Alkoholfrei ins neue Jahr
Es ist «Dry January», und unser Philosophie-Kolumnist denkt darüber nach, warum man vorsichtiger mit dem Wort «alkoholfrei» umgehen sollte.
Erinnerst du dich noch an die Migros-Alkoholabstimmung vom Juni 2022? Die Genossenschaftler*innen der Migros haben damals entschieden, das Alkoholverbot, das in den Statuten der Migros seit 1928 verankert ist, nicht aufzuheben. Ich fand die Begleitkampagne mit den Oui- und Non-Bieren ziemlich gut. Wäre ich stimmberechtigt gewesen, hätte ich mich sicher für «non» entschieden.
Warum? Weil ich denke, dass wir verpflichtet sind, auf Menschen Rücksicht zu nehmen, die alkoholkrank sind. Ihr Leben gleicht oft einem Spiessrutenlauf, weil Alkohol und Alkoholdarstellungen in unserer Gesellschaft allgegenwärtig sind. Wenn es schon einen Ort gibt, an dem sie nicht von Produkten umgeben sind, die sie «triggern» könnten, dann sollte man diesen geschützten Raum unbedingt weiter aufrechterhalten.
Wo finde ich hier die Weinregale?
Für mich persönlich wäre es dagegen viel praktischer, wenn die Migros alkoholische Getränke verkaufen würde. Ich erinnere mich noch daran, wie ich aus Berlin nach Bern gezogen bin und in den ersten Wochen in verschiedenen Migros-Filialen immer wieder versucht habe, die Weinregale zu finden. Es war zum Verrücktwerden. Bis mir eine Kollegin erklärt hat, dass die Migros seit ihrer Gründung durch Gottlieb Duttweiler aus Prinzip keinen Alkohol verkauft.
«Aus Prinzip» kann ja viel heissen, aber weil ich es so offensichtlich fand, dass alkoholkranke Personen davon profitieren würden, hat mich das Non-Ergebnis der Abstimmung in sozialpolitischer Hinsicht sehr gefreut. Die Migros bleibt alkoholfrei! So hiess es damals überall. Und auch heute ist immer wieder dieses Adjektiv zu lesen: Alkoholfrei. Zuletzt in der Migros-Zeitung, die jeden Montag in meinem Briefkasten liegt.
Aber so ganz alkoholfrei ist die Migros nicht. Einige Monate nach der Alkohol-Abstimmung ist mir zufällig aufgefallen, dass das Migros-Tiramisu Marsala enthält. Wie es sich für ein Tiramisu gehört. Nur ist das Endprodukt eben kein alkoholfreies Tiramisu. Und so eins habe ich, immer noch unter dem Einfluss der Kampagne stehend, eben erwartet.
Alkohol in Desserts und Fondue
Ganz ehrlich, ich finde, man merkt den Marsala im Migros-Tiramisu nicht. Er ist insofern geschmackstechnisch für die Katz. Aber ein Lebensmittelprodukt muss nicht nach Alkohol schmecken, um für eine alkoholkranke Person gefährlich zu sein. Die Gefahr eines Rückfalls ist für eine «trockene» Person auch dann gegeben, wenn ein Lebensmittel alkoholfrei riecht und schmeckt.
Auf Nachfrage hat mir die Migros sehr freundlich mitgeteilt, dass nicht nur im Tiramisu geringe Mengen an Alkohol enthalten sind. So würden Schnaps oder Wein in gewissen Schokoladeprodukten, Torten, Eiswaren, Saucen oder beim Fertig-Fondue verwendet. Diese alkoholischen Zutaten seien stets offen deklariert. Das Ganze widerspreche zudem nicht dem Geist von Duttweiler, der nicht prinzipiell gegen den Alkoholkonsum war, sondern gegen die «volksverheerenden Trink- und vor allem Schnapsgewohnheiten» der Schweizer Bevölkerung ankämpfen wollte.
Argumente statt Säulenheilige
Ich muss zugeben, dass ich – nicht nur als Philosoph, der von Haus aus zum kritischen Nachdenken verpflichtet ist – immer etwas Bauchschmerzen habe, wenn man sich zur Rechtfertigung bestimmter sozialer Praktiken darauf bezieht, dass sie «im Geiste» von jemandem erfolgt sind. Damit schreibt man einer Person eine besondere Autorität zu. Etwas sei richtig, weil diese Person es richtig fand, behauptet man implizit. Und das ist eine sehr schlechte Begründung.
Man mag von Gottlieb Duttweiler halten, was man will. Aber für die Frage, ob es gut und schlecht ist, dass irgendwo alkoholische Getränke verkauft werden, sollten uns seine Ansichten egal sein. Vielleicht sind einige der Gründe, die er für diese Ansichten hatte, sogar ziemlich gute Gründe. Das können wir allerdings unabhängig von der Person Duttweiler diskutieren. Man kann die Verdienste von Duttweiler anerkennen, ohne aus ihm einen Säulenheiligen in gesellschaftspolitischen Fragen zu machen.
Zwei unterschiedliche Positionen
Schaut man genauer hin, geht es bei der Frage, die mich beschäftigt, um zwei Positionen, die zusammenhängen, aber nicht miteinander verwechselt werden sollten. Zum einen kann man die Einschränkungen des Verkaufs von Alkohol mit dem Schutz alkoholkranker Personen zu rechtfertigen versuchen. Zum anderen kann man solche Einschränkungen aber auch begründen, indem man behauptet, dass es generell besser wäre, wenn weniger Menschen Alkohol trinken würden.
Letzteres tönt eher nach der Position der Migros aus dem Antwortschreiben, das ich erhalten habe. Wer so argumentiert, braucht sich tatsächlich nicht um Minimalmengen an Alkohol in der Zuger Kirschtorte zu kümmern, weil es wohl eher selten ist, dass Personen durch den Verzehr dieses Desserts zum Schnapskonsum verleitet werden. Gleichzeitig handelt es sich dabei um einen Eingriff, der gerade in einem liberalen Land wie der Schweiz als sehr problematisch aufgefasst werden dürfte.
Alkoholkonsum kann extrem gesundheitsschädlich sein, das kann heutzutage niemand bestreiten. Gemäss dem einflussreichen «Schadensprinzip» von John Stuart Mill darf die Freiheit von Bürger*innen nur dann eingeschränkt werden, wenn dadurch Schaden von Dritten abgewendet werden kann. Wer Alkohol missbraucht, schadet sich selbst — wenn nicht ausschliesslich, so doch im Standardfall. Und über solche Risiken sollten wir als Bürger*innen selbst entscheiden können, genauso wie über Tabakkonsum, Fleischverzehr oder das Velofahren ohne Helm.
Symbolisch alkoholfrei?
Die Idee, dass wir uns auch zu unklugen Dingen entscheiden können sollten, ist so selbstverständlich, dass man darüber kaum noch streitet. Auch die Migros würde wohl sagen, dass sie niemandem verbieten will, alkoholische Getränke zu konsumieren. Man könne ja immer noch woanders Bier, Wein und Schnaps einkaufen.
Genau hier liegt aber das Problem. Man muss alkoholische Getränke nicht mal ganz woanders kaufen, oft reichen ein paar Schritte aus dem Kassenbereich raus. Es ist kein Geheimnis, dass Denner sich seit 2009 vollständig im Besitz des Migros-Genossenschafts-Bundes befindet. Auch im Onlinehandel, bei Migrolino oder VOI verkauft die Migros alkoholische Getränke. Aus der Perspektive der Frage, womit Geld verdient wird, scheint also die Duttweiler-Vision für die Migros eher symbolisch relevant zu sein.
Ich bin weit davon entfernt, für irgendwelche generellen Alkoholverbote zu plädieren. Der Denner im Migros-Gebäude kommt mir beim Einkaufen entgegen. Der Schutz alkoholkranker Personen scheint mir aber immer noch ein hinreichend wichtiges Ziel zu sein, um zumindest aufrichtig über die Situation einer Person nachzudenken, die einkaufen muss, während sie gegen ihre Abhängigkeit ankämpft.
Immer noch ein Spiessrutenlauf
Eine solche Person wird zwar in der Migros keine alkoholischen Getränke finden, aber sie wird – je nach Standort – beim Betreten und Verlassen der Einkaufsörtlichkeit an gestapelten Bier- und Weinkartons vor dem Denner vorbeigehen müssen. Sie wird sich bei vielen Produkten die Zutatenlisten genau anschauen müssen, obwohl die Migros in ihrer Selbstdarstellung den Ausdruck «alkoholfrei» verwendet.
Nicht zuletzt: Sie wird auch innerhalb der Migros an ganzen Regalen mit Getränken vorbeigehen müssen, die zwar kein Alkohol enthalten, aber alkoholische Getränke imitieren. Ich habe in der Filiale meiner Wahl zwanzig alkoholfreie Biersorten gezählt. Dazu kommt alkoholfreier Sekt, alkoholfreier Rum, alkoholfreier Gin und andere Getränke, deren Flaschen und Etiketten genauso aussehen wie die Flaschen und Etiketten in einer Bar. Für alkoholkranke Personen dürfte dieser Anblick beim Einkaufen nicht unproblematisch sein.
Ehrlichkeit statt Marketing
Ist das alles verwerflich? Keinesfalls. Ich habe kein Problem damit, dass es keine alkoholischen Getränke in der Migros, dafür aber im Denner gibt. Ich habe kein Problem damit, dass Fonduemischungen und Torten Alkohol enthalten oder dass der alkoholfreie Rum in einer Rumflasche verkauft wird. Es wird ja alles ganz transparent und offen gehandhabt.
Ich störe mich lediglich daran, dass die Migros auch noch zwei Jahre nach der Alkohol-Abstimmung sich selbst als «alkoholfrei» zelebriert, obwohl der Schutz von alkoholkranken Personen von ihr nicht gerade mit maximaler Konsequenz verfolgt wird. Wenn diese Konsequenz aus wirtschaftlichen Gründen nicht realistisch ist, sollte man sich vielleicht etwas bescheidener geben, wenn es um die Selbstdarstellung in Sachen Schutz vor Alkohol und Schutz der Alkoholkranken geht. Es sind zu wichtige Anliegen für schnödes Marketing.
Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit über 15 Jahren in Bern.