestresst.»

Im Juli musste die Familie nach Aarwangen umziehen. Miyandars geplante Anstellung als Physiotherapeutin wurde gestoppt. Sie versucht sich trotzdem weiterhin einen Alltag zu gestalten: engagiert sich freiwillig, gibt in der Kirchgemeinde nebenan einen Deutschkurs, joggt durch die Wälder, bringt sich das politische System der Schweiz bei. Vor allem versucht sie, ihrem Sohn eine gute Mutter zu sein. 

«Aber es ist nicht einfach», sagt sie. Sie hat im Internet lange nach dem deutschen Wort gesucht, das die Lebensbedingungen in der Nothilfe in ihren Augen treffend beschreibt: «Zermürbend.»

«Kinder sind an dieser Situation völlig unschuldig», sagt sie. «Trotzdem wird ihnen vom Staat keine Zukunft gezeigt.» 

Druckmittel Nothilfe

Schweizweit leben per Ende 2023 rund 4’000 Personen im Nothilfesystem. 774 davon sind Kinder. 

Die Nothilfe ist das grundrechtlich garantierte Minimum, das die Schweiz allen hier lebenden Menschen gewährleisten muss: Eine Unterkunft, meist in sogenannten Rückkehrzentren, die obligatorische Krankenversicherung sowie rund 10 Franken pro Tag, die für Essen, Hygiene, Fortbewegung und alles andere reichen müssen. Es gilt ein striktes Arbeitsverbot, auch Integrations- und Beschäftigungsangebote gibt es nicht. In Rückkehrzentren sind Bewohner*innen zwar nicht inhaftiert, in der Regel müssen sie jedoch einmal pro Tag mittels Unterschrift ihre Anwesenheit bestätigen. 

In diesem System landen Personen, die rechtlich verpflichtet sind, die Schweiz zu verlassen und in ihren Herkunftsstaat zurückzukehren. Meistens, weil ihr Asylgesuch abgewiesen wurde.

Enggistein Rückkehrzentrum Reportage 24.06.2022
Archivbild von einem Medienanlass nach der Eröffnung des Rückkehrzentrums Enggistein 2022: Pro Familie steht ein Zimmer zur Verfügung. (Bild: Talal Burger)

Für Kinder gilt automatisch der Aufenthaltsstatus ihrer Eltern. Selbst wenn sie in der Schweiz geboren werden, gelten sie per Geburt als «Abgewiesene» – und finden sich im gleichen repressiven System wie ihre Eltern wieder. 

Das Nothilfesystem soll Druck aufsetzen. Mit Lebensumständen, die so unbequem wie möglich sind, wollen Behörden die Personen zur Ausreise bewegen. Denn nicht immer können sie zwangsweise ausgeschafft werden, etwa weil mit dem Herkunftsstaat kein Rückübernahmeabkommen besteht. 

Strukturen belasten die Gesundheit der Kinder massiv

Die Eidgenössische Migrationskommission (EKM) hat in einer Studie erstmals schweizweit die Situation von diesen Kindern und Jugendlichen systematisch untersucht. 

Der Befund ist eindeutig: Die Kinder und Jugendlichen im Nothilfesystem seien in ihrer Gesundheit, ihrem Wohl und ihrer Entwicklung gefährdet. 

Als «besonders besorgniserregend» bezeichnen die Autor*innen den schlechten psychischen Zustand der Kinder. Die Strukturen in der Nothilfe belasten laut Studie die psychische Gesundheit massiv: Die Kinder sind in Unterkünften traumatisierenden Erlebnissen ausgesetzt, wohnen meist mit der ganzen Familie in einem einzigen Zimmer, werden separat beschult und haben kaum soziale Kontakte. 

Die Folgen seien Isolation, Perspektivenlosigkeit und Ohnmacht. Die EKM fordert Massnahmen auf allen politischen Ebenen.

Ein Rechtsgutachten kommt zum Schluss, dass die Lebensbedingungen der betroffenen Kinder nicht mit der Bundesverfassung und der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar seien. «Kinder brauchen mehr als das, was für das blosse biologische Überleben nötig ist», schreiben die Autor*innen. Etwa soziale Teilhabe und Freizeitbeschäftigungen. 

Um die Kinderrechte zu wahren, so das Fazit des Gutachtens, müssten Behörden das Wohl der Kinder bei migrationsrechtlichen Entscheiden ins Zentrum stellen – und nicht das reine Interesse daran, dass die Personen das Land verlassen.

Im Kanton Bern leben aktuell 538 Personen im Nothilfesystem, davon sind 113 minderjährig. Der Kanton Bern beherbergt damit im Vergleich zu anderen Kantonen sehr viele Personen in der Nothilfe – prozentual waren es zum Zeitpunkt der Studie am drittmeisten Kinder. 

Aktuell gibt es sechs Rückkehrzentren im Kanton, darunter die temporäre, unterirdische Unterkunft in Bern-Brünnen, die eigentlich Ende 2024 hätte schliessen müssen. 

Drei Zentren sind speziell für Familien und Frauen vorgesehen: Aarwangen, Enggistein und Bellelay. Der Kanton gibt gegenüber der «Hauptstadt» an, Kinder nur in diesen Zentren unterzubringen und nicht in gemischten Unterkünften.

Ausschaffungen, Polizei und Gewalt in den eigenen vier Wänden

Ende Oktober erzählt Firoozeh Miyandar am Telefon, es sei an diesem Tag besonders schwierig im Rückkehrzentrum Aarwangen. Am Morgen habe die Polizei eine afghanische Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern geholt. «Niemand wusste davon, die Polizei ist frühmorgens im Zentrum aufgetaucht.» Das zuständige Amt für Bevölkerungsschutz des Kantons Bern bestätigt die Ausschaffung der Familie gegenüber der «Hauptstadt». 

Nur einen Tag später ruft eine Freiwillige an, die das Rückkehrzentrum in Enggistein regelmässig besucht. Auch dort ist vor wenigen Stunden eine hochschwangere Frau polizeilich festgenommen und, so bestätigt es wiederum der Kanton, nach Italien überstellt worden.

Zwangsweise Ausschaffungen sind Extremsituationen, die oft unter hohem Polizeiaufgebot durchgeführt werden. Sie erfolgen in der Regel ohne Vorankündigung der betroffenen Personen, die in den Rückkehrzentren festgenommen und abtransportiert werden – vor den Augen der übrigen Bewohnenden. 

In der Studie der EKM werden Ausschaffungen als ein potenziell traumatisches Erlebnis aufgeführt, das Kinder in Nothilfestrukturen regelmässig mitbekommen. Andere sind Gewalt unter Bewohnenden, Polizeieinsätze oder gar Suizidversuche bis hin zu vollendeten Suiziden. Fast ein Drittel der untersuchten Kinder und Jugendlichen hatten laut der Studie innerhalb eines Jahres einen Suizid von Bewohnenden oder der eigenen Eltern miterlebt.

Hinzu kommt oft die bereits bestehende psychische Belastung der Kinder und ihrer Eltern durch Erlebnisse auf der Flucht oder im Heimatland. 

Firoozeh Miyandars Sohn nässt wieder das Bett, seit die Familie in die Schweiz geflüchtet ist. «Er hat Albträume», sagt Miyandar. Nach 16 Monaten Wartezeit erhielt er vor einem Jahr einen Therapieplatz im Ambulatorium für Folteropfer des Schweizerischen Roten Kreuzes. Etwa alle drei Wochen besucht er eine Therapie. «Das ist sehr gut», sagt Miyandar. Es gehe ihm besser. «Aber sobald etwas Neues kommt, wie der Umzug oder der negative Entscheid, ist er wieder gestresst.»

Kein Teil der Gesellschaft

In der Schweiz muss jedes Kind die obligatorische Schule besuchen. Das gilt auch für Kinder in der Nothilfe. 

Aus dem Besuchsraum im Rückkehrzentrum Aarwangen sieht man die Schule durchs Fenster. Sie steht nur einen Steinwurf entfernt vom baufälligen Gebäude, in dem sich das Rückkehrzentrum befindet. Die Schule wird ausschliesslich für die Kinder aus dem Zentrum betrieben. 

Kinder, die noch nicht gut Deutsch sprechen, erhalten dort vorbereitenden Unterricht durch eine Lehrerschaft der Bildungs- und Kulturdirektion. Das teilt der Kanton mit. Sobald die Kinder aber fit für die Regelschule seien, besuchten sie diese. In allen anderen Zentren des Kantons besuchen Kinder nach Angaben des Kantons direkt Regelschulen.

Firooze Miyandar fotografiert am Dienstag, 29. Oktober 2024 in Aarwangen. (VOLLTOLL / Jana Leu)
Firooze Miyandar war vor ihrer Flucht selbständige Physiotherapeutin. Nach dem negativen Asylentscheid darf sie in der Schweiz nicht arbeiten. (Bild: Jana Leu)

Firooze Miyandar sagt: «Mein Sohn wollte unbedingt in die normale Schule mit den anderen Kindern.» Das hat nach einigem organisatorischem Aufwand geklappt. Er geht nun, wie zuvor in Zollikofen, in die reguläre vierte Klasse im Dorf. Miyandar sieht die separate Beschulung kritisch – wie auch die Autor*innen der EKM-Studie. «Wenn Kinder im Zentrum zur Schule gehen, sind sie sozial noch isolierter», sagt die Mutter. 

Denn auch Beschäftigungsprogramme, etwa in Sportvereinen, sind für Kinder in der Nothilfe nicht vorgesehen. Sie sind zwar nicht verboten – aber Ausrüstung, Mitgliederbeiträge oder ÖV-Tickets für die Anreise sind mit einem Nothilfe-Budget kaum zu bezahlen. Ausserdem befinden sich Rückkehrzentren oft an abgeschiedenen Orten.

In Aarwangen greift eine örtliche Kirchgemeinde den Familien manchmal für solche Ausgaben unter die Arme. Dank ihr besucht Miyandars Sohn jetzt einen Fussballverein. «Ohne die Kirche würde das nicht gehen», sagt sie.

Nach der Schule kommt nichts

Das Schulobligatorium endet mit der neunten Klasse. Was danach kommt, ist für viele Jugendliche in der Nothilfe völlig unklar. Denn wie ihre Eltern dürfen sie in der Schweiz nicht arbeiten. 

Wenn also in Oberstufenklassen die Berufswahl auf dem Programm steht, wenn Bewerbungsschreiben geübt und Berufswahlmessen besucht werden, dann können diese Kinder eigentlich nicht mitmachen. Ganz egal, wie gut ihre Schulnoten sind.

Weiterführende Schulen wie ein Gymnasium zu besuchen, ist zwar nicht verboten, wird aber auch nicht aktiv unterstützt. Eine Berufslehre gilt jedoch als Arbeit und ist grundsätzlich nicht erlaubt. Unter bestimmten Umständen können Jugendliche mit einem Härtefallgesuch eine Bewilligung für eine Berufslehre erhalten. 

Im Kanton Bern besuchen einzelne Jugendliche eine weiterführende Schule. Zur Berufslehre schreibt der Kanton: «Grundsätzlich gilt: Bei einem rechtskräftig abgewiesenen Asylgesuch muss man die Schweiz verlassen und darf nicht arbeiten, also auch keine Lehre machen.»

Die Jugendlichen sind in dem Fall ab dem Moment des Schulabschlusses gleichgestellt wie ihre Eltern: Dazu angehalten, den ganzen Tag nichts zu tun. 

Laut Kanton befinden sich in Bern etwa ein Dutzend Jugendliche unter 18 Jahren in dieser Situation. Sie sind mit der obligatorischen Schule fertig und haben keine Anschlusslösung.

Die «Berufsbiographie» der Jugendlichen, heisst es in der Studie der EKM, werde dadurch schwerwiegend beeinträchtigt. Und das Wegfallen von Alltagsstruktur, sozialer Teilhabe und Zukunftsperspektiven stelle ein hohes Entwicklungsrisiko dar.

Ein Dauerzustand

Die beschriebenen Lebensumstände sind unangenehm, aber irgendwie aushaltbar, wenn sie für kurze Zeit gelten. Das impliziert der Begriff «Rückkehrzentrum»: Dass die Nothilfe eine Zwischenlösung ist, bevor Menschen in ihren Herkunftsstaat zurückkehren.

Doch die Realität sieht anders aus. Viele Personen befinden sich über lange Zeit in diesem System. Im Kanton Bern leben fast 300 Personen seit mehr als einem Jahr in der Nothilfe. Fast 100 davon seit über fünf Jahren.

Schweizweit befinden sich etwa 60 Prozent der Kinder seit mehr als einem Jahr in diesem System. Das teilt das Staatssekretariat für Migration auf Anfrage mit. Und gemäss der Studie der EKM lebten im Jahr 2022 17 Prozent der Kinder bereits drei bis vier Jahre in der Nothilfe, und jedes fünfte Kind seit mehr als vier Jahren. 

Ein Zimmer pro Familie und so etwas wie Alltag

Es ist der 6. Dezember. Ursula Fischer besucht, wie allen paar Wochen, das Rückkehrzentrum Enggistein. Die Lehrerin aus Thun stapft das steile Strässchen hoch zum abgelegenen Gutshof, der 2022 zum Rückkehrzentrum für Frauen und Familien umfunktioniert wurde. In beiden Händen trägt sie Taschen mit Mandarinen, Süssigkeiten und Bastelzeug. 

Enggistein Rückkehrzentrum Reportage 24.06.2022
Beherbergt aktuell 64 Personen, davon 23 Kinder: Das Rückkehrzentrum in Enggistein bei Worb (Archivbild von 2022). (Bild: Talal Burger)

Es kommen vereinzelt Leute entgegen, meist Jugendliche. Fischer grüsst alle mit Namen, erkundigt sich nach der Familie, der Schule, den Neuigkeiten im Leben der Zentrumsbewohner*innen. Die 62-Jährige engagiert sich seit acht Jahren als Freiwillige für Menschen ohne Aufenthaltsrecht in der Region Bern.

Verglichen mit Aarwangen ist der Aufenthaltsraum des Rückkehrzentrums Enggistein hell und gemütlich, die Wände wirken frisch gestrichen, es gibt Zimmerpflanzen und am Fenster steht ein prächtiger Plastik-Weihnachtsbaum, reich geschmückt mit allerlei Selbstgebasteltem. 

Der Raum füllt sich sofort mit einer Horde Kindern, als Ursula Fischer ihre Mitbringsel auspackt. Sie sind in Aufregung: der Samichlaus, wie sie lautstark erklären, muss am frühen Morgen im Zentrum gewesen sein. Er hat ihnen Süsses in den Schuhen versteckt. Sämtliche Kinder sprechen fliessend Deutsch. Manche von ihnen sind hier geboren.

Zwei Mitarbeiterinnen des Zentrums gesellen sich dazu. Die jungen Frauen gehen vertraut mit den Kindern um, eine flechtet einem Mädchen die Haare, nebenbei weist sie einen Jungen zurecht, sich nicht auf den Tisch zu setzen. Auch die Überraschung mit dem Samichlaus haben sich die Mitarbeiterinnen ausgedacht. «Sie tun, was sie können», sagt Ursula Fischer später.

Drei Bewohnerinnen setzen sich an den Tisch, eine bringt Tee. Zwei von ihnen kennen sich seit sechs Jahren, sie haben zuvor schon zusammen in Biel gelebt. Sie sprechen darüber, wie ringhörig es hier im Haus ist. Wie alle alles mitbekommen. Jede Familie teilt sich ein Zimmer: zu fünft, zu siebt, zu sechst. 

64 Personen sind momentan in Enggistein untergebracht, davon 23 Kinder und Jugendliche.

Ein 26-jähriger Mann setzt sich aufs Sofa im Aufenthaltsraum, neben ihm sein 19-jähriger Bruder. Sie sind seit ein paar Monaten hier: zwei erwachsene Söhne und eine erwachsene Tochter, die Eltern und die Grossmutter – alle in einem Zimmer. «Wir hätten gerne unsere Ausbildungen weitergemacht, aber das dürfen wir nicht», sagt der ältere Bruder. Er hätte an der Hochschule Luzern ein Studium beginnen können, der Jüngere hat kürzlich das zehnte Schuljahr abgeschlossen. «Jetzt tun wir nichts», sagt er. Er erzählt von anderen Jugendlichen im Zentrum, denen es gleich geht. 

Am späteren Nachmittag, zurück an der Bushaltestelle, spricht Ursula Fischer mit einer Frau, die ein Kleinkind an der Hand hält. Auch sie wohnt in Enggistein. Sie ist auf dem Weg, ihren 13-jährigen Sohn zu besuchen – er ist in einer psychiatrischen Klinik. «Auch das», sagt Fischer, «gehört hier zum Alltag.» 

Politiker*innen fordern Wohnungen für Familien

Im Nachgang der Studie der Migrationskommission fordern im Grossen Rat des Kantons Bern mehrere Politiker*innen bessere Bedingungen für Kinder in der Nothilfe. Mit drei Motionen verlangen sie eine Verbesserung der Wohnsituation, altersgerechte Tagesstrukturen und eine bessere Gesundheitsversorgung. Ausserdem soll der Regierungsrat die Einhaltung der Kinderrechte im Asyl- und Nothilfesystem generell überprüfen.

Enggistein Rückkehrzentrum Reportage 24.06.2022
In einigen Kantonen werden Familien generell in Wohnungen untergebracht. SP-Grossrätin Karin Berger-Sturm fordert das auch für Bern. (Bild: Talal Burger)

Mitinitiatorin und SP-Grossrätin Karin Berger-Sturm sagt: «Die Studie zeigt klar auf, dass Familien nicht in Rückkehrzentren wohnen können. Es ist unbestritten, dass dieses Umfeld den Kindern effektiv schadet.»

Sie fordert, dass Familien im Kanton Bern grundsätzlich in Wohnungen untergebracht werden, wie dies zum Beispiel im Kanton Waadt der Fall ist. «Auf Bundesebene sind die gesetzlichen Grundlagen dafür vorhanden», sagt sie. «Der Kanton Bern sollte seinen Spielraum nutzen.» 

Kanton Bern: «Die Situation ist bereits verbessert»

Wie beurteilen die zuständigen kantonalen Behörden die Situation?

Der Kanton habe die Situation von Kindern und Jugendlichen in der Nothilfe in den letzten Jahren bereits verbessert, teilt das Amt für Bevölkerungsschutz auf Anfrage mit. Dies, weil es seit 2022 Unterkünfte für Familien und Frauen gebe, wo den Kindern auch Spiel- und Rückzugsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. Ausserdem seien die Nothilfegelder von 8 auf 10 Franken pro Tag erhöht worden.

Man habe die Studie und die Forderungen zur Kenntnis genommen. Der Regierungsrat prüfe und beantworte nun die politischen Vorstösse.

Auf den Befund des Rechtsgutachtens, dass die Lebensumstände gegen Kinderrechte verstossen, entgegnet die Behörde: «Die Studie untersucht die Gesamtsituation der Schweiz. Sie enthält keine Aussagen, dass im Kanton Bern die Rechte von Kindern in der Nothilfe verletzt würden.»

Ein Treffen mit dem Gemeindepräsidenten

In Aarwangen spaziert Firoozeh Miyandar zum Bahnhof. Ein paar Kinder aus dem Zentrum düsen auf Trottinetten an ihr vorbei. Sie müssen nach dem Mittagessen wieder zur Schule. «Mein Sohn kommt zu spät», sagt Miyandar besorgt. «Sein Trottinett ging heute kaputt.»

Firoozeh Miyandar hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Situation der Schweiz verständlich zu machen. An der nächsten Session des Schweizer Flüchtlingsparlaments wird sie die Kommission für Kinderrechte leiten. Sie will sich dabei auf Kinder in der Nothilfe fokussieren. 

Über eine Bekannte liess sich Miyandar auch mit dem Gemeindepräsidenten von Aarwangen in Verbindung setzen. Er willigte ein, sie bald zu treffen. Sie will mit ihm über die Schule sprechen, über Beschäftigungen für die Kinder und einen möglichen Schulbus. 

«Irgendetwas müssen wir tun, damit unsere Kinder eine Zukunft haben», sagt sie. «Denn solange sie hier sind, sind es die Kinder der Schweiz. Auch wenn die Schweiz sie nicht will.»

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Diskussion

Unsere Etikette
Adrian Hartmann
27. Dezember 2024 um 21:15

Danke für diesen Artikel. Es ist super, dass die Hauptstadt an diesem Thema dranbleibt und offensichtlich auch das Vertrauen der Betroffenen gewonnen hat. Mir fällt schwer zu verstehen, weshalb wir Menschen - ein Fünftel gar Kinder - jahrelang in solchen Verhältnissen dahinvegetieren lassen. Was ist der Nutzen, gegenüber dieser kleinen Gruppe (4000 Menschen auf eine Bevölkerung von 9 Mio!) eine dermassen unverhältnismässige Härte zu demonstrieren?

Rudolf Alther
27. Dezember 2024 um 08:52

Als Schweizer schäme ich mich über die Art und Weise wie wir unser politisches System in den vergangen Jahren zu "Switzerland first" umbauten

Christoph Klopfenstein
24. Dezember 2024 um 10:48

Die humanitäre Tradition der Schweiz: Beobachten und maximal das Minimum tun?