«Die Schweiz ist solidarisch»
Was passiert mit den aus der Ukraine Geflüchteten? Warum wurden Syrer*innen anders behandelt? Was machen wir mit Sans-Papiers aus Eritrea? Und warum sollte die Schweiz aufrüsten? Sicherheitsdirektor und FDP-Regierungsrat Philippe Müller im Interview.
Der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller ist im Kanton Bern zuständig für den Migrationsdienst. Er hat in Asylfragen oft eine pointierte Haltung. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat er auf den Sozialen Medien wiederholt linke Sicherheits- und Friedenspolitik scharf kritisiert. Umgekehrt wird Müller von linker Seite oft hart angegangen, wenn es um den Umgang mit Geflüchteten und abgewiesenen Asylsuchenden geht, selbst wenn er als Regierungsrat nicht immer verantwortlich ist für die kritisierte Politik.
--
Schon über 11’000 Geflüchtete aus der Ukraine haben sich in der Schweiz registriert. Bei der Aufnahmestelle Zieglerspital hatte es letzte Woche lange Schlangen. Ist der Kanton Bern vorbereitet für die Aufnahme der Geflüchteten?
Philippe Müller: Es ist für die Kantone sicher keine alltägliche Situation. Aber wir haben eine gewisse Anzahl Plätze in den Bundesasylzentren. Und man hat Private, die Leute aufnehmen. Im Kanton Bern rechnen wir heute mit bis zu 30’000 Flüchtlingen bis Ende Jahr.
Wo wollen Sie diese Menschen unterbringen?
Auf der einen Seite privat. Auf der anderen Seite in Asylzentren, die wir früher nutzten. Reconvilier haben wir gerade geöffnet. Und wir haben das Zentrum in Prêles in Betrieb genommen. Unterirdische Unterkünfte versuchen wir zu vermeiden. Dann kommen nicht genutzte Schulhäuser, Turnhallen oder ähnliches hinzu. Es gibt Listen, und die Gemeinden schauen, was möglich ist.
Wie schnell können Sie eine Betreuung gewährleisten?
Diese Leute brauchen Informationen. Wir haben Betreuungspersonal, die Mitarbeiter der Hilfswerke und Zivilschützer. In der Stadt Bern haben wir eine unterirdische Unterkunft an der Mingerstrasse geöffnet, wo man Zivilschützer einsetzt. Da haben die Geflüchteten mal ein Dach über dem Kopf und erhalten Essen. Im neu eingesetzten Sonderstab sind namentlich Polizeioffiziere, die sich in der Stabsarbeit auskennen und wissen, was zu organisieren und zu koordinieren ist. Die Polizei ist auch an Empfangsstellen präsent, um zu verhindern, dass Ukrainerinnen von den falschen Leuten abgeholt werden.
Wie viele Plätze haben Sie konkret parat?
Das ändert dauernd. Mehrere hundert Plätze für Geflüchtete haben wir. Und es kommen laufend Plätze dazu.
Wird die private Unterbringung auch über mehrere Monate funktionieren?
Ich gehe davon aus. Wenn man die Leute arbeiten lässt und nicht jede Schlange, die sich irgendwo bildet, kritisiert. Die Schweizer Bevölkerung ist sehr solidarisch. Es ist vergleichbar mit der Situation 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei. Wenn der Krieg nicht zu lange geht, gehen diese Leute sicher zum Teil wieder zurück. Aber Probleme sind natürlich nicht ausgeschlossen.
Was passiert mit den Kindern? Wie schnell werden diese schulisch integriert?
Man versucht ihnen möglichst schnell Sprachkurse anzubieten. So auch den Eltern. Und die Kinder sollen schnell in die Schule integriert werden, auch wenn das Ende des Aufenthalts völlig offen ist.
Der Bund hat nun sehr schnell Schutzstatus S aktiviert. Finden Sie das richtig?
Den hat man für solche Fälle. Ich finde das eine gute Lösung.
Dieser Schutzstatus ist erstaunlich liberal und viel humaner als alle bisherigen, zum Beispiel die vorläufige Aufnahme. Warum geht das jetzt plötzlich?
Es geht jetzt um Leute, welche direkt aus einem Kriegsgebiet flüchten und Schutz suchen, solange der Krieg dauert. Die wollen nicht hierbleiben. Die Schweiz ist bereit zu helfen und solidarisch.
Aber hätte man diesen Schutzstatus nicht schon beim Syrien-Krieg aktivieren sollen?
Die Syrien-Flüchtlinge sind in der allgemeinen Wahrnehmung nicht vergleichbar mit diesen Leuten, die jetzt kommen. Jetzt kommen Frauen und Kinder, die nicht bleiben wollen. Damals kamen mehrheitlich junge Männer, das zeigen die Zahlen.
Die Familien aus Syrien sind doch aus einer vergleichbaren Kriegs-Situation geflohen und haben Schutz gesucht. Sie haben daher um das gebeten, was sie damals in der Schweiz konnten, nämlich Asyl. Das war doch die gleiche Situation wie jetzt.
Es gibt, wie gesagt, klare Unterschiede. Diese Fragen werden aber auf Bundesstufe entschieden, also müssen Sie dort nachfragen. Ich will nicht, dass die Leserschaft glaubt, das sei mein Ressort, das haben schon «Bund/BZ» immer versucht.
Ich frage Sie nach Ihrer politischen Einschätzung. Jetzt haben wir die Situation, dass eine Ukrainerin, die in der Schweiz aufgenommen wurde, in Europa reisen kann, hingegen ein vorläufig aufgenommener Syrer, der seit mehreren Jahren in der Schweiz lebt, nicht. Finden Sie das richtig?
Sie wiederholen sich.
Wie liberal sind Sie eigentlich – gerade im Migrationsbereich?
Sehr liberal.
Ist unsere europäische Abschottungspolitik mit den liberalen Werten vereinbar?
Sehr sogar. Wenn wir das nicht machen, werden wir bald niemanden mehr aufnehmen können. Wir können die Abgewiesenen nicht so behandeln, wie jene, die Asyl erhalten. Wenn alle kommen dürfen, funktioniert rasch nichts mehr. Dann können wir auch die wirklich Verfolgten nicht mehr aufnehmen. Auch keine Ukrainer*innen mehr. Es gibt ein demokratisch legitimiertes System. Die Entscheide von Ämtern und Gerichten gelten. Ich höre selten Kritik am System, die Kritiker zielen immer auf einzelne Amtsträger.
Auch in einem demokratischen Staat gibt es Ungerechtigkeiten. Ich kenne eine alleinerziehende Eritreerin, die mit ihren Töchtern gerade einen negativen Asylentscheid erhalten hat. Sie versteht nicht, warum sie völlig anders behandelt wird als die Geflüchteten aus der Ukraine.
Es gibt Regeln. Es ist nicht so, dass wir aus diesen Ländern niemanden aufnehmen. Aber wenn wir keine Regeln haben, dann haben wir Korruption. Wenn Sie direkt betroffen sind, dann sind Sie nicht objektiv. Wer im demokratischen Prozess verliert, sieht das oft als «ungerecht» an.
Ich bin selbst nicht betroffen. Ich bin aber aus erster Hand informiert, welche Auswirkungen unsere Asylpolitik hat. Daher stelle ich diese Fragen. – Im Grenzgebiet zum äthiopischen Tigray, wo die Frau früher lebte, findet auch eine kriegerische Auseinandersetzung statt.
Jetzt gehen Sie wieder auf eine Ebene, für die wir beide nicht zuständig sind und die Bedingungen nicht kennen. Ich kenne den Fall nicht. Das ist in der Zuständigkeit von Bund und Bundesverwaltungsgericht. Es gibt keinen Grund, diese Entscheide zu hinterfragen.
Ich frage Sie nach Ihrer Einschätzung als Politiker, der mitten in diesem Asylbereich arbeitet. Eritrea ist eines von fünf Ländern, das die UNO-Resolution zu Russlands Angriff auf die Ukraine abgelehnt hat. Die andern sind Nordkorea, Syrien, Weissrussland und Russland. In dieses Land sollen die Menschen zurückkehren?
Es ist die Zuständigkeit der Bundesbehörden. Wer das anders will, soll versuchen, das zu ändern. Aber dafür braucht es politische Vorstösse. Es gibt zum Beispiel ein Arbeitsverbot für Abgewiesene, aber null Bewegung der linken Seite, das zu ändern. Weil sie wissen, dass sie praktisch chancenlos sind. Da «basht» man lieber Politiker. Was den direkt Betroffenen überhaupt nichts bringt.
Die abgewiesenen Eritreer*innen reisen nicht aus, weil für sie eine Rückkehr nach Eritrea schlimmer ist als das Leben in einem Rückkehrzentrum. Diese Sans-Papiers sind eine Realität. Nach einer gewissen Zeit können diese Personen bei Ihnen Härtefallgesuche stellen. Wie viel Prozent dieser Gesuche leiten Sie an den Bund weiter?
Wir leiten solche weiter, die Chancen auf Gutheissung haben. Bei Einzelpersonen geht das grundsätzlich erst nach zehn Jahren. Härtefälle sind Ausnahmen. Man kann halt nicht gleich nach dem Asylentscheid ein Härtefallgesuch nachschieben. Mich stört zunehmend das Verhalten gewisser Hilfs-Organisationen, die oft falsche Informationen verbreiten und so den Menschen falsche Hoffnungen machen.
Würden Sie nach Eritrea zurückkehren?
Falsche Frage.
Ich frage Sie nach ihrer Meinung dazu.
Ja, es ist möglich und zumutbar. Das sagen die zuständigen Stellen, und es gibt für mich keinerlei Grund, daran zu zweifeln. Diese Leute können zurück, wollen aber nicht. Die Flüchtlings-Organisationen machen Menschen oft falsche Hoffnungen. Die NGOs sollten besser mitarbeiten, dass abgewiesenen Asylsuchende zurückgehen. Zum Verhalten der NGOs sollten die «Hauptstadt» und andere Medien endlich mal recherchieren. Statt zurückzugehen und dort zu arbeiten, bleiben die Abgewiesenen hier, in einem Rückkehrzentrum, wo sie ein schweizweites Arbeitsverbot haben.
Es gibt aber auch Sans-Papiers, die viele Jahre hierbleiben. Das betrifft zwar in erster Linie die nationale Politik, aber diese Leute sind bei Ihnen in den Kantonen. Bund und Kantone könnten hier den Handlungsspielraum bei Härtefällen ausnutzen.
Das vielzitierte Märchen vom Handlungsspielraum. Und wenn man nachfragt, worin dieser besteht, kann es kein*e Parlamentarier*in erklären. Im Grossen Rat gab es einen erfolglosen linken Vorstoss, der verlangte, bei Härtefallgesuchen die Voraussetzungen des eidgenössischen Asylgesetzes zu missachten! Besser kann man nicht zugeben, dass es keinen Spielraum gibt. Unser System ist darauf ausgerichtet, dass diese Leute zurückgehen. Das ist ein demokratischer Entscheid. Es kann nicht sein, dass man sie nach einer bestimmten Zeit einfach mit einem Aufenthaltstitel belohnt, wie das Linke und NGOs wollen. Sonst geht niemand mehr zurück. Aber es stimmt: Wir haben keine Lösung für die, die lange bleiben. Sie sollten, auch in ihrem Interesse, rasch zurückgehen. Und die NGOs sollten das unterstützen, statt sie zu überreden, hier zu bleiben.
Zurück zum Krieg in der Ukraine. Was haben Sie gedacht an jenem Morgen, als Putin die Ukraine angriff?
An jenem Morgen war ich nicht mehr so überrascht. Aber vor dem Truppenaufmarsch hätte ich einen solchen Angriff nicht erwartet.
Als erstes haben Sie hämisch auf die linken Armee-Abschaffer*innen verwiesen.
Das war nicht hämisch. Das hat damit zu tun, dass sie sich von der Ideologie lösen sollten. Der politisch eindrücklichste Moment war, als ich die Aussagen der grünen deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock zur Aufrüstung hörte. Sie tönte wie eine Freisinnige. Es wäre gut, die Linke würde auch in der Schweiz einsehen, dass man sich jahrelang völlig verschätzt hat. Es gibt auch in Europa noch immer Krieg. Annalena Baerbock müsste für Regula Rytz ein Vorbild sein. Bei den Linken und Grünen in der Schweiz ist der Zwanziger im Gegensatz zu Deutschland noch nicht gefallen. Das ist einfach nur fahrlässig.
Sie waren Major bei der Infanterie. Könnte die Schweiz einem russischen Angriff derzeit standhalten?
Die Armee kann die Polizei in diversen Situationen unterstützen, darum interessiert mich das. Die Ausbildung in der Armee ist modern und gut. Aber wir bräuchten das nötige Material, das man der Schweizer Armee 30 Jahre lang verweigert hat. Wir haben lange nur 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Verteidigung ausgegeben. Andere europäische Länder haben deutlich mehr ausgegeben. Und: Dass man sich wehren kann, zeigt die Ukraine eindrücklich.
Die Schweizer Armee hat ja schon eine durchaus moderne Ausrüstung.
Nur zum Teil und viel zu wenig. Dänemark oder Holland oder die neutralen Finnen und Schweden haben zum Beispiel klar mehr für Rüstung ausgegeben. Sie können ausrechnen, wieviel der Armee vorenthalten wurde, wenn Sie seit 1990 den gleichen Prozentsatz des BIP für Verteidigung für die Schweiz einsetzen, wie ihn zum Beispiel Dänemark hatte. Resultat: Uns fehlen gut 15 Prozentpunkte des BIP, das heisst, über 50 Mrd. Franken. Die Armee stünde viel besser da.
In erster Linie schützen uns derzeit die Nachbarstaaten, die EU und die Nato. Wenn die Schweiz nun aufrüstet, müsste man dann nicht auch der Nato beitreten?
Dass wir uns auf andere verlassen, ist völlig unsolidarisch. Schon das müsste der Linken zu denken geben. Die Schweiz ist neutral. Aber es ist klar: Wenn man angegriffen wird, gilt die Neutralität nicht mehr. Die Schweiz würde wohl erst angegriffen, wenn schon andere Länder involviert sind. Das würde zu Allianzen führen. Solange sie nicht angegriffen wird, ist die Schweiz aber neutral.
Ist diese Neutralitätspolitik eine gute Sicherheitspolitik?
Die Neutralität ist international breit akzeptiert und respektiert. Und sie gibt der Schweiz Spielraum, Stichwort «gute Dienste», Friedenskonferenzen, Vermittlung etc. Etwas anderes ist nicht mehrheitsfähig. Aber die Schweiz muss in Europa ihren Beitrag leisten zur Sicherheit. Die Schweiz hat bei der Rüstung Nachholbedarf. Der aktuelle Krieg zeigt, dass man sich verteidigen kann.
Die Rüstungsausgaben – die Sie kritisieren – wurden in den letzten 30 Jahren von bürgerlichen Mehrheiten im Parlament beschlossen.
Es ist eine linke Sicherheitspolitik, beschlossen von einer bürgerlichen Mehrheit. Man hat viel zu stark abgebaut.
Warum sind denn die Linken schuld?
Die Bürgerlichen tragen noch mehr Verantwortung als die Linken. Aber sie standen unter dem Druck der Medien.
Die Linken und die Medien seien schuld, wenn die Bürgerlichen falsch entscheiden: Diese Aussage ist grotesk.
Die Schweiz hat eine linke Sicherheitspolitik, welche die SP zusammen mit den Medien forciert hat. Aber es stimmt auch ganz klar, dass die Bürgerlichen zu wenig gemacht haben, sich nicht getraut haben. Zeitungsbeiträge über die Armee sind fast immer negativ. Über den Einsatz der Armee beim Gipfel Biden-Putin in Genf wurde nichts berichtet – es könnte ja positiv sein für die Armee. Die SRF-Rundschau ist zu einer Filiale der GSoA verkommen. Die meisten Journalisten haben keine Ahnung vom Thema, mit Ausnahme der NZZ.
An den Kantonswahlen vom 27. März können Sie mit einer Wiederwahl rechnen. Dennoch reden Sie im Wahlkampf oft so, als seien nur die anderen Politiker*innen ideologisch und Sie selbst wüssten, wie es läuft. Das ist doch für einen aufgeklärten Freisinnigen etwas gar plump.
Das ist Quatsch. Ich vertrete einfach meine Positionen. Wie alle anderen auch.
In ihrem neusten Wahlkampf-Video behaupten Sie, dass rot-grüne Regierungsräte bei der Juso antraben müssten, falls dieser ein Entscheid nicht passe. Darum sehen Sie unter rot-grüner Mehrheit eine freie Diskussion als gefährdet. Gauben sie das wirklich?
Das ist die Realität.
Das wäre, als würde man Ihnen vorwerfen, Sie müssten vor jedem Entscheid den Industrievereins-Präsidenten Daniel Arn anrufen.
Auf unserer Seite passiert das einfach nicht. Ich wurde nicht ein einziges Mal von meiner Partei oder einem Wirtschaftsverband gefragt, wie ein Regierungsentscheid zustande kam und mir wurde auch nie gesagt, was ich zu tun hätte. Das ist genau der Unterschied.
Sie wollen sagen, Ihr Regierungsrats-Kollege Christoph Ammann trabe brav bei der Juso an?
Nicht brav, eher ungern. Und auch nicht jetzt, aber wenn es eine linke Mehrheit gäbe, schon. Dann würde die Juso bei unbeliebten Entscheiden Druck machen.
Das würde Frau Allemann und Herrn Ammann nicht kümmern.
Wenn die ganze Partei Druck macht, ist das was anderes. Bei der SP hat die JUSO das Sagen.
Warum haben Sie eine derart tiefe Abneigung gegen linke Parteien?
Es ist keine Abneigung. Ich versuche sie einfach auf Widersprüche aufmerksam zu machen. Die Medien machen das ja kaum. Umgekehrt ist es bei der Linken Abneigung: Wenn jemand anderer Meinung ist, dann ist diese Person ein schlechter Mensch. Am augenfälligsten bei Asylfragen.
--
Was hältst du von den Einschätzungen von Philippe Müller? Wie erlebst du die Situation um die aktuell oder schon früher in die Schweiz geflüchteten Menschen? Schreib eine Mail auf [email protected].