«Man muss zu den Orten, die flüstern»
Der Berner Autor Christian de Simoni schaut lieber Fotos vom Louvre an, als dass er selbst hingeht. Sein Essay «wandern/schreiben» ist eine Kulturgeschichte des Reisens – mit vielen Denkanstössen.
Treffpunkt ist die Kreuzung Steingrubenweg und Granit-Strasse in Spiegel bei Köniz. Es ist die Grenze zwischen Stadt und Land, ein Spazierweg, der in keinem Wanderbuch beschrieben ist und doch eine spektakuläre Sicht auf die Stadt bietet. Aber nur, wenn man hinschaut. Der Berner Autor Christian de Simoni hat den Ort vorgeschlagen. Er spaziert hier mindestens einmal in der Woche. Den Weg kennt er, seit er ein Kind war. Sein Grossvater hat damals weiter unten, im Eisenbahnerquartier im Weissenstein, gelebt. Der 44-jährige Christian de Simoni, der auch als Lektor und Ghostwriter arbeitet, hat mit «wandern/schreiben» einen Essay über die Geschichte und die heutige Bedeutung des Wanderns und Reisens geschrieben.
Christian de Simoni, auf dem Weg hierhin habe ich mich verirrt. Eine unangenehme Erfahrung.
Verirren kann man sich nur, wenn man ein Ziel hat. Wenn man keins hat, kann man sich nicht verirren. Da geht es natürlich sofort um existenzielle Fragen: Wo bin ich? Man braucht eine Karte, ein Handy oder man fragt jemanden. Man braucht irgendein Referenzsystem.
Was hätten Sie gemacht, wenn Sie sich wie ich verirrt hätten?
Seit ich mit dem Handy orten kann, wo ich bin, verirre ich mich nicht mehr. Früher lief ich einfach los und wusste manchmal nicht mehr, wo ich bin. Das war recht schlimm.
Warum?
Weil ich an Orte kam, an denen ich nicht hätte sein sollen, manchmal sogar in Industriegebieten, die ich gar nicht hätte betreten dürfen. Aber ich bin eigentlich nicht der Typ, der es gerne gefährlich hat.
Ich habe das Handy hervorgenommen, aber das sagte mir nicht, dass der direkte Verbindungsweg eine für Velos eher unpraktische Treppe ist.
Dafür nahmen Sie den Ort überhaupt wahr. Das ist eigentlich die Hauptsache beim Reisen. Dass man die Wahrnehmung aktiviert. In den Ferien ist man so offen. Man isst bewusst, schaut die Umgebung intensiv an, betrachtet die Menschen. Warum macht man das sonst nicht?
Machen Sie es denn sonst?
Ich versuche es.
In Ihrem Essay beschreiben Sie das Wandern als geeignet dazu. Warum?
Weil es ein Unterwegssein mit erhöhter Aufmerksamkeit in alle Richtungen ist.
Und wie schaffe ich es, in diesen Zustand zu kommen?
Das geht schnell, schon nur durch den Rhythmus des Gehens: links, rechts, links, rechts, das ist sehr regelmässig. Es hat etwas Meditatives.
Was, wenn es mir nicht so leicht fällt?
Ich habe beim Wandern häufig ein Buch dabei, lese ein paar Sätze, denke nach, lese weiter. Ich finde, Texte und Wege sind sich ähnlich. Man kommt Schritt für Schritt vorwärts, Seite für Seite, Abschnitt für Abschnitt.
Warum haben viele Menschen Mühe, in diesen Modus zu kommen?
Ich glaube, weil es so viele Ablenkungen gibt. Um in den Zustand erhöhter Aufmerksamkeit zu kommen, muss man sich erst von den Sachen lösen, die einem aufgedrängt werden.
Was meinen Sie damit?
Scheinbare Erleichterungen, wie etwa Gepäcktransport, gebuchte Hotels, Restaurants, Infotafeln.
Warum Infotafeln?
Die lenken von der Natur, vom Gehen, von den eigenen Gedanken ab. Am schlimmsten ist es auf Themenwegen für Kinder.
Warum?
Man bekommt dann vielleicht die Geschichte des Luchses erklärt. Und muss dafür nicht mehr die Bäume anschauen. Man begibt sich auf eine andere Ebene und lenkt sich von der eigentlichen Wahrnehmung des Orts ab.
Sind Sie ein Purist?
Ich? Ja, auf jeden Fall. Man kann auch sagen: Ich habe es gerne sehr einfach. Je einfacher das Ganze ist, desto interessanter. Auch mit der Ausrüstung: Warum muss man immer Sachen für jeden Eventualfall mit auf eine Wanderung nehmen? Das lenkt doch ab vom Wesentlichen. Und dann bin ich damit beschäftigt, den Wasserfilter zu reinigen, anstatt den Sonnenuntergang zu geniessen.
Sie sind ja eher der passive Reisende. Von bekannten Orten empfehlen Sie, lieber die Fotos anzuschauen als selber hinzureisen.
Ja, das Kolosseum in Rom oder die Mona Lisa im Louvre in Paris – solche Dinge schaut man besser auf Fotos an. Warum sollte man da hinreisen und dann mit Tausenden anderen Tourist*innen dastehen und die gleichen Bilder machen?
Waren Sie denn schon da?
Ich war tatsächlich weder im Louvre noch im Kolosseum. Nur in der Nähe davon.
Reisen hat ja auch mit anderen Sinneseindrücken zu tun: Man riecht, hört, schmeckt. Wenn ich an Paris denke, denke ich an den Uringeruch… das gibt es ja mit schönen Bildern nicht.
Wollen Sie für den Uringeruch wirklich vier Stunden Zug fahren?
Wenn man hingeht, sieht man auch die weniger schönen Sachen – und vielleicht erhält man erst so ein komplettes Bild.
Ja, durchaus. Aber den Louvre kann man sich ersparen, der ist schon genug dokumentiert. Es hat dort sowieso zu viele Leute. Man spaziert besser in einem Aussenquartier von Paris herum. Wenn man quer durch eine Stadt geht, sieht man ganz vieles. Meistens hat man sonst nur Schnipsel einer Stadt. In Berlin lief ich mal quer durch die Stadt. Es kam mir vor, als ob ich immer wieder durch kleine Dörfer gekommen wäre, mit Läden, mit Restaurants. Einheiten für sich. Diese Wahrnehmung hat man sonst nicht.
Viele möchten ja am liebsten dorthin, wo sonst keine Tourist*innen sind…
…ja, das ist ein Dilemma. Man sollte nicht zu weit weg von den Hauptwegen gehen. Zum Beispiel in die totale Wildnis, die zwar spannend ist, aber von der sich Menschen fernhalten sollten.
Wo soll ich denn noch hin?
In die Zwischengebiete, so wie hier in Spiegel, zwischen Feldern und städtischen Siedlungen. Ich meine damit: Nicht ganz zuoberst auf den Berg, aber auch nicht an die Hotspots in den touristischen Städten.
Aber ich möchte ja Neues erleben.
Es braucht einfach eine andere Wahrnehmung, dazu muss man nicht unbedingt zu den Extremen. Man muss nicht zu den krassesten und lautesten Orten, sondern zu den unauffälligen, die nicht so laut schreien, sondern eher flüstern. Hier zum Beispiel, das ist ein ganz schöner Bauernhof. Auch dieser an sich banale Ort ist spannend, verändert sich mit der Zeit. Wenn ich diesen Weg jede Woche einmal gehe, ist er jedes Mal ein bisschen anders, ich treffe andere Leute, die Vegetation ist anders.
In Ihrem Essay machen Sie sich auch Gedanken über die Natur. Darüber, dass wir eigentlich ein falsches Verständnis von ihr haben.
Dieses Feld hier, auf dem Ponys grasen, dem sagt man Natur, aber eigentlich ist es Kulturland. Hier wäre vielleicht sonst ein wilder Wald. Das, was wir als Natur bezeichnen, ist inszeniert und kuratiert. Zum Beispiel auch der Könizbergwald, den wir von hier aus sehen. Da gibt es Bänkli, Wege, da wird Holz geschlagen und werden neue Bäume gesetzt.
In den Bergen ist doch eigentlich noch die echte Natur.
Aber dann wird mit dem Helikopter Essen zur SAC-Hütte gebracht und der Abfall der Leute heruntergeschafft. Das ist nicht Natur, das ist Infrastruktur. Die Haken, die Seile, die man in den Felswänden lässt, das ist ja auch nicht mehr Natur, das sind Spuren der Menschen.
In den Menschen gibt es eine Sehnsucht nach einzigartigen Erlebnissen mit Tieren und der Natur.
Ja, das ist eine grosse Sehnsucht. Viele Menschen möchten in der puren Natur sein. Zum Beispiel in der freien Natur schlafen.
Aber die meisten machen es doch nicht.
Ja, oder nur in einem geschützten Rahmen. So wie die Hängebrücken geschützt sind mit Handläufen und Gittern, dann kann man sich ein bisschen aussetzen und sich doch halten. Das ist wieder das Ding mit den Extremen.
Dann plädieren Sie eigentlich fürs Mittelmass: Nicht die neue und überinszenierte Via Berna, aber auch nicht eine Wanderung zu den wilden Bären ins Nichts.
Mittelmass klingt negativ und spiessig. Man kann es auch Bescheidenheit oder Mässigung nennen. Die Ansprüche bewusst zurücknehmen. Nicht alles wollen, was man kann. Wenn ich eine Werbung sehe: «5 Gipfel in 14 Tagen» – dann denke ich mir: Warum? Ein Gipfel in zwei Jahren reicht doch auch. Warum sollte man das machen? Nur weil man es kann?
Und welcher Typ sind Sie?
Ich würde wohl gar nicht diesen Weg machen, sondern an einen anderen Ort gehen.
Eben doch nicht auf einen ausgetretenen Pfad…
…manchmal muss man nur das Ziel ändern, und man ist allein. In Zermatt gehen alle dorthin, wo man das Matterhorn sieht, und wenn man auf den Hoger gleich daneben geht, ist man allein.
In «wandern/schreiben» werden Themen wie Pauschalreisen, Youtube-Dokumentationen von Abenteuerreisen, aber auch die philosophische Betrachtung, dass wir beim Wandern auf Pfaden immer den Spuren von anderen folgen, behandelt. Beim Lesen tauchen Bilder auf, Gedankenblitze, die dann wieder verschwinden. Mit dem Essay wolle er die Leser*innen ein wenig aus der Komfortzone holen, sagt de Simoni.
Christian de Simoni: «wandern/schreiben», Edition Taberna Kritika, 120 Seiten.