Immigration – eine Frage des Vertrauens?

In Bern wurde eine neue Kollektivunterkunft für Geflüchtete eröffnet. Unser Philosophie-Kolumnist fragt sich, was das mit dem sozialen Vertrauen macht.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Am Montag ist im ehemaligen Spital Tiefenau die grösste Kollektivunterkunft des Kantons Bern in Betrieb genommen worden. In ihr finden zunächst 200 Personen mit Flüchtlingsstatus, vorläufig Aufgenommene und Ukraine-Geflüchtete eine Unterkunft. Insgesamt soll die Anlage bis zu 820 Personen beherbergen können. Das sind gute Nachrichten, zumal auf diese Weise die letzten unterirdischen Unterkünfte des Kantons zum Monatsende geschlossen werden können.

Die KU Tiefenau verfügt über ein sehr gut durchdachtes Konzept, das Personen mit Bleiberecht bestmöglich auf das Leben in der Schweiz vorbereiten und insbesondere Kindern den Weg zur regulären Einschulung leicht machen soll. Im Vorfeld der Inbetriebnahme wurde im Rahmen der Begleitgruppe Tiefenau auf verschiedenen Kanälen der Dialog mit der Wohnbevölkerung gesucht, und so kann man sich heute darüber freuen, dass die Stadtberner*innen dem Projekt mehrheitlich positiv gegenüber eingestellt sind.

Skepsis in den Kommentaren

Schaut man allerdings in die Kommentarspalten der Artikel, die über die neue Nutzung des Tiefanau-Spitals berichten – etwas, das ich bei solchen Themen nur mache, wenn ich mich emotional gut darauf vorbereiten konnte –, sieht die Lage mal wieder sehr düster aus. Es erklingt dort der uralte Refrain «Für die Schweizer wird kein Geld ausgegeben, nur die Ausländer kriegen alles geschenkt». Und es wird darüber spekuliert, welch dramatische Zustände der Zuzug von 800 Nicht-Schweizer*innen im Quartier nach sich ziehen könnte.

Diese Dynamik ist mir sehr gut aus meiner Forschung zum Thema des sozialen Vertrauens bekannt. Aus der Perspektive der Vertrauensthematik lässt sich gut verstehen, was solche Immigrationsskeptiker*innen, wie ich sie nennen möchte, eigentlich umtreibt. Und es lässt sich genauer aufzeigen, wo sie eigentlich falsch liegen.

Vertrauen als alltägliches Phänomen

Zunächst scheint es beinahe selbstverständlich, dass jede Gesellschaft von einem bestimmten Ausmass an Vertrauen zwischen Fremden profitiert. Wir legen so ein Vertrauen jedes Mal an den Tag, wenn wir das Velo beim kurzen Einkauf nicht abschliessen oder einer fremden Person die Tür zum Wohnhaus aufmachen. Wie schrecklich wäre es, wenn wir in solch banalen Kontexten immer auf der Hut sein müssten.

Dieses Vertrauen ist so alltäglich, dass wir uns meistens keine Gedanken darüber machen. Viele glauben aber, dass es nur deshalb besteht, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der bestimmte Werte und Normen kulturell verankert sind. Es gehöre eben nicht zur traditionellen Schweizer Kultur, dass man Velos klaut oder Leute überfällt, denken viele Menschen, oft ohne es laut auszusprechen.

Es ist genau dieser Zusammenhang zwischen Kultur, Werten und Vertrauen, der im Hintergrund vieler immigrationsskeptischer Ressentiments steht: «Sie kommen aus einer anderen Kultur. Deshalb werden sie andere Werte vertreten. Deshalb können wir ihnen nicht vertrauen.» Auf dem Boden solcher Kurzschlüsse machen sich immigrationskritische Bürger*innen oft Sorgen um steigende Kriminalität oder einen generellen Verfall der Sitten in unserem alltäglichen Umgang miteinander.

Welche Kultur schafft Vertrauen?

Es ist allerdings alles andere als klar, ob wir überhaupt auf diese Weise von einer einheitlichen Kultur reden können. Welche Kultur soll denn gemeint sein? Die Schweizer Kultur? Die Berner Kultur? Die westeuropäische Kultur? Auch wenn wir nur Bern im Blick haben, müssten wir eigentlich schon von mehreren Kulturen mit zum Teil sehr stark voneinander abweichenden Wertesystemen reden.

Aber selbst wenn man zugeben wollte, dass es so etwas wie «» «Länder-» oder «Stadtkulturen» gibt, ist es extrem problematisch, reflexhaft davon auszugehen, dass Personen, die in einer anderen Kultur gelebt haben, zwangsläufig Werte vertreten, die mit «unseren» Werten inkompatibel sind.

Wenn es in bestimmten Fällen tatsächlich zu kulturellen Konflikten kommen sollte, heisst das zudem noch lange nicht, dass wir keine Möglichkeit haben, auf solche Konflikte einzugehen und sie rechtzeitig zu entschärfen.

Vertrauen als Gefühl

Immigrationsskeptiker*innen möchten gerade diesen letzten Gedanken nicht zulassen, und ihre Weigerung hat wiederum etwas mit dem Phänomen des Vertrauens zu tun. Vertrauen hat eine emotionale Komponente. Wenn wir darauf vertrauen, dass wir in dem Quartier, in dem wir leben, nicht überfallen werden, denken wir nicht nur, dass wir sicher sind, sondern wir fühlen uns sicher.

Für viele hat so ein Gefühl der Sicherheit mit der Vertrautheit einer gewohnten Umgebung zu tun. Jede Veränderung dieser Umgebung hat aus so einer Perspektive immer einen bedrohlichen Charakter.

Es ist aber ein Fehler, das Phänomen des sozialen Vertrauens darauf zurückzuführen, dass die Dinge so sind, wie sie immer waren. Das Gefühl der sozialen Vertrautheit kann auch aktiv kultiviert werden. Wir haben es als Bürger*innen selbst in der Hand, Veränderungen so zu gestalten, dass sie Vertrauen befördern, anstatt es zu unterminieren.

Aktiv Vertrauen schaffen

So klischeehaft es klingt: Dieses Ziel kann nur durch ein engagiertes Miteinander erreicht werden. Dazu gehört in Fällen wie dem der neuen KU Tiefenau ein fortwährender Austausch zwischen bereits ansässigen Bürger*innen, aber auch der Dialog mit den neu in unsere Stadt ankommenden Personen. So ein Dialog kann nur dann Vertrauen schaffen, wenn er aus einer Haltung der Offenheit geführt wird. Wer mit Misstrauen auf Menschen zugeht, wird Misstrauen ernten.

In diesem Sinne stimmt mich die Einstellung der Berner*innen, die sich aktiv für ein vertrauensvolles Miteinander mit den neuen Bewohner*innen des ehemaligen Spitals einsetzen, sehr optimistisch. Meine Botschaft an die Skeptiker*innen aus den Kommentarspalten lautet dagegen: Nehmt euch ein Beispiel an euren Mitbürger*innen, ansonsten seid ihr selbst die Quelle des Problems, das ihr beklagt.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren