Es wird dunkler in der Schweiz

Unser Philosophie-Kolumnist fragt sich, ob wir es überhaupt merken würden, wenn die Demokratie schwächer wird. Und ob der Abbau in der Medienlandschaft ein Zeichen dafür ist.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Demokratien gehen nicht immer mit einem lauten Knall unter. Es muss nicht zwangsläufig ein Krieg oder ein Putsch sein, der sie zerstört. Wenn Demokratien immer nur unter dramatischen Umständen zugrunde gehen würden, dürften wir uns in der Schweiz und in den meisten Ländern in Europa ziemlich sicher fühlen. Es steht nicht zu erwarten, dass ein Diktator oder eine Militärjunta uns Schweizer*innen die Macht aus den Händen reissen werden, und solch drastische Entwicklungen sind trotz politisch aufgewühlter Zeiten auch nicht in Frankreich oder Deutschland, in Schweden oder in Polen zu erwarten.

Es wäre aber fatal, sich diesbezüglich in Sicherheit zu wiegen. Die letzten Jahre haben uns auf verschiedene Weise gezeigt, wie eine Demokratie Schritt für Schritt und relativ leise geschwächt werden kann. Ich verwende hier absichtlich die Metapher des Schwächens, weil Demokratie kein stabiler Zustand ist. Es steht jeweils immer besser oder schlechter um die Demokratie in einem Land. 

Es mag wie ein Klischee klingen, bleibt aber dennoch wahr: Bürger*innen müssen um Demokratie kämpfen, sich für sie einsetzen. Eine Demokratie ist in dem Masse stärker, in dem wir uns aktiv ihrer Instrumente bedienen und ihre zentralen Elemente stützen.

Bis es zu spät ist

Deswegen kann es schlecht um eine Demokratie bestellt sein, auch wenn sie immer noch irgendwie funktioniert. Das ist gefährlich, weil wir oft nicht merken, wie dramatisch die Verhältnisse sind, bis es vielleicht zu spät ist.

Es ist ziemlich vermessen zu denken, dass uns sofort auffallen würde, dass wir nicht mehr in einer Demokratie leben. Dass es sich doch anders anfühlen muss, in einer Autokratie, einer Diktatur, einem Unrechtsstaat zu leben. Für besonders schlimme Formen von nicht-demokratischen Systemen stimmt das ja auch.

Aber es stimmt nicht für jede politische Gemeinschaft, die sich nicht als demokratisch charakterisieren lässt. Ich habe meine Kindheit in Polen der 80er-Jahre verbracht, zu einer Zeit also, als in dem Land der «real existierende Sozialismus» geherrscht hat und von Demokratie nicht die Rede sein konnte. Es war eine herrliche Kindheit in einem – wie mir heute noch vorkommt – der tollsten Länder der Welt. Ich hatte engagierte Lehrer, die Menschen auf den Strassen waren freundlich und kommunikativ, man hat sich gegenseitig geholfen, im Fernsehen liefen lustige Zeichentrickfilme.

Glücklich ohne Demokratie?

Nun mag man einwenden, dass das lediglich die Perspektive eines Kindes gewesen ist. Allerdings kriege ich es ziemlich gut hin, die damaligen Verhältnisse rückblickend mit den Augen eines Erwachsenen zu betrachten, und ich kenne viele Leute, die damals erwachsen waren und das sozialistische Polen durchaus auch als ein lebenswertes, charmantes Land erlebt haben, in dem Menschen viel gelacht haben und sehr glücklich miteinander waren. Obwohl es keine Demokratie gewesen ist.

Dass das System in Polen und in anderen Ländern des Ostblocks irgendwann zu bröckeln begonnen hat, lag nicht nur an der Freiheits- und Demokratieliebe seiner Bürger*innen. Ja, die demokratische Opposition hat eine wichtige Rolle in den Transformationsprozessen der 80er- und 90er-Jahre gespielt, aber die ersten Massenproteste wurden in Polen durch Preiserhöhungen bei Lebensmitteln ausgelöst.

Der Wert von Journalismus

Demokratie ist eben nichts, was Menschen in ihrem Alltag unmittelbar vermissen würden. Dennoch ist sie wichtig, weil sie Teilhabe und Veränderungen ermöglicht, weil sie Andersdenkende und Mitglieder von Minderheiten schützt, weil sie die Staatsgewalt kontrolliert und politische Akteur*innen zur Verantwortung zieht. 

Das alles sind allerdings sehr abstrakte Vorzüge, die wir leicht aus dem Blick verlieren. Vor allem, weil demokratische Prozesse oft anstrengend und ineffizient, zeitraubend und umständlich sind. 

Wiederum: Man fühlt sich nicht zwangsläufig gut, weil man in einer Demokratie lebt, und deswegen vergessen manche Bürger*innen ihren Wert oder wenden sich sogar ganz von ihr ab. Ich hätte diese Zeilen wahrscheinlich zu jeder beliebigen Zeit in den letzten Jahren schreiben können, weil die Demokratie immer irgendwie bedroht ist und der nicht-demokratische Populismus weltweit seit einigen Jahren grosse Erfolge feiert.

Der unmittelbare Anlass der schlaflosen Nächte, die ich in Sorge um die Demokratie verbringe, ist aber konkreter. Es ist der erneute Kahlschlag in der Schweizer Medienlandschaft, der Ende August vom Medienhaus Tamedia angekündigt wurde, das vor allem in der Romandie 290 von 1400 Stellen streichen und zwei Druckereien schliessen wird. Begründet wird die Massnahme wie immer mit ökonomischen Erwägungen, die im Wesentlichen mit dem veränderten Konsumverhalten im digitalen Zeitalter zu tun haben.

Ich kann zu der ökonomischen Strategie hinter dieser Entscheidung nicht viel sagen. Ich habe keine Ahnung, was sich in der Welt der Medien wie für wen rechnet. Ich weiss allerdings Folgendes: Der unabhängige und kritische Journalismus in seiner ganzen Vielfalt, lokal wie national, ist zentral für das Funktionieren einer jeden Demokratie. Es gibt keinen Ersatz dafür. Wenn wir die Demokratie um ihrer selbst willen schätzen, dann hat auch der Journalismus einen solchen intrinsischen Wert und sollte nicht, oder zumindest nicht nur, mit ökonomischen Kategorien bewertet werden. 

«Content» ist nicht genug

Man habe doch heutzutage mehr Medieninhalte, als man konsumieren könne, wird man einwenden. Aber es geht nicht nur um irgendwelchen «Content», sondern um einen Journalismus, dessen zentrale Aufgabe darin besteht, politische Prozesse in einer Demokratie zu verfolgen und für die Bürger*innen kritisch zu beleuchten. «Demokratie stirbt im Dunkeln», heisst es im Motto der «Washington Post», und genau darum geht es: Wenn es immer weniger kritische Medien im Land gibt, sehen wir als Bürger*innen immer schlechter, was politisch eigentlich passiert.

Es kann dann sogar passieren, dass wir zwar über etwas abstimmen können, aber nicht mehr genau wissen, wofür wir unsere Stimme geben, weil ein Vorschlag von Seiten bestimmter Interessengruppen manipulativ beschrieben wird oder schlicht irreführend formuliert wurde. Es ist die Aufgabe kritischer Medien, hier Licht ins Dunkel zu bringen. Eine Demokratie ohne kritischen Journalismus verdient ihren Namen nicht. 

Auch im sozialistischen Polen meiner Kindheit gab es jede Menge Medien. Auch damals gab es schon mehr als genug «Content». Modemagazine, Klatschpresse, Kulturjournale. Grosse und kleine Formen. Lustiges und Ernsthaftes. Aber es gab keinen echten Journalismus. Ausser dem, was zwischen den Zeilen an der Zensur vorbeigeschmuggelt wurde.

Es geht um mehr als um Wirtschaftlichkeit 

Nun leben wir nicht in einem Land, in dem der kritische Journalismus von Staats wegen unterdrückt wird. Das ist sicher ein wichtiger Unterschied. Sollte sich der Trend, den wir seit Jahren beobachten, aber fortsetzen, droht ein ähnliches Ergebnis: Eine Medienlandschaft, die für jeden Geschmack etwas zu bieten hat, aber nicht in der Lage ist, auf angemessene und vielfältige Weise die politischen Prozesse in der Schweiz zu begleiten. Und in Zeiten von generativer KI immer gleicher klingt. Es könnte sein, dass wir dann irgendwann in einem Land leben, in dem alles wie gehabt ist, ausser dass es keine echte Demokratie mehr ist. Obwohl abgestimmt wird. Obwohl es vielen Bürger*innen gut geht. Soweit sollte es nicht kommen. 

Ich habe keine konkreten Vorschläge, wie man den kritischen Journalismus retten kann. Auch handelt es sich bei dem Problem nicht um eins, das nur die Schweiz betrifft, und es wird neben der zunehmenden Digitalisierung jeweils viele verschiedene Ursachen haben.

Von der Warte der Philosophie kann man aber zumindest fordern, dass wir aufhören sollten, den Journalismus mit den Kategorien des Marktes zu bewerten. Er gehört als wesentliche Stütze der Demokratie in eine andere Sphäre. Es macht einen Unterschied, ob eine Tageszeitung oder ein Baumarkt geschlossen wird. Man mag beides bedauerlich finden, aber «es rechnet sich nicht» ist nur im Fall des Baumarkts eine angemessene Begründung, mit der wir uns abfinden sollten.

Stolz auf journalistische Vielfalt

Der kritische Journalismus findet innerhalb eines Marktes statt, aber er gehört seinem Ziel nach nicht der Marktsphäre an. Aus diesem Grund sollten wir auf ökonomisch begründete Streichungen in der Medienlandschaft ähnlich reagieren, wie auf eine Person, die eine Freundschaft beendet, weil sie nicht genug Einnahmen generiert. Vor diesem Hintergrund muss man die Tamedia-Begründung, man wolle die Zukunft des Qualitätsjournalismus sichern, als besonders zynisch empfinden. Selbst von einem Unternehmen wäre etwas mehr moralisches Zähneknirschen, etwas mehr demokratische Scham zu erwarten.

Positiv betrachtet lässt sich darauf hinweisen, dass ein vielfältiger Journalismus etwas ist, worauf ein Land und seine Bürger*innen in einem nicht-ökonomischen Sinne stolz sein können. Er ist kein blosses Produkt, sondern Ausdruck einer starken Demokratie. In diesem Sinne sollten wir kritische Medien feiern, gerade wenn sie sich nicht rechnen. Auf individueller Ebene bedeutet das, dass kein Zeitungskauf, den man sich leisten kann, ein Zeitungskauf zu viel ist.

Auch ein nicht gelesener Artikel stärkt die Demokratie

Es gibt im journalistischen Bereich keine Entsprechung zum «Food Waste». Hat man die Mittel, sollte es bei der Frage, ob man ein Abo kündigt, nicht immer eine Rolle spielen, wie viel man tatsächlich konsumiert. Auch ein nicht gelesener Artikel stärkt die Demokratie, wenn man ihn bezahlt hat. Darauf kann man als Bürger*in dann auch stolz sein, finde ich. Und dies schreibe ich völlig unabhängig von der Tatsache, dass dieser Artikel in einem Medium erscheint, das von den angesprochenen Entwicklungen direkt betroffen ist.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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