«Niemand weiss, wie es den Bezahlmedien in zehn Jahren geht»
Mit Isabelle Jacobi hat die Tageszeitung Der Bund erstmals eine Chefredaktorin. Wie viel Bund will und kann sie ein Jahr nach der Fusion mit der Berner Zeitung erhalten?
Isabelle Jacobi, Sie haben vor vier Monaten von Ihrem Korrespondent*innenposten in der Hauptstadt der USA an den Dammweg in der Bundesstadt Bern gewechselt. Vermissen Sie Washington?
Isabelle Jacobi: Ja, natürlich. Nach fünf Jahren in einer Stadt hat man seine Lieblingsorte, seine Routinen, seine Restaurants. Es war ein Privileg, aus diesem globalen Machtzentrum berichten zu können. Und es war extrem spannend. Die Wahlen im November 2020 gipfelten am 6. Januar 2021 im Sturm aufs Capitol. Da befand ich mich mitten in der Weltgeschichte. Ich bin aber auch sehr gerne nach Bern zurückgekommen, um eine neue Phase in meinem Leben zu starten.
Waren Sie als Korrespondentin aus der Schweiz in Washington wirklich mittendrin?
Sicher kann man als Schweizer Journalistin kein Interview im Oval Office führen. Und mindestens in Washington bekommt man von Senator*innen und Abgeordnete kaum mehr als ein kurzes Statement in der Wandelhalle. In der Hauptstadt stehen sich tausende Journalist*innen auf den Füssen herum. Aber der 6. Januar spielte sich auf den Strassen ab. Da hatte ich Zugang zu sehr vielen Leuten. Und es ist unglaublich, wie viele Organisationen in Washington präsent sind. Alles ist sehr professionell organisiert.
Sie arbeiteten ja nicht nur von Washington aus.
Genau. Ich war auch lokaljournalistisch unterwegs, etwa, als ich nach New Mexico, nach Texas oder nach Wisconsin reiste. Da ist die Situation komplett anders. Man findet relativ leicht den Kontakt zu Gouverneur*innen oder auch Parlamentarier*innen, die in ihrem Heimstaat viel offener sind.
Fällt es Ihnen schwer, in Bern wieder Fuss zu fassen?
Es ist das dritte Mal, dass ich aus den USA in die Schweiz zurückkehre. Zügeln ist immer ein Stress, von einem Kontinent auf den anderen ist es das noch einmal mehr. Nach meiner Erfahrung braucht es ungefähr ein Jahr, bis man wirklich da ist, wo man hinzieht. Ich bin immer noch daran, meine Schränke einzuräumen. Aber in meiner neuen beruflichen Rolle fühle ich mich wohl, das kann ich jetzt schon sagen.
Sie waren Radio-Journalistin, und nun leiten Sie plötzlich eine Traditionszeitung und ein Online-Portal. Wie geht das?
Der Wechsel ist eine Herausforderung, die ich mir zumute. Es ist interessant, im Alter von 53 Jahren noch zu lernen, wie man eine Zeitung macht. Mir ist klar, dass das ein anderes Business ist, und ich habe grossen Respekt für die Kolleg*innen, wie sie jeden Tag mehrere Lokalausgaben auswerfen. Ich bin mir bewusst, dass ich in vielen Bereichen noch am Lernen bin. Mit digitalen Kanälen bin ich hingegen aus meiner Zeit bei SRF vertraut.
Isabelle Jacobi (53) hat in Bern Anglistik, Schweizer Geschichte und Theaterwissenschaften studiert und in den USA Kommunikation und Betriebswirtschaft. Ab 1999 arbeitete sie für Radio SRF, zuerst beim damaligen DRS2 aktuell, danach als freie USA-Korrespondentin. 2008 wechselte sie zum Echo der Zeit, das sie ab 2012 leitete. 2017 übernahm Jacobi den Korrespondent*innenposten in Washington. Seit Juli 2022 ist sie Bund-Chefredaktorin. Sie lebt in Oberhofen.
Isabelle Jacobi ist die erste Frau an der Spitze der 1850 gegründeten Traditionszeitung. Ihr Vorgänger war Patrick Feuz, der den Bund seit 2015 geleitet hatte. Feuz ist inzwischen Senior Consultant bei der Berner Kommunikationsagentur Gecko Communications, die unter anderem ein Mandat der Kooperation Bern Ostermundigen wahrnimmt.
Isabelle Jacobi leitet mit dem Bund (aktuelle verkaufte Auflage: 32’000) eine Zeitung, die ihre überregionalen Inhalte (Ausland, Inland, Wirtschaft, Kultur, Sport) von der Tamedia-Mantelredaktion übernimmt und die lokalen Stoffe von der 80-köpfigen, fusionierten Berner Redaktion von Bund und BZ. Die Zusammenführung von Bund und BZ vor einem Jahr war von der Frage begleitet, ob die unterschiedlichen Redaktionskulturen kompatibel seien. Nun findet Chefredaktor Simon Bärtschi gegenüber dem Branchenportal persönlich.com, «dass diese Zusammenlegung gut gelungen ist. Alle Kolleginnen und Kollegen ziehen am selben Strick».
Die Eigenständigkeit der beiden Titel war allerdings schon lange mehr Fiktion als Realität. Bereits 2004 holte Charles von Graffenried, Verleger der Berner Zeitung, den Bund in die Espace Media Groupe und begründete das Berner Modell, indem er die sich publizistisch konkurrenzierenden Zeitungen Bund und BZ unter einem Verlagsdach herausgab. 2007 verkaufte von Graffenried seinen Verlag mehrheitlich der Tamedia. Seit damals wird ein Grossteil des Berner Medienplatzes von Zürich aus gesteuert. Die Berner Gruppierung «Rettet den Bund» verhinderte 2009/10 die Einstellung des Traditionstitels, der fortan aber überregionale Inhalte des Tages-Anzeigers übernahm.
In den letzten Wochen hat die Zürcher Tamedia-Führung auf der Berner Redaktion für neuen Unmut gesorgt, wie mehrere Redaktor*innen bestätigen. Weil bloss ein Jahr nach der Komplettfusion in Bern erneut gespart wird, wenn auch nicht sehr viel. Und weil Co-Verlagsleiter Marco Boselli ausgerechnet vor einem Tamedia-Betriebsfest im Bierhübeli die Leistung der Redaktionen wegen Nicht-Erreichens der hohen digitalen Wachstumsziele hart kritisiert habe. (jsz)
Seit einem Jahr produziert die fusionierte Einheitsredaktion den Inhalt für die beiden Zeitungen Bund und Berner Zeitung. Als Chefin haben Sie keine eigene Redaktion. Ist der Titel Bund-Chefredaktorin gerechtfertigt?
Auf jeden Fall. Es gibt ja eine Redaktion, halt einfach eine, die für verschiedene Titel arbeitet. Hier sind 80 hervorragende Journalistinnen und Journalisten am Werk. Ich bin Teil der Chefredaktion und rede in allen wichtigen Geschäften mit. Ich habe eine publizistische Führungsrolle inne, gleichzeitig bin ich die Person, die den Hut für den Bund trägt. Gegen aussen, aber natürlich auch gegen innen. Hier in Bern und genauso gegenüber Tamedia in Zürich. Ich treibe Bund-spezifische Projekte voran, den Bund-Newsletter zum Beispiel, die Bund-App, das Talk-Format Bund im Gespräch.
Ich dachte, Bund im Gespräch sei eingeschlafen.
Nein, wir führen das Format weiter, frischen es aber etwas auf. Wir wechseln die Location vom Bellevue ins Bierhübeli. Mir schwebt vor, dass wir in diesem Talk die ganze Themenpalette aufgreifen – Ausland, Inland, Wirtschaft, Kultur, Lokales. Ich habe auch vor, Teil des Moderationsteams zu werden.
Zurück zum gedruckten Bund: Unterscheidet er sich in mehr als ein paar Details von der Berner Zeitung?
Die Differenz ist grösser, als man denkt. Wir haben es kürzlich ausgewertet: 30 Prozent der Inhalte sind je exklusiv in den beiden Titeln.
Im Lokalen?
Nein. Die BZ hat Regionalgeschichten, die nicht im Bund erscheinen, der Bund hingegen bringt Ausland-, Inland-, Wirtschafts- und Kulturstoffe der Tamedia-Mantelredaktion, die nicht in der BZ erscheinen. Zudem forcieren wir auch Meinung und Debatte, da unterscheiden wir uns spürbar.
Was heisst das? Sie schreiben einfach andere Kommentare als BZ-Chefredaktor Simon Bärtschi?
Wir zwingen uns nicht dazu, es hat sich – etwa bei den AHV-Vorlagen – so ergeben.
Sie waren dagegen, er war dafür.
In diesem Fall war es so. Das Kommentieren halte ich für eine wichtige publizistische Aufgabe, die ich sehr ernst nehme. Wir zeigen, dass es möglich ist, trotz dem Mantelprinzip zwei unterschiedlich ausgerichtete Zeitungen zu machen. Das sehen offensichtlich auch unsere Leser*innen so. Nach der Fusion gab es keinen Einbruch bei den Abo-Zahlen, die Fusion wirkte sich praktisch gar nicht aus.
Weil Tamedia alles dafür tut, nach aussen den Anschein zu erwecken, dass da wirklich zwei Zeitungstitel erscheinen.
In der Welt, aus der ich komme, war ich an das konvergente Arbeiten gewöhnt. Es sind dieselben Reporter und Korrespondentinnen, die fürs Echo der Zeit und für News-Sendungen arbeiten. Deshalb empfinde ich den Schritt zu dem, was wir hier bei Bund und BZ machen, als gar nicht so gross. Ich weiss: Das Prinzip der Konvergenz funktioniert. Selbstverständlich kann man es besser oder weniger gut machen. Ich bin angestellt worden, um dafür einzustehen, dass wir es besser machen.
Haben Sie eine Zukunftsvision für den Bund?
Die Basis ist da, der Journalismus, den die Redaktion macht, ist sehr gut. Ich sehe meine Aufgabe darin, zu noch mehr Konsequenz zu ermutigen. Also dazu, stärkere Akzente zu setzen, sich auf Themen zu fokussieren und Geschichten, die Potenzial haben, nicht gehen zu lassen.
Was meinen Sie konkret?
Natürlich macht das die Redaktion schon jetzt. Aber ich bin fasziniert davon, wie sich – zum Beispiel beim Thema sexuelle Belästigung bei Bühnen Bern – sofort ad hoc ressortübergreifende Teams gebildet haben, um schnell in die Tiefe vorstossen zu können. Ich will diese Energie aufnehmen und in eine noch grössere Intensität bringen.
Ist es das, worauf das Publikum – namentlich das jüngere – wartet?
Mit der Frage, wie man ein jüngeres Publikum anspricht, kämpfen fast alle Medien. Wir sind als Bezahlmedium darauf angewiesen, abonniert zu werden. Ein Abo ist nicht billig. Es ist klar, dass die ökonomische Hürde für junge Menschen hoch ist. Aber wir müssen auch mehr tun, damit ihr Interesse wächst. Zum Beispiel, indem wir mit unseren Inhalten auf die Kanäle gehen, auf denen sich die Jungen bewegen.
Aber genau dort – auf den sozialen Medien – verbreitet man die Inhalte gratis. Ergibt das Sinn?
Das ist eine wichtige und knifflige Frage. Ich kann Ihnen keine Lösung präsentieren. Aber wir haben ein Projekt am Laufen, das diese Frage bearbeitet und an dem ich beteiligt bin. Was ich feststelle: Mit der engen journalistischen Begleitung des Gurtenfestivals zum Beispiel haben wir beim jungen Publikum eine grosse Breitenwirkung. Ich sehe das als eine hervorragende Marketing-Gelegenheit. Meine Ambition ist es, dass ich den Titel Bund besser auf jüngere Menschen ausrichten möchte, ohne dass ich an der Grundidee etwas ändere.
Was heisst das unter dem Strich?
Der Bund stellt nach wie vor die journalistische Grundversorgung sicher. Das lokaljournalistische Profil möchte ich schärfen und den Auftritt gegen aussen verjüngen.
«Eine Weltuntergangsstimmung ist das Letzte, was wir brauchen können in den Medien.»
Nur ein Jahr nach der Fusion von Bund und Berner Zeitung ergreift Tamedia auch in Bern bereits wieder Sparmassnahmen. Das sorgt erneut für Unmut in der Redaktion. Was wird genau weggespart?
Wir sprechen nie über Zahlen einzelner Titel. Wir haben Vakanzen, die wir zurzeit nicht mehr besetzen können. Allerdings kann sich das noch ändern. Bern kommt relativ glimpflich davon. Tamedia weiss, dass wir vor einem Jahr eine Fusion durchgezogen haben, deshalb ist der Sparauftrag nicht einschneidend.
Hat er publizistische Konsequenzen?
Voraussichtlich nein.
Aber die ambitionierten Wachstumsziele bei den digitalen Abonnenenten, die Tamedia festgelegt hat, werden dieses Jahr deutlich verfehlt. Kann es wirklich sein, dass Bern da fast unbeschadet davon kommt?
Wie gesagt, kann ich das nicht im Detail kommentieren. Ja, Tamedia hat das sehr ambitiöse digitale Wachstumsziel nicht erreicht. Wir stehen zu unseren Zahlen in Bern.
Was heisst zu den Zahlen stehen? Dass Sie sich keine Sorgen machen müssen?
Es ist kein Geheimnis, dass das digitale Wachstum noch nicht genügend Einnahmen generiert - in der gesamten Branche. Alle Medien kämpfen mit der Herausforderung der digitalen Transformation. Das ist der Strukturwandel, in dem wir uns mittendrin befinden. Niemand weiss, wie es den Bezahlmedien in zehn Jahren geht.
Noch weniger weiss man, wie sich Lokaljournalismus finanzieren lässt, weil es unmöglich ist, mit ihm grosse Reichweiten zu erreichen. Sehen Sie Auswege?
Ich müsste in die Kristallkugel blicken, um in die Zukunft zu schauen. Was ich dazu nur sagen kann: Ich glaube an den Lokaljournalismus, sonst würde ich mich nicht in meinem Job engagieren. Eine Weltuntergangsstimmung ist das Letzte, was wir brauchen können in den Medien. Es braucht positive Energie für den Lokaljournalismus, weil er extrem wichtig ist. Für die Demokratie.
Er ist sicher wichtig. Aber sind lokale Themen auch spannend genug?
Ja, das Interesse und damit die Nachfrage sind da. Unsere Lokalgeschichten laufen gut. Ich denke etwa an einen Artikel über einen Foto-Hotspot im Emmental, den wir kürzlich publizierten. Der funktionierte hervorragend. Ebenso unsere Sommerserie über den neuen Fernwanderweg Via Berna. So lange die Leute bereit sind, diesen Lokaljournalismus zu kaufen, wird es ihn geben. Es muss ihn geben.
Haben Sie sich schon als junger Mensch für lokale News erwärmt?
Ehrlich gesagt: Nein. Ich hatte zwar schon früh den Bund abonniert, weil ich das meinen Eltern abschaute und dachte, das macht man einfach. Ich habe ihn aber meistens direkt ins Altpapier gelegt. Erst als ich etwa 27 Jahre alt war, begann ich, mich für die Inhalte zu interessieren.
Finden Sie Bern eigentlich einen interessanten Ort, um Lokaljournalismus zu betreiben?
Durchaus. Ich komme ja gerade von einem Ort, an dem die Demokratie beinahe gekippt wäre. Deshalb empfinde ich die Berner Stadtpolitik als extrem beständig, ja gemächlich. Ich bin gespannt, was für eine Dynamik die angestrebte Fusion zwischen Bern und Ostermundigen entfacht. Überhaupt finde ich, Bewegung findet derzeit eher in der Agglomeration statt. In Köniz zum Beispiel oder auch in Muri-Gümligen, da ist ein spannender Wandel im Gang.
Wohingegen die Stadt Bern in wenigen Wochen die Marke von 30 Jahren Rot-Grün-Mitte (RGM) erreicht.
Ich kann nur sagen, dass das RGM-Bündnis ein Erfolgsrezept ist, ob einem das gefällt oder nicht. Es gibt vielleicht Risse, aber es hält, und die Wahlerfolge zeigen, dass die Menschen mit dieser Regierung zufrieden sind und die Kontinuität offensichtlich geniessen. In sicheren Mehrheitsverhältnissen besteht in einer Demokratie eine grosse Herausforderung darin, nicht in Exzesse zu verfallen, auf die dann die Wähler*innen plötzlich heftig reagieren. Die städtische Finanzpolitik, die wir ja kritisch begleiten, ist sicher ein Gebiet, auf dem sich die Mehrheit vorsichtig bewegen müsste.