Schule der Gerechtigkeit

Unser Philosophie-Kolumnist besucht eine Schule und erhält von den Schülerinnen und Schülern eine wichtige Lektion über Gerechtigkeit.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Vergangene Woche habe ich an einer Projektwoche in einer Schule im Umland von Bern teilgenommen. Ich war als Philosoph eingeladen und sollte mit den Kindern einer 3. Klasse über das Thema Gemeinschaft reden. Die Schule war in traumhafter Landschaft gelegen, die Lehrpersonen waren sehr herzlich und die gut zwanzig Kinder haben wunderbar mitgemacht.

Ich habe viel gelacht in der Stunde, die ich mit ihnen verbringen durfte; die ganze Erfahrung hat mich sehr glücklich gemacht. Und dann habe ich von den Kindern auch noch eine wichtige philosophische Lektion gelernt, obwohl ich doch derjenige war, der ihnen etwas beibringen sollte.

Für den letzten Teil der Stunde hatte ich mir überlegt, das Problem der Gerechtigkeit zu thematisieren. Geht es um die Frage nach dem «Wir», scheint Gerechtigkeit zentral zu sein: Keine Gemeinschaft kann gut funktionieren, wenn es nicht irgendwelche Mechanismen gibt, die in ihr für Gerechtigkeit sorgen.

Was ist Gerechtigkeit?

In der Philosophie wird seit Jahrhunderten darüber gestritten, was Gerechtigkeit ist. Die dominanten Positionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind der Libertarismus, wie er etwa von Robert Nozick vertreten wurde, und der liberale Egalitarismus von John Rawls. Es ist insbesondere die Theorie der Gerechtigkeit von Rawls, die zu den zentralen Ansätzen in der politischen Philosophie gehört und bis heute sehr einflussreich geblieben ist.

Libertarier wie Nozick verstehen unter Gerechtigkeit, dass Eigentum, das Personen sich selbst erarbeitet haben, unantastbar ist. Nozick zufolge ist jede von uns die Schmiedin des eigenen Glücks und Umverteilungen von Ressourcen stehen prinzipiell im Verdacht, ungerecht zu sein.

Sind Steuern Diebstahl?

Steuern sind dieser Auffassung nach Diebstahl. Wenn es nach Libertariern ginge, würde es keine vom Staat finanzierten Leistungen geben, ausser vielleicht im Bereich der Exekutive, die dafür sorgen würde, dass Diebe und Mörder den freien Warenverkehr nicht stören. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einem «minimalen Nachtwächterstaat».

Der Vorschlag von Rawls ist ganz anders. Aber er stellt keinen radikalen Gegensatz zu der libertaristischen Theorie von Nozick dar. So ein radikaler Gegenvorschlag würde die Freiheit des Libertarismus zugunsten der Gleichheit opfern – etwa über die Forderung nach Umverteilungen, Enteignungen und Verstaatlichungen. Rawls ist aber kein Marxist. Er möchte die Freiheit mit der Gleichheit versöhnen. Seine Theorie der Gerechtigkeit ist ein Kompromissvorschlag.

Akzeptable Ungleichheiten

Gemäss diesem Kompromissvorschlag können ökonomische Ungleichheiten in einer Gesellschaft durchaus akzeptabel sein. Und auch gerecht. Es ist für Rawls völlig in Ordnung, wenn ein Gesellschaftsmitglied, das viel arbeitet, auch viel verdient. Aber die dadurch entstehenden Ungleichheiten müssen ein bestimmtes Kriterium erfüllen: Sie müssen den am schlechtesten gestellten Gesellschaftsmitgliedern zugutekommen.

Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit lässt sich auf diese Weise als ein Plädoyer für einen kapitalistischen Wohlfahrtsstaat lesen – einen Staat, in dem Einzelne nach materiellem Wohlstand streben können, aber einen Teil davon abgeben müssen, um Personen, denen es aus welchen Gründen auch immer, weniger gut geht, unter die Arme zu greifen. Oder um etwas für die Gemeinschaft zu tun.

Schön und gut, mag man denken, aber warum sollte man dieser Auffassung sein? Es gibt heutzutage mehr als genug Menschen, denen jegliche Umverteilungen verdächtig sind. Die nicht einsehen, warum sie Steuern für öffentliche Schulen entrichten oder Abgaben für Radio und Fernsehen zahlen sollten. 

Was antwortet man Menschen, die Freiheit über alles stellen, das «Prinzip Leistung» hochhalten und sich nicht um den Lohn ihrer Arbeit bringen lassen wollen?

Ein berühmtes Gedankenexperiment

An dieser Stelle kommt Rawls‘ Szenario des «Urzustands» ins Spiel. Wenn wir uns fragen, welche Verteilungsprinzipien gerecht sind, so Rawls, dann sollten wir uns diese Frage aus der Perspektive von Personen stellen, die sich in einer extrem künstlichen Position befinden – nämlich hinter dem «Schleier des Nichtwissens». 

Die Menschen in diesem Urzustand ohne Gerechtigkeit wissen nicht, welches Geschlecht und welche ethnische Zugehörigkeit sie haben und über welche Talente sie verfügen. Sie wissen nicht, ob sie aus einer wohlhabenden Familie stammen oder vielleicht in einem Heim aufgewachsen sind. Sie wissen nicht, welche Vorstellung von einem guten Leben sie haben, und sie wissen auch nicht, wie diskriminierend oder aufgeklärt die Gesellschaft ist, in der sie leben werden.

Das Ganze ist natürlich eine Fiktion. Ein philosophisches Gedankenexperiment eben. Aber es soll sicherstellen, dass die Gerechtigkeitsprinzipien, auf die sich die Menschen im Urzustand einigen, tatsächlich fair sind. Würde eine Person etwa wissen, dass sie ein Mann ist und Philosophie studiert hat, könnte sie versuchen, die Gerechtigkeitsgrundsätze so zu konzipieren, dass Philosophen bevorzugt werden.

Der Sozialstaat als Lösung

Weiss man das alles nicht, so Rawls, dann ist es vernünftig, sich auf ein Prinzip zu einigen, bei dem man im schlimmstmöglichen Fall immer noch einigermassen gut davonkommt: Eben das Prinzip, das Ungleichheiten erlaubt, wenn sie allen und vor allem den am meisten Benachteiligten zugutekommen. Der Wohlfahrts- oder Sozialstaat ist also rational die beste Lösung des Gerechtigkeitsproblems. 

Es wäre klarerweise keine gute Idee gewesen, hätte ich mit den Schulkindern innerhalb der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung stand, über Rawls, den «Schleier des Nichtwissens» und Gerechtigkeitsgrundsätze reden wollen. Glücklicherweise kann man aber die Grundidee von Rawls auf eine einfache Weise illustrieren, so dass sie intuitiv nachvollziehbar wird. Dazu braucht man am besten einen Kuchen.

Wie man ein Cake teilt

In meinem Fall waren es zwei Zitronencakes. Alle Kinder wollten etwas davon abhaben, und wir kamen schnell ins Gespräch darüber, welche Kuchenverteilungen ungerecht wären: Etwa die Verteilung von grösseren Stücken an Mädchen oder eine Verteilung, bei der nur die Kinder mit blonden Haaren etwas bekommen. Alle Kinder sollten ein gleich grosses Stück bekommen, das war relativ schnell klar. Wie sorgt man aber für Gleichheit? Wer soll die Stücke abmessen? Und wie wird sichergestellt, dass sie tatsächlich gleich gross sind?

An dieser Stelle habe ich eine Lösung des Problems à la Rawls vorgeschlagen: Ein Kind war zuständig für das Aufteilen der Cakes in gleich grosse Stücke. Aber – und hier kam der Rawls’sche Twist ins Spiel – zuerst würden alle anderen Kinder nacheinander ein Stück auswählen können. Das Kind, das die Stücke geschnitten hatte, würde das letzte Stück abbekommen. Die Tatsache, dass es auf diese Weise «am schlechtesten gestellt» sein sollte, war für das Kind mit dem Messer ein exzellentes Motiv, die Stücke so zu schneiden, dass sie möglichst gleich gross waren.

Soweit also die Theorie. Eins der Schulkinder begann mit dem Kuchenschneiden und erledigte die Aufgabe tatsächlich auf eine sehr gewissenhafte Weise. So gewissenhaft, dass ich nach einiger Zeit etwas ungeduldig wurde und in die Runde rief, dass die Kinder sich schon mal je ein Stück von dem ersten Cake nehmen sollte.

Chaos bricht aus 

Das war unaufmerksam von mir. Die Stücke waren noch nicht in der Mitte durchgeschnitten. Manche Kinder standen plötzlich mit Stücken in der Hand, die doppelt so gross waren wie die Stücke, die sie eigentlich hätten bekommen sollen. Ich geriet in Bedrängnis: «OK, alle legen bitte die Stücke nochmal zurück.»

Einige der Kinder legten ihre Stücke zurück. Andere hatten ihre schon «angeschleckt». Leichte Panik überkam mich. Was hatte ich da bloss angerichtet?

Am Ende hat jedes Kind ein Stück Zitronencake bekommen. Aber nicht alle ein gleich grosses. Das Kind, das für das Schneiden des Cakes zuständig war, hat seine Aufgabe wunderbar gemeistert. Die von Rawls inspirierte Verteilungsprozedur war eine tolle Idee. Und doch ist die Verteilung krachend gescheitert.

Futter für den Populismus

Nach der Stunde ist eines der Kinder an mir vorbeigelaufen und meinte enttäuscht: «Das hatte mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Es gab welche, die so getan haben, als hätten sie ihr Stück abgeschleckt.» Ich habe diesen Frust gut verstehen können. Und plötzlich habe ich mich viel besser in die Menschen hineinversetzen können, die sich in den letzten Jahren enttäuscht von der Demokratie abgewendet haben, weil sie sich unfair behandelt fühlten.

Es reicht eben nicht, dass man gerechte Gesetze verabschiedet und vertrauenswürdige Institutionen schafft, man muss auch dafür sorgen, dass die Umsetzung der Gerechtigkeitsideen gelingt und bei den Bürger*innen ankommt. 

Im Schultreppenhaus lag mir «aber die Idee war doch gut» auf der Zunge. Die Schülerinnen und Schüler haben mir beigebracht, dass das nicht genug ist, und so habe ich mir die Bemerkung etwas verschämt verkniffen.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person:

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit über 15 Jahren in Bern.

tracking pixel

Diskussion

Unsere Etikette
Roman Troxler
20. März 2025 um 08:40

Ein wunderbarer Text, grad in der heutigen Zeit. Vielen Dank dafür. Und ich hole heute Abend mal wieder Rawls A Theory of Justice aus dem Regal…