Krieg im Kopf
Fast die Hälfte der in die Schweiz geflüchteten Menschen ist traumatisiert. Das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer in Wabern behandelt besonders schwere Fälle.
In der Schweiz leben etwa 200'000 Personen, die hier irgendwann ein Asylgesuch gestellt haben. Studien zufolge kämpfen 40 bis 50 Prozent von ihnen mit psychischen Problemen, die auf Traumata zurückgehen (oder haben damit gekämpft).
1995 startete das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) in Bern als Pilotprojekt ein Therapiezentrum für Folteropfer. Eine Studie hatte zuvor ergeben, dass jede vierte Person, die damals in der Schweiz als Flüchtling anerkannt war, Folter erlebt hatte.
Heute heisst die Institution Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK und liegt in Wabern.
Pro Jahr behandeln Psychiater*innen, Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen hier etwa 215 Menschen – Erwachsene und Kinder. Sie leiden unter schweren Folgen von Traumata, die sie aufgrund von Folter, Krieg und Flucht erlitten haben.
Neben dem Ambulatorium in Wabern gibt es in der Schweiz vier weitere Zentren mit vergleichbaren Angeboten. Zusammen bilden sie den Verbund «support for torture victims» und behandeln etwa 1’100 Personen jährlich.
Christine Heller leitet das Ambulatorium in Wabern seit zweieinhalb Jahren. «Nicht alle traumatisierten Menschen brauchen eine Therapie, wie wir sie anbieten», sagt sie. «Aber die Zahlen zeigen trotzdem: Der Bedarf ist viel grösser als unser Angebot.»
Das Ambulatorium muss immer wieder Aufnahmestopps verhängen. Auch aktuell nimmt es keine neuen Patient*innen auf. «Es fehlt an beidem: Fachkräften und Ressourcen», sagt Christine Heller. Einige der 16 Vollzeitstellen, die die Institution finanzieren könnte, sind vakant. Das ist angesichts des Fachkräftemangels in der Psychiatrie nicht erstaunlich. Doch selbst wenn die Stellen besetzt wären, könnten sie den Bedarf nach Therapien nicht abdecken, sagt Heller.
Kontrollverlust und Lebensstress
In Wabern landen nur komplexe Fälle. Menschen, die in ihrem Alltag stark eingeschränkt sind durch die Folgen von traumatischen Erlebnissen in ihrem Heimatland, im Krieg oder auf der Flucht, werden von Ärzt*innen an das Ambulatorium überwiesen. Dort führen Fachpersonen zusammen mit interkulturellen Dolmetschenden ein Erstgespräch.
Das Ambulatorium ist auf Menschen ausgerichtet, die keine Schweizer Landessprache beherrschen. «Die Arbeit mit Dolmetschenden ist bei uns zentral», sagt Heller. Denn sprachliche und kulturelle Hürden seien bei der sonstigen Gesundheitsversorgung – besonders im psychotherapeutischen Bereich – eine grosse Herausforderung. Die Leistungen von Dolmetschenden werden nicht von der Krankenkasse übernommen, und private Praxen könnten sich kaum leisten, sie beizuziehen, sagt Heller.
Wer nach dem Erstgespräch in ein Therapieprogramm aufgenommen wird, erhält eine spezifische Behandlung, die nicht nur psychotherapeutisch und psychiatrisch, sondern auch sozialarbeiterisch ausgerichtet ist.
Mirjam Ringenbach leitet das Sozialberatungsteam. «Ein Trauma bedeutet kompletten Kontrollverlust», sagt sie. «Es ist erwiesen, dass Stress und Unsicherheit im Leben danach ein grosser Risikofaktor für Folgeerkrankungen ist.»
Bei Geflüchteten sind solche Risikofaktoren fast schon vorprogrammiert. Einerseits durch die Flucht selbst, die Monate bis Jahre dauern und an sich traumatisch sein kann. Aber auch durch die Lebensumstände in der Schweiz: Kein soziales Umfeld, Unsicherheit über den Ausgang des Asylverfahrens, Kollektivunterkünfte ohne Rückzugsmöglichkeiten, keine Tagesstruktur.
Die Sozialberatung soll helfen, diese Stressfaktoren zu reduzieren. «Wir können zum Beispiel für eine Frau, die sexuelle Gewalt erlebt hat, eine Unterkunft suchen, die sie nicht primär mit Männern teilen muss», erklärt Ringenbach. «Solche Faktoren können stark beeinflussen, wie Menschen Erlebnisse verarbeiten können.»
Der interdisziplinäre Ansatz helfe auch den Mitarbeitenden: Dadurch, dass sie im Team an Fällen arbeiten, sei ein Austausch möglich. «Das hilft sehr, denn die Schicksale der Patient*innen sind oft unglaublich schwer», sagt Ringenbach. Die Arbeitsbelastung sei hoch. «Ich empfehle niemandem, diesen Job in einem Hundert-Prozent-Pensum zu machen.»
Psychische Gesundheit und Integration
Die psychische Gesundheit von Geflüchteten spiele bei der Integration eine grosse Rolle, sagt Christine Heller. «Idealerweise würde man zu Beginn des Asylverfahrens abklären, ob Betroffene Unterstützung benötigen», sagt sie. Das könnte verhindern, dass psychische Probleme chronisch werden.
Integration setze eine gewisse gesundheitliche Stabilität voraus. Wer etwa unter einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leide – der häufigsten Erkrankung unter den Patient*innen des Ambulatoriums –, könne sich teilweise unmöglich integrieren. Manchen falle es schwer, überhaupt aufzustehen, geschweige denn eine Sprache zu lernen, und viele seien stark misstrauisch gegenüber Behörden.
Mirjam Ringenbach sagt: «Doch auch wenn man den Bedarf nach Therapie im Asylverfahren besser abklärte – es würden aktuell die Ressourcen fehlen, sie auch anzubieten.» Sie findet, dass auch in der Regelversorgung, der Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten stärker auf ihre psychische Gesundheit geachtet werden sollte. So würden weniger Personen eine Therapie benötigen.
Einander helfen
Corona und der Angriffskrieg auf die Ukraine hätten die Schweiz jedoch stärker auf das Thema sensibilisiert, sagt Christine Heller. Es seien neue Angebote entstanden.
Sie nennt etwa das Projekt «Spirit». Es vermittelt Geflüchteten mit eher leichten psychischen Problemen Ansprechpersonen in ihrer Muttersprache. Diese «Helpers» werden zu Laientherapeut*innen ausgebildet. Im Kanton Bern baut das Rote Kreuz Bern das Projekt gerade auf. Es wird vom Staatssekretariat für Migration mitfinanziert, wie auch der Verbund «support for torture victims».
Solche niederschwelligen Angebote seien in Zeiten der psychiatrischen Unterversorgung wichtig, sagt Christine Heller. «Bei unserer Arbeit sehen wir immer wieder, dass es Menschen trotz schwersten Schicksalen gelingt, hier ein Teil der Gesellschaft zu werden. Doch damit das möglich ist, müssen wir auch die richtigen Bedingungen schaffen.»