Fit für die Kantonswahlen

Diese Woche haben die Stimmberechtigten das dicke Couvert mit den Unterlagen für die Kantonswahlen erhalten. Die wenigsten mögen es öffnen. Was jetzt? Ein kleiner politischer Fitnesskurs mit der «Hauptstadt» – für Neu- und Alt-Wählende.

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Lieber nicht: Nicht einmal jede*r dritte Stimmberechtigte nimmt an Berner Kantonswahlen teil. (Bild: Manuel Lopez)

Kantonspolitik ist Knochenarbeit. Für die, die wählen. Und für die, die gewählt werden wollen.

Alle vier Jahre im März finden die Wahlen für Regierungsrat und Grossen Rat statt. Meistens fegt, wie dieses Jahr auch, in den paar Wochen des Wahlkampfs die Bise übers Land, als wollte sie einen allzu heftigen Ausbruch des wahlkämpferischen Feuers einfrieren.

In der Frühlingskälte stehen Kandidierende tapfer an Ständen in Quartieren, Agglomerationsgemeinden oder Dörfern, und versuchen sich am spärlichen Interesse zu erwärmen, das ihnen entgegentröpfelt. Oder mit klammen Fingern ein Selfie zu knipsen für ihre sonst verwaisten Social-Media-Profile.

Kantonspolitik findet weitgehend in der Anonymität statt. Selbst gestandene Grossrät*innen müssen sich den Leuten im Wahlkampf oft mit Namen vorstellen. Und wer kann schon die sieben Berner Regierungsmitglieder aufzählen? (Man kann, wenn man diesen «Hauptstadt»-Artikel liest).

Zum Dessert strafen am Wahltag die Stimmberechtigten die Kantonspolitik mit Nichtbeachtung: Die Beteiligung an Berner Kantonswahlen gehört zu den tiefsten der Schweiz und erreicht jeweils nur gut 30 Prozent. Das mag damit zusammenhängen, dass sie an einem Termin stattfinden, an dem es keine anderen Abstimmungsvorlagen gibt.

Wobei: Bei den unter gleichen Bedingungen angesetzten Eidgenössischen Wahlen 2019 betrug die Wahlbeteiligung im Kanton Bern 50 Prozent, bei den Lokalwahlen in der Stadt Bern 2020 wählten über 53 Prozent der Berechtigten.

«Die Kantone verlieren laufend an Autonomie.»

Rahel Freiburghaus, Politologin

Bis heute Samstag muss das offizielle Wahlmaterial ordnungsgemäss bei den Wahlberechtigten sein. Dann allerdings beginnt das Problem: Wie kann man sich als Wählende*r grob orientieren und möglichst schnell fit machen für das fette Couvert?

Rahel Freiburghaus, Politologin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern, befasst sich in ihrem Dissertationsprojekt mit der Rolle der Kantone. Sie steuert einige Überlegungen bei, damit man sich beim Wühlen in den Wahlunterlagen rascher zurechtfindet.

Ist Kantonspolitik überhaupt wichtig?

Sie ist es.

Auf den ersten Blick sogar wichtiger als Gemeinde- oder Bundespolitik. Besonders, wenn man in Betracht zieht, um wie viel Geld es geht. Gut 40 Prozent der Steuern, die wir entrichten, fliessen an den Kanton, je ungefähr 30 Prozent an Bund und Gemeinden. Kantonspolitiker*innen hantieren also am grössten finanziellen Hebel, mit dem die öffentliche Hand in unser Leben eingreift.

Umso befremdlicher, dass nur eine Minderheit alle vier Jahre bestimmt, welche Personen das tun. 

Föderalismusspezialistin Rahel Freiburghaus plädiert jedoch für einen differenzierten Blick: «Die Kantone verlieren laufend an Autonomie», sagt sie. Vor allem gegenüber dem Bund.

Die Kantone erheben zwar hohe Steuern, haben aber immer weniger Spielraum, um damit etwas anzufangen.

Die Kurve des kantonalen Einflusses hat einen klaren Abwärtstrend seit 1848. Die moderne Schweiz begann mit einer 80-köpfigen Bundesverwaltung. Der Finanzhaushalt des Kantons Bern war damals sogar grösser als derjenige des ganzen Landes. Heute jedoch übernimmt der Bund in immer mehr Bereichen die Gesetzgebung. Den Kantonen bleibt die aufwändige Umsetzung. 

Salopp gesagt: Die Kantone erheben zwar hohe Steuern (Bern ganz besonders), aber es bleibt ihnen immer weniger Spielraum, um damit etwas anzufangen.

Was hat Kantonspolitik mit unserem Alltag zu tun?

Bildung, Gesundheit, Strassenbau, öffentliche Sicherheit: Das sind Bereiche, in denen der Kanton relativ viel selber bestimmen kann. Sonst aber ist Kantonspolitik dazu verurteilt, sich in den Widersprüchen zu verheddern, die entstehen, wenn grosse Politik in der gelebten Realität ankommt.

Fast bei jedem Thema klopft der Kanton mit seinen Regelungen in unserem Alltag an – aber alles auf den Kopf stellen kann er meist doch nicht. Aktueller Klassiker ist die Klima- und Energiepolitik. Der Bund gibt die Energiewende vor, die sich im Klimaartikel in der Kantonsverfassung und im kantonalen Energiegesetz abbilden sollte. Wenn das Volk dann aber die konkrete Umsetzung – Verbot von Ölheizungen, ökologische Motorfahrzeugsteuer – ablehnt, folgt: Kantonspolitik by Ratlosigkeit.

Hat der Regierungsrat Spielraum zum Regieren? 

Bei diesen Wahlen vom 27. März steht – vordergründig –  ein Thema im Fokus: Schafft es Rot-Grün mit dem Bieler Stadtpräsidenten Erich Fehr (SP) zum dritten Mal in der Berner Geschichte, die Mehrheit in der Regierung zu holen? Oder gewinnt Astrid Bärtschi (die Mitte) und bestätigt damit die bürgerliche Mehrheit?

Führt man sich den schwindenden Spielraum der kantonalen Ebene vor Augen, muss man sich allerdings fragen, wie wichtig das vermeintlich grosse Thema dieser Wahlen überhaupt ist. «Ein berechtigter Einwand», sagt Rahel Freiburghaus. Nach ihrer Einschätzung ist eine starke Persönlichkeit für die Prägung der Regierung mindestens so wichtig wie die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse. Besonders, weil auch das Anforderungsprofil an Regierungspersonen komplexer wird.

Regierungsrät*innen sind nicht nur Magistrat*innen, sondern immer stärker auch Lobbyist*innen. Um etwas von ihrem schwindenden Einfluss wettzumachen, schmieden sie Allianzen mit Regierenden anderer Kantone, um ihre Anliegen gebündelt beim Bund zu vertreten. Sich smart mit den Bundesparlamentarier*innen des eigenen Kantons zu vernetzen, ist eine weitere neue Kernaufgabe von Regierungsrät*innen, bei der die politische Couleur sekundär ist.

Was nicht bedeutet, dass die Parteizugehörigkeit irrelevant ist – aber sie ist in enge Fesseln gelegt.

«Eine Grossrätin oder ein Grossrat in Bern, das ist eigentlich jemand.»

Rahel Freiburghaus, Politologin

Kommt hinzu, dass die Berner Regierung vom Parlament besonders eng an der Leine geführt wird. Als Folge des Berner Finanzskandals in den 1980er-Jahren, als im Regierungsrat illegale Kässeli aufgedeckt wurden, hat der Grosse Rat seine Kontroll- und Aufsichtskompetenzen sukzessive ausgebaut. Er gehört heute  gemäss von Politolog*innen erstellten Rankings zur nationalen Spitze, wenn es darum geht, den Regierenden aufsässig auf die Finger zu schauen.

Das kann tüchtig an den Nerven ziehen: Regierungsrat Christoph Neuhaus (SVP), der wegen illegaler Kiesdeponien in Mitholz von der Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Grossen Rats heftig kritisiert wurde, sagte in «Bund/Berner Zeitung» über GPK-Präsident Peter Siegenthaler (SP): «Wir werden in diesem Leben kaum mehr Freunde.»

Ist der Grosse Rat der Chef?

«Eine Grossrätin oder ein Grossrat im Kanton Bern, das ist eigentlich jemand», sagt Rahel Freiburghaus über das institutionelle Gewicht der Berner Parlamentarier*innen. Bedeutet auch: Wähler*innen müssten sich auf den Grossen Rat konzentrieren, wenn sie an der kantonalen Politik etwas verändern (oder das verhindern) wollen.

A propos verändern: Das Berner Kantonsparlament hatte immer eine bürgerliche Mehrheit, als wäre es ein Naturgesetz. Bleibt das so und käme es in der Regierung gleichzeitig zu einer rot-grünen Mehrheit, droht eine unproduktive Blockade. Der Grosse Rat würde die Regierung ständig zurückpfeifen. Zudem müsste man mit einer Zunahme von Referenden rechnen, was den politischen Prozess verlangsamen würde. 

Aber es muss auch in Bern nicht zwingend bleiben, wie es ist. Aktuell haben SVP, FDP und die Mitte genau 80 der 160 Sitze, zusammen mit der rechten EDU kommen die bürgerlichen Parteien auf 85 Sitze. SP und Grüne haben 53 Sitze.

Sich durch die Kandidierenden für den Grossen Rat zu arbeiten, ist ein hartes Stück Arbeit.

Analysiert man alle 12 kantonalen Wahlen seit den Eidgenössischen Wahlen 2019, wie das der Berner Politologe Werner Seitz getan hat, zeigt sich ein klarer Trend: Die Bundesratsparteien (FDP, SVP, die Mitte, SP) verlieren, Grüne und Grünliberale legen zu. Stellt man zusätzlich in Rechnung, dass in den Agglomerationen um die grösseren Berner Städte bei Gemeindewahlen zuletzt eine latente Tendenz zu Rot-Grün zu beobachten war, könnte die bürgerliche Dominanz im Grossen Rat aufgeweicht werden.

Damit würde am 27. März ein neues politisches Kapitel für den Kanton Bern geschrieben.

Wie wählt man effizient? 

Unabhängig davon, ob man die Veränderungsaussichten begrüsst oder verabscheut: Sich durch die Kandidierenden für den Grossen Rat zu arbeiten, ist für Wählende ein hartes Stück Arbeit. Unglaubliche 2213 Personen – neuer Rekord – bewerben sich für einen der 160 Sitze, die immerhin aufgeteilt sind in neun Wahlkreise.

Als Motivations- und Orientierungshilfe für eilige Grossrats-Wählende, die sich nicht in die politische Feinmechanik vertiefen mögen, dient vielleicht ein Blick auf die aktuelle Zusammensetzung des Parlaments: Der Frauenanteil beträgt bloss 35 Prozent und ist in den letzten Jahren nur unmerklich gewachsen. Und: Zwei Drittel der Grossrät*innen sind 50-jährig und älter.

Wo der Grosse Rat – jenseits aller politischer Präferenzen – dringend einen Veränderungsschub nötig hätte, ergibt sich von selbst.

PS: Wünschst du dir noch mehr Informationen zu den Kantonswahlen am 27. März? Schreib uns, was dich interessieren würde an [email protected].

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