Mobilität für alle?

In Bern kommen Randständige, die ihre ÖV-Busse nicht bezahlen, ins Gefängnis. Unser Kolumnist hält das für stigmatisierend und denkt darüber nach, wie Gratis-ÖV zur Chancengleichheit beitragen würde.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Manchmal merke ich, wie ahnungslos ich durch die Welt gehe. Bis vor Kurzem war mir gar nicht klar, was mit Personen passiert, die im Berner ÖV ohne Billett erwischt werden und die Busse nicht bezahlen können.

Ja, was passiert denn mit ihnen? Sie kommen ins Gefängnis. Das Ganze heisst Ersatzfreiheitsstrafe und dauert nur wenige Tage. Betroffen sind «Randständige» oder «Armutsbetroffene». Aufgefallen ist mir der Sachverhalt nur, weil ein GFL-Stadtrat den Vorstoss gemacht hat, Personen, die ihre ÖV-Busse nicht bezahlen, nicht mehr ins Gefängnis zu stecken.

Zunächst zu den Begrifflichkeiten, die in der Diskussion verwendet werden: «Randständige», das klingt so wunderbar neutral. Da gibt es die Welt, in der wir «normalen» Bürger*innen leben, einer geregelten Arbeit nachgehen, E-Bikes und eine Berufsunfähigkeitsversicherung haben. Und dann gibt es die andere Welt, in der Menschen zuhause sind, die nicht einmal ein Zuhause haben. Die einfach mal ohne Billett in einen Bus steigen, um von A nach B zu kommen. Weil sie kein Geld haben oder gerade ohnehin nicht in einem Zustand sind, in dem sie ein Ticket kaufen könnten.

Am Rand der Gesellschaft

Dazwischen liegt der Rand, der uns von ihnen trennt. Wie der Rand einer Tasse, ist er etwas, über das man hinunterfallen kann. So wie diese «Randständigen» schon irgendwo unten stehen. Vielleicht manchmal sogar zu uns innerhalb des Randes wohl Beheimateten hochschauen. 

Den «Armutsbetroffenen» geht es kaum besser: Es gibt offenbar diesen ökonomischen Zustand, die Armut. Und dann gibt es die Menschen, die davon betroffen sind. So wie manche von uns von Krankheiten oder Unfällen betroffen sind. Nicht arm, sondern von Armut betroffen. Ähnlich wie man auf einer Zugreise von einem wetterbedingten Zugausfall betroffen sein kann. 

Ich bin mir sicher, dass diese Nomenklatur gut gemeint ist. Irgendjemand hat sich gedacht, dass man Arme und Obdachlose ihrer Würde und Autonomie beraubt, wenn man sie als arm und obdachlos bezeichnet. Aus demselben Grund sprechen wir nicht mehr von behinderten Menschen, sondern von Menschen mit Behinderungen. Wir wollen sie nicht auf ihre Behinderung reduzieren.

Armut verletzt die Würde

Aber mit den «Armutsbetroffenen» verhält es sich etwas anders. Wer arm oder obdachlos oder drogenabhängig ist, führt kein gewöhnliches Leben, das eben nur von Armut oder Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Eine Behinderung tastet die Würde einer Person nicht an, Obdachlosigkeit schon. 

Vielleicht sollten wir also auf den neutral klingenden Ausdruck «Armutsbetroffene» verzichten. Er nimmt uns als Gesellschaft aus der Verantwortung und lässt Armut wie die Folge von individuellem Pech erscheinen. 

Eine Gesellschaft lässt es aber immer mehr oder weniger zu, dass manche ihrer Mitglieder arm sind. Aus dieser Perspektive betrachtet, sind «Armutsbetroffene» und «Randständige» eher Ausgegrenzte. Und wir sollten etwas tun, um ihre Ausgrenzung zu verhindern. Ein Beitrag dazu könnte darin bestehen, die sowieso schon Ausgegrenzten nicht mit der Maximalausgrenzung eines Gefängnisaufenthalts zu bestrafen. 

Es geht mir hier nicht um das Missverhältnis, in dem die Busse zu den Kosten steht, den ein Gefängnisaufenthalt für die Steuerzahler*innen verursacht. Solche ökonomischen Überlegungen werden oft angeführt, wenn man für weniger Haftstrafen plädiert, aber sie stellen meiner Ansicht nach einen falschen Fokus her.

Eine zusätzliche Stigmatisierung

Wir sollten Personen, die arm oder suchtkrank sind, nicht fürs Fahren ohne Billett ins Gefängnis stecken, weil die Strafe an sich in keinem Verhältnis zur Übertretung steht. Und weil sie Ausgegrenzte weiter stigmatisiert. 

Man mag einwenden, dass man diese Übertretung dennoch irgendwie sanktionieren müsse, weil ansonsten die Personen, die ein Ticket kaufen, sich übervorteilt fühlen und vielleicht sogar den Anreiz zum Ticketkauf ganz verlieren würden. Aber solche Einwände zielen ins Leere. Es geht ja an dieser Stelle nicht darum, allen ÖV-Nutzer*innen ohne Billett die Busse zu erlassen, sondern für eine besondere Gruppe von ihnen – diejenigen, die die Busse nicht bezahlen können – eine andere Lösung als den Gefängnisaufenthalt zu finden.

Es kommt mir übertrieben dramatisch vor, wenn man vermutet, dass Fahrgäste aufhören, Tickets zu kaufen, nur weil sie mitbekommen haben, dass Obdachlose und Suchtkranke ohne Billett nicht ins Gefängnis kommen. 

Sollten wir in solchen Fällen also gar nicht bestrafen? Das könnte insofern schwierig sein, als man dann stets überprüfen müsste, ob es sich bei einer Person, die eine Busse nicht bezahlt, um eine «armutsbetroffene» Person handelt.

Anders gesagt: Man müsste feststellen können, ob jemand, der eine Busse nicht bezahlt, sie auch tatsächlich nicht bezahlen kann. Und das dürfte im Einzelfall schwierig sein. Ausserdem würde das de facto darauf hinauslaufen, dass eine bestimmte Gruppe von Personen kostenlos den ÖV benutzt. Der öffentliche Verkehr kostet aber Geld. Aus diesem Grund kommt für manche Bürger*innen das Erlassen einer Strafe gar nicht erst in Frage.

Das Ideal der Bewegungsfreiheit

Es lohnt sich aber, darüber nachzudenken, ob wir den öffentlichen Verkehr insgesamt nicht anders gestalten sollten. Das hat damit zu tun, dass die Bewegungsfreiheit zu den fundamentalen Rechten von Personen gehört. 

Wer einer Arbeit nachgehen oder eine Religion ausüben möchte, wer Familien- und Freundschaftsbeziehungen aufrechterhalten oder sich weiterbilden will, wird meist pünktlich von A nach B gelangen müssen. In einer Welt, in der das Leben nicht mehr nur innerhalb der Grenzen eines Dorfs oder eines Quartiers stattfindet, ist man dafür auf den ÖV angewiesen. Auch wenn die meisten Bürger*innen sich ein Ticket leisten können, so ist doch klar, dass dies in unterschiedlichem Ausmass der Fall ist. Und das könnte zu problematischen Konstellationen führen – Konstellationen, die etwa das Ideal der Chancengleichheit untergraben.

Kostenloser ÖV für Kinder?

Besonders deutlich ist diese Gefahr bei Kindern ausgeprägt. Wer in prekären Verhältnissen aufwächst, wird sich zweimal überlegen, einer Schwimmgruppe beizutreten oder die Grosseltern zu besuchen, wenn für beides eine Reise mit dem ÖV notwendig ist. Solche Überlegungen sollten aber bei niemandem eine Rolle spielen, vor allem nicht bei Kindern. Es ist unwürdig, wenn ein Kind denkt: «Ich würde gerne Oma am anderen Ende der Stadt besuchen, aber ich kann es mir gerade nicht leisten.» 

Wäre der ÖV zumindest für Kinder kostenlos, müssten wir uns keine Sorgen darüber machen, dass wir möglicherweise eine besonders verletzliche Personengruppe sozial ausgrenzen. Zudem wäre es gerade im Hinblick auf den Klimawandel sinnvoll, Menschen schon von Kindesbeinen an das Gefühl zu vermitteln, dass der ÖV ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens ist. 

Leider ist eine entsprechende Motion aus den Reihen von SP, EVP und Grünen im Berner Kantonsparlament vor Kurzem abgelehnt worden. Und das deutlich. Wie man sich vorstellen kann, werden dabei hauptsächlich Kostengründe geltend gemacht. Man wolle zudem mehr Geld in den Ausbau des ÖV stecken.

Es kann nun sein, dass der Gratis-ÖV für Kinder und Jugendliche im Kanton Bern schlicht nicht finanzierbar ist. Andererseits vermute ich, dass so ein Vorschlag politisch nicht durchsetzbar wäre, selbst wenn man Mittel und Wege zu seiner Finanzierung hätte finden können. Das liegt unter anderem daran, dass viele Bürger*innen sich die Frage stellen würden, warum sie indirekt die Tickets für die Kinder anderer Eltern bezahlen sollten.

Visionen statt Missgunst

Diese Perspektive ist sehr verbreitet, und Politiker*innen, die auf Wähler*innenstimmen angewiesen sind, wissen das sehr gut. Es ist aber nicht die einzige Perspektive, die man auf das Problem einnehmen kann. Statt bei der Frage «Wieso nimmt man mir etwas weg, um es anderen zu schenken» zu beginnen, kann man sich nämlich auch fragen: «In was für einer Gesellschaft will ich leben?»  

Spricht nicht sehr viel für einen Zustand, in dem wenigstens Kinder und Jugendliche ohne Einschränkungen von dem Gut der Mobilität profitieren können? Einen Zustand, in dem unsere Kinder in dieser fundamentalen Form der Freiheit aufwachsen? 

Aber Freiheit bedeute Eigenverantwortung, wird man sofort von liberaler Seite hören. Und das stimmt ja auch. Eigenverantwortung ist ebenfalls sehr wichtig. Nur glaube ich nicht, dass Kindern und Jugendlichen zwangsläufig der Sinn für Eigenverantwortung abhanden kommen würde, wenn sie kostenlos den ÖV benutzen könnten.

Anders gesagt: Vielleicht sollten wir den plumpen Individualliberalismus, der heutzutage immer noch sehr viele Anhänger*innen hat, durch einen solidarischen Liberalismus ablösen – einen Liberalismus, der Freiheit hochhält, aber eben für alle.

Damit will ich nicht sagen, dass wir uns einen kostenlosen ÖV für Kinder oder sozial schwächergestellte Personen tatsächlich leisten können. Wie sollte ich das wissen? Es würde unserer politischen Kultur aber gut tun, wenn wir in diesem Zusammenhang – aber auch bei vielen anderen Frage – nicht reflexartig von der Missgunst von Bürger*innen ausgehen, sondern mit einer attraktiven gesellschaftlichen Vision beginnen würden.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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Diskussion

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Heinrich Kienholz
12. Dezember 2024 um 09:17

Danke für diese wichtigen und notwendigen Gedanken!