Schule aus dem Baukasten

Auf dem Gaswerkareal steht ein neues Schulprovisorium. Statt Container-Tristesse wartet ein Hightech-Modulbau auf die Schüler*innen. Kostenpunkt: 23 Millionen Franken.

Volksschule Gaswerkareal
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© Danielle Liniger
Das Provisorium steht, die Bäume brauchen noch Zeit, um zu wachsen. (Bild: Danielle Liniger)

Lorenz Krattinger hat 17 Jahre als selbstständiger Architekt gearbeitet. Schicke Einfamilienhäuser habe er entworfen, manchmal mit Schwimmbad, sagt er. Tempi passati. Mittlerweile ist er in den Diensten der Stadt Bern und kümmert sich unter anderem um das Schulprovisorium Gaswerkareal, auf dem er an diesem Freitag Ende Juni steht. 

Schulprovisorium – dieses zusammengesetzte Nomen mag den Charme orthopädischer Einlegesohlen versprühen. Doch Krattingers Augen leuchten, wenn er über die neuen Bauten zwischen Gaskessel und Monbijoubrücke spricht. Woran das liegt, zeigt er bei einem Rundgang. 

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Die Traglufthalle – hier in der Innenansicht – dient dem Sportunterricht. (Bild: Danielle Liniger)

Krattinger läuft über einen Kiesplatz, vor dem sich zwei Modulbauten, eine Traglufthalle für den Sportunterricht und ein Garderobengebäude aufreihen. Sie bilden das neue Schulprovisorium im Marzili. Zwei Baucontainer und ein Bagger zeugen davon, dass letzte Arbeiten noch abgeschlossen werden müssen. Im Aussenbereich sind gepflanzte Bäume und ein Wasserspielbereich zu sehen. Ansonsten dominieren Beton und Kies.

Zwei Geschwindigkeiten

Für ein städtisches Bauprojekt dieser Grössenordnung sei alles sehr schnell gegangen. «Und das hat gfägt», sagt Krattinger, der ansonsten längere Bauzyklen gewohnt ist. Nur gerade acht Monate werden zwischen dem Baustart und dem ersten Schultag am 11. August vergangen sein. Dass der Zeitplan so eng war, hing auch mit der Sanierung der Volksschule Kirchenfeld zusammen, die sich immer weiter verzögerte. Einsprachen blockierten das Projekt jahrelang. Das Baugesuch für die Sanierung und Erweiterung der Volksschule Kirchenfeld drohte deshalb abzulaufen.

Es sind die Schulkinder aus dem Kirchenfeld, die als erstes in das Provisorium ziehen. Anschliessend folgen voraussichtlich ab 2028 die Schüler*innen der Volksschule Sulgenbach, weil auch diese saniert werden soll. Die Bewilligung für das Provisorium läuft vorerst für zehn Jahre. Anschliessend kann es abgebaut und an anderer Stelle in der Stadt wieder errichtet werden – ein mittlerweile etablierter Prozess, der gerade wieder in der Manuelschule im Osten Berns erprobt wird. 

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Vorne noch Pflasterarbeiten, hinten bald Pädagogik: Das Schulgebäude von der Monbijoubrücke aus fotografiert. (Bild: Danielle Liniger)

Bevor das erste vorgefertigte Holzmodul angeliefert werden konnte, mussten auf dem Gaswerkareal einige Altlasten beseitigt werden, die aus der früheren industriellen Nutzung stammen. Fast drei Jahre nahm das in Anspruch. Bagger hätten bis in elf Meter Tiefe Erde ausgehoben, so Krattinger. 

Warum gibt es überhaupt Schulprovisorien?

Schulprovisorien werden vor allem errichtet, damit die Schulkinder während der Sanierung ihres Schulhauses weiterhin im gleichen oder einem unmittelbar benachbarten Schulstandort unterrichtet und betreut werden können. Das teilt die für das Schulwesen zuständige Stadt Bern auf Anfrage mit. Der Vorteil von Modulbauten sei, dass sie flexibel zusammengesetzt und nacheinander an verschiedenen Standorten eingesetzt werden können. Zurzeit seien sechs Modulbauten in den Schulanlagen Munzinger, Brünnenpark, Wyssloch und Steigerhubel im Einsatz. Ein Modulbau wird im Sommer 2025 von der Schulanlage Kleefeld in die Schulanlage Manuel verschoben. Zwei weitere werden, wie im Text erwähnt, im Sommer 2025 auf dem Gaswerkareal in Betrieb genommen.

Im Brünnenpark im Berner Westen stehen sogar drei Modulbauten, weil dort gemäss der Stadt über einen Zeitraum von 20 Jahren mehrere Schulanlagen saniert und erweitert werden müssen. 

Erweiterungen von Schulhäusern und daraus resultierende Umbauarbeiten werden nötig, weil die Schüler*innenzahlen in der Stadt Bern aller Voraussicht nach in den nächsten Jahren weiter steigen werden. Von heute rund 11’800 auf 13’400 Schüler*innen in zehn Jahren. Das entspricht ungefähr 80 neuen Schulklassen. Steigende Schüler*innenzahlen können Provisorien nötig machen, weil bei Sanierungen weniger Ausweichmöglichkeiten in der bestehenden Schulanlage bestehen.

Provisorisch in Perfektion

Krattinger führt durch das Schulgebäude, in dem ab August zwölf Klassen und eine Tagesbetreuung für Schulkinder untergebracht sind. Wer in der eigenen Schulzeit ein Provisorium kennengelernt hat, und dieses womöglich mit einem überdimensionierten, schlecht isolierten Baucontainer in Verbindung bringt, wird hier eines Besseren belehrt. Gänge und Klassenzimmer strahlen in hellem Holz und duften auch nach diesem. Es gibt grosse Fensterfronten. Auf dem Dach befindet sich eine Photovoltaikanlage, die mehr Strom produziert als das Gebäude dereinst verbrauchen wird. An der Aussenwand der Modulbauten befinden sich Lüftungsschlitze, die eine Auskühlung über Nacht ermöglichen. So sind die Räume auch in der Juni-Hitze relativ kühl.

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Aussparungen an Decken und Wänden lassen auch im Inneren erkennen, wo das jeweilige Modul zusammengesetzt wurde. (Bild: Danielle Liniger)

Wandtafeln, Projektoren, WCs, Beleuchtung – alles hat eine hohe Qualitätsanmutung. Gemäss der Stadt erfüllt das Schulprovisorium damit alle Standards, die auch ein Neubau einhalten muss – unter anderem bei der Klimatisierung, wo es den Minergie-Eco-Standard erfüllt. Immerhin hat das Schulprovisorium auch einen Baukredit von 23,4 Millionen Franken nötig gemacht, den die Stimmbevölkerung im letzten Jahr annahm. Zum Vergleich: Für die Sanierung und Erweiterung der Volksschule Kirchenfeld ist ein Baukredit von rund 46 Millionen Franken fällig.

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Einzig Tische und Stühle fehlen noch. (Bild: Danielle Liniger)

Von innen ist kaum noch zu erkennen, was der Schulraum eigentlich ist: Eine Ansammlung aus 144 Modulen, die innerhalb von drei Wochen von Monteur*innen ineinander gesteckt wurden. Sie stammen vom Hersteller Blumer und Lehman aus Gossau, der sich auf diese Art der Holzmodulbauweise spezialisiert hat. Der Innenausbau nahm dann nochmals drei Monate in Anspruch. Beim Rundgang Ende Juni hebt ein Handwerker eine Tür aus den Angeln. Die sei falsch bestellt worden, sagt er – ansonsten scheint alles parat. Nur das Mobiliar fehlt noch. Es wird nach Schuljahresende aus dem Schulhaus Kirchenfeld hinüber gezügelt. 

Vorreiterrolle? 

Ein Blick aus den Klassenzimmern in die Nachbarschaft verdeutlicht, in welchem Sozialraum das Schulraumprovisorium da eigentlich gelandet ist. Auf der einen Seite wölben sich die mit Graffitti verzierten Gaskessel des gleichnamigen Jugendkulturvereins in den Himmel. Dahinter zeugen die Bauwagen der Anstadt von alternativen Lebensentwürfen. Beinahe als Kontrastprogramm dazu schmiegt sich eine Villa mit Garten in Stadtbesitz ans Schulareal.

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Schutzwände trennen Traglufthalle, Gaskessel und Schulgebäude voneinander ab. (Bild: Danielle Liniger)

«Ich finde den gesamten Raum extrem spannend», sagt Krattinger. Dieser erstreckt sich in anderer Richtung weiter bis zur Monbijoubrücke, unter der laut Krattinger einige Zwischennutzungsprojekte in Zusammenarbeit mit Schüler*innen entstehen sollen. Solche Aussagen verdeutlichen: Für die Stadt handelt es sich um mehr als nur um ein Schulraumprovisorium. Für die gesamte Quartierentwicklung, die noch am Anfang steht, ist es eine Art Anker, ein Lackmustest. Gelingt es der Stadt, zwischen dem Neuankömmling und den angestammten Akteuren ein gutes Verhältnis zu etablieren, dürfte das auch der geplanten Überbauung zuträglich sein. Immerhin ist auf dem Areal ein neues Quartier mit 300 bis 500 neuen Wohnungen vorgesehen. Über entsprechende Vorlagen, welche Umzonung, Baurecht und einen Kredit betreffen, wird die Stadtberner Bevölkerung voraussichtlich Ende November abstimmen

Einen Vorgeschmack auf geplante Hochbauten im Stadtquartier bietet ein 20 Meter hoher Holzturm. Es ist das einzige Element des Provisoriums, das noch nicht fertiggestellt ist. Der Turm mit Treppe wird es Schüler*innen ermöglichen von der Monbijoubrücke direkt ins Schulareal zu gelangen.

Weil er fehlt, verlängert sich beim Schulstart im August der Schulweg für Schüler*innen um 200 Meter: Sie müssen dann die gesamte Monbijoubrücke überqueren und können erst über die Treppen- und Liftanlage beim Brückenkopf West zur Sandrainstrasse gelangen. Der verzögerte Turmbau sorgte für Unmut bei den Eltern. Sie deponierten einen Protestbrief mit 70 Unterschriften bei der Stadt Bern, in dem sie auch die Schulwegsicherheit kritisieren. Die Stadt hält dazu fest, dass eine Inbetriebnahme des Treppenturms aufgrund des Bewilligungsprozesses nicht zum Schuljahresbeginn möglich ist.

Somit werden die Schüler*innen zumindest in den nächsten Wochen auf einem provisorischen Schulweg zur provisorischen Schule unterwegs sein. Bleibt zu hoffen, dass zumindest das angeeignete Wissen von längerer Dauer ist.

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