Bern West Spezial

«C’est la merde»

In einer unterirdischen Zivilschutzanlage am westlichen Rand Berns hausen derzeit abgewiesene Flüchtlinge. Bewohner und Stadtpolitiker*innen kritisieren die Unterkunft des Kantons.

Asylunterkunft Brünnen
Eine Rampe hinab in den Untergrund: Der Eingang zum Rückkehrzentrum Brünnen. (Bild: Manuel Lopez)

Neben dem Gitter, das die Einfahrtsrampe zur Zivilschutzanlage umzäunt, stehen ein Bauwagen und etliche Lieferwagen der nahen Baustelle. Im 5-Minuten-Takt kurven Lastwagen aus und ins Coop-Verteilzentrum. Im Hintergrund rauscht die nur wenige hundert Meter entfernte Autobahn. Bei Ostwind kann man die Schokoladen-Produktion aus der nahen Mondelez-Fabrik riechen. 

Zwischen Brünnen und Riedbach, unter den Werkstätten des Verteilzentrums in einer Gewerbezone am westlichen Rand der Stadt Bern, betreibt der Kanton Bern unter Protest der Stadt Bern seit Anfang Januar eine unterirdische Asylunterkunft. Es ist ein Ort, der die unschöne Seite der Schweizer Asylpolitik zeigt. Nicht jene der solidarischen privaten Unterbringung von Ukrainer*innen. Nicht jene der Aufnahme syrischer Familien. Sondern jene der abgewiesenen Menschen. 

Ein etwa 35-jähriger Marokkaner spaziert aus der Unterkunft die Rampe hinauf an die frische Luft. Seine Augen sind unterlaufen. Er wirkt müde. «Die Unterkunft ist ok», sagt er. Wir verständigten uns mit einem Gemisch aus Brocken von Italienisch, Französisch und Englisch. «Immerhin ist es warm hier drin», sagt er. Er wolle nicht zurück nach Marokko. Er sei doch schon durch so viele Länder geflüchtet. Über die Türkei, Mazedonien, Slowenien – «alles zu Fuss».

Kurze Zeit später humpelt ein Mann an einer Krücke aus dem Zentrum, der eine Arm hängt schlaff herab. «Es ist ok in der Unterkunft», sagt Abdul K. Er stammt aus dem Sudan. «Ich habe aber Schmerzen», sagt er. Er werde in der Unterkunft medizinisch versorgt. Doch um Essen zu kaufen, müsse er immer zu Fuss Richtung Brünnen. Abdul K. ist seit einer Woche im Zentrum. Auf die Frage, ob er die Schweiz nun verlasse, sagt er: «Ich gehe wohl wieder zurück in den Sudan.» Dann geht er weiter in Richtung Stadt. Das Einkaufszentrum Westside liegt einen Kilometer entfernt. Ein Bus oder ein Tram fährt hier im Industriegebiet nicht.

Rückkehrzentrum Bern Brünnen
Ein Algerier erzählt, er sei Anfang Januar direkt aus dem Gefängnis Burgdorf ins Rückkehrzentrum gekommen. (Bild: Manuel Lopez)

Zwei algerische junge Männer auf klapprigen Velos kommen zur Unterkunft zurück. Er sei seit zwei Monaten hier, sagt der eine, der etwas Deutsch spricht. Anfang Januar sei er direkt aus dem Gefängnis Burgdorf hierher nach Brünnen gekommen. Warum er sass, will er nicht preisgeben. Die Unterkunft sei ein Bunker. Man habe keine frische Luft, kein Tageslicht. «Das Gefängnis war besser», meint der Mann.

Auf dem Coop-Gelände unter Tage leben Menschen, die in der Schweiz nicht erwünscht sind. 40 Männer wohnen derzeit in Brünnen, betreut von Mitarbeiter*innen der Firma ORS. Die meisten sind sogenannte Dublin-Flüchtlinge. Sie haben schon in einem anderen europäischen Land ein Asylgesuch gestellt und müssen daher dorthin oder in ihr Herkunftsland zurück.

Der Kanton begründete die Inbetriebnahme des Zentrums im Dezember mit den steigenden Asylzahlen. Sowohl in Bundeszentren als auch in kantonalen Rückkehrstrukturen seien die Plätze rar. In Brünnen würden nur alleinstehende Männer mit Wegweisungsentscheid untergebracht. Eine Unterbringung von Frauen oder Familien mit Kindern sei ausgeschlossen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer werde einige Wochen betragen. 

Ob der Aufenthalt für die Bewohner wirklich so kurz bleibt, ist aber fraglich. Denn Italien nimmt derzeit trotz Abkommen mit der Schweiz keine Dublin-Flüchtlinge zurück, wie das Staatssekretariat für Migration auf Anfrage bestätigt. Damit dürften einige der Männer mehr als nur ein paar Wochen in Brünnen wohnen.

Rückkehrzentrum Bern Brünnen
Journalist*innen dürfen die Asylunterkunft beim Coop-Verteilzentrum nicht besichtigen. (Bild: Manuel Lopez)

Im Rahmen der Nothilfe erhalten die Männer im Rückkehrzentrum zehn Franken pro Tag. Damit müssen sie sich selbst verpflegen. Abgesehen von einem eingezäunten Weg zwischen den Bauwagen und der Rampe zum Eingang gibt es in der Unterkunft keinen Aussenraum, in dem sich die Männer aufhalten können.

Vor sechs Jahren, als in Brünnen schon mal Asylbewerber*innen untergebracht waren, gab es immerhin einen gedeckten, für die Bewohner abgesperrten Aussenbereich. «Alle im RZB Bern-Brünnen untergebrachten Personen sind in ihrer Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt und können sich inner- und ausserhalb des Zentrumareals frei bewegen», schreibt dazu der Sprecher des kantonalen Amtes für Bevölkerungsdienste auf Anfrage.

Der eingangs beschriebene körperlich beeinträchtigte Mann sei laut dem Amt in regelmässiger ärztlicher Behandlung. Die Terminkoordination werde im Rahmen der medizinischen Sprechstunde im Zentrum und darüber hinaus vom Betreuungspersonal wahrgenommen. Und allen Bewohnern des RZB Bern-Brünnen würden zweimal pro Woche medizinische Sprechstunden vor Ort angeboten.

Impressionen aus Buempliz fotografiert am 23.01.2023 in Bern. (Manuel Lopez)
Bern West Spezial

Der Blick auf Bern West ist oft verstellt von dessen schlechtem Image. Doch, täuscht der Eindruck? Die «Hauptstadt» schaut hin – und verlegte von 20. bis 25. Februar 2023 ihre Redaktion ins Quartierzentrum Tscharnergut und publiziert eine Reihe von Artikeln aus dem und über den Berner Stadtteil Bümpliz-Oberbottigen.

Journalist*innen dürfen das Zentrum nicht besichtigen. Das beschied der Kanton der «Hauptstadt» auf Anfrage schon vor vier Wochen. Und dies wurde dem Autor diese Woche auch mitgeteilt, als er sich bei einem Augenschein vor Ort beim ORS-Personal vorstellte und nachfragte, ob die Zutrittsbeschränkung noch immer gelte.

Nach dem Besuch bei der Unterkunft erhielt der Autor zudem eine Mail des Amtes für Bevölkerungsdienste. Das Amt teilte der «Hauptstadt» mit, «dass sich die Unterkunft auf Privatgrund mit eingeschränkten Zutrittsrechten befindet sowie – ganz grundsätzlich – Bewilligungen für Vor-Ort-Reportagen ausnahmslos beim Amt für Bevölkerungsdienste eingeholt werden müssen.» Mit Blick auf eine weiterhin vertrauensvolle Zusammenarbeit gehe das Amt davon aus, «dass Sie den von uns definierten Rahmenbedingungen im Bereich der Medienarbeit zukünftig Rechnung tragen werden.»

Rückkehrzentrum Bern Brünnen
Die Stadt Bern hat schon im Dezember beim Kanton gegen die unterirdische Unterbringung von Flüchtlingen protestiert. (Bild: Manuel Lopez)

Wie es in der Unterkunft im Zivilschutzbunker aussieht, zeigt ein Beschrieb von Cornelia Hanke von der Aktionsgruppe Nothilfe, welche die Anlage kürzlich besichtigen konnte. Es habe Schlafsäle mit dreistöckigen Kajütenbetten. Diese seien zum Essraum hin offen. Die Duschen seien lediglich mit Vorhängen abgetrennt. Neben einer Küche gebe es einen Aufenthaltsraum mit Sitzgelegenheit, einen TV und einen Töggelikasten. «Kein Tageslicht, nirgends etwas Wohnliches, keine Privatsphäre, einfach Leere, Perspektivlosigkeit», ist das Fazit von Hanke.

Die Unterbringung unter der Erde führt auch zu politischen Diskussionen, denn in Brünnen vollzieht der bürgerlich regierte Kanton eine von der bürgerlichen Mehrheit in National- und Ständerat beschlossene Asylpolitik auf dem Boden einer links-grün regierten Stadt. 

Die Stadt Bern hat schon im Dezember beim Kanton gegen die unterirdische Unterbringung von Geflüchteten protestiert. «Man hätte die Zeit mit tieferen Flüchtlingszahlen nutzen können, um gemeinsam nach genügend geeigneten Gebäuden zu suchen», sagt Gemeinderätin Franziska Teuscher auf Anfrage. Bund, Kanton und Gemeinden sollten laut Teuscher eine gemeinsame Strategie für die Unterbringung entwickeln. Die Stadt könne nur dann mithelfen, Gebäude in der Stadt zu suchen, wenn der Kanton sie danach frage. «Wir hatten aber keine Anfrage für eine Alternative für das Rückkehrzentrum in Brünnen.» 

Die Stadt hat beim Kanton auch Forderungen deponiert. Die Männer dürften in Brünnen nur temporär für wenige Wochen untergebracht werden. Der Betreiberin der Anlage müssen laut Teuscher zudem die nötigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, damit sie einen «sicheren und menschenwürdigen Betrieb» mit ausreichend Betreuungspersonal gewährleisten kann. «Den in Riedbach untergebrachten Männern müssen Angebote zur Verfügung stehen, die eine Tagesstruktur und soziale Kontakte ausserhalb der Anlage ermöglichen.» Dazu müsse die Betreiberin laut Teuscher vom Kanton Mittel erhalten, damit sie eine aktive Zusammenarbeit mit Freiwilligenorganisationen und Quartierträgerschaften aufbauen könne.

Rückkehrzentrum Bern Brünnen
Auf Beschäftigungsangebote verzichtet der Kanton, denn diese würden sich «negativ auf die individuelle Ausreisebereitschaft» auswirken. (Bild: Manuel Lopez)

In einer Motion protestieren auch Stadträt*innen aus AL, SP und GB gegen die unterirdische Unterbringung und fordern, man solle eine oberirdische und damit menschenwürdige Unterkunft zur Verfügung stellen oder die Männer im Container-Dorf auf dem Viererfeld unterbringen.

Letztlich werden diese Forderungen der Stadtpolitiker*innen aber in der Galerie landen. Denn es ist politisch gewollt, dass abgewiesene Asylbewerber so leben, wie sie in Brünnen leben. Das Leben in der Schweiz soll ihnen so lästig gemacht werden, dass sie das Land freiwillig verlassen. 

Zu den Forderungen des Berner Gemeinderates schreibt das Amt für Bevölkerungsdienste denn auf Anfrage auch: «Die Organisation von Beschäftigungsmöglichkeiten ist kein Bestandteil des Betreuungsauftrags der ORS.» Der Kanton will explizit keine Tagesstruktur für die in Brünnen untergebrachten Männer: «Unsere bisherigen Erfahrungen zeigen, dass sich die Inanspruchnahme von freiwilligen Beschäftigungsangeboten negativ auf die individuelle Ausreisebereitschaft auswirkt.»

Folgerichtig sehe auch der Grosse Rat keine Beschäftigungsmassnahmen mit potentiell integrationsfördernden Effekte vor: «Im Vordergrund steht die vorzugsweise freiwillige Ausreise in den Heimat- oder einen Drittstaat.» Freiwilligenarbeit sei aber in Rückkehrzentren in Rücksprache mit der jeweiligen Zentrumsleitung grundsätzlich möglich, schreibt der Kanton.

Auch eine Unterbringung der Abgewiesenen in der Unterkunft auf dem Viererfeld schliesst der Kanton aus. «Der Grosse Rat hat sich im Rahmen der Neustrukturierung des Asyl- und Flüchtlingsbereichs im Kanton Bern für eine klare infrastrukturelle Trennung von Personen im hängigen Asylverfahren und Personen mit negativem Asylentscheid ausgesprochen», schreibt das Amt für Bevölkerungsdienste. Dieser Grundsatz gelte nach wie vor.

Die abgewiesenen Asylbewerber werden also trotz Protest der Stadt vorerst weiter unterirdisch hausen. Beim Augenschein in Brünnen spricht der Autor mit einem weiteren Algerier. Er sagt, er lebe seit 23 Jahren in der Schweiz, die ganze Zeit als Sans-Papier. Er berichtet, er könne hier unterirdisch nicht gut schlafen. Es sei lärmig. Zudem erhalte er nur 70 Franken pro Woche. Das Fazit des Algeriers zu seiner Situation in der Unterkunft fällt kurz und knapp aus: «C’est la merde.» Es ist scheisse. «Dabei ist die Schweiz doch das Land der Menschenrechte», sagt er noch.

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Diskussion

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Urs Lüthi
27. Februar 2023 um 10:06

Vielen Dank für den sehr guten, informativen Artikel !

C'est la merde! Monsieur P. A. Schnegg! (Conseil d'Etat)