Was bewegt Berner Jugendliche?

Eine lustvolle Neuinterpretation des Klassikers «Frühlings Erwachen» widmet sich bei Bühnen Bern den Sorgen und Gedanken von Jugendlichen. Zehn von ihnen stehen auf der Bühne.

Bern 10.10.2024 -  HP2 zu Frühlingserwachen von Frank Wedekind © Annette Boutellier

Regie: Joanna Praml
Ausstattung: Inga Timm
Musik: Hajo Wiesemann
Licht: Rolf Lehmann, Hanspeter Liechti
Dramaturgie: Elisa Elwert
Darsteller*innen: Emil Barmettler, Blue Burri, Noée Burri, Silas Ganzmann, Max Häusler, Guillaume Mourgue d`Algue, Mariam Rifqui, Sahra Schärer, Marie-Hélène Steinfels, Lars Antoni Weber
Ein stetes Zuviel an Gefühlen: Berner Jugendliche im Stück «Frühlings Erwachen». (Bild: Annette Boutellier)

Es ist der wohl intensivste Moment des Abends: Im raschen Stakkato zählen die Jugendlichen auf, wie ihr Tagesablauf aussieht. Von sechs Uhr morgens, wenn der Wecker siebenmal klingelt, über Schulweg, Schule, Hobbys, Haushalt, Hausaufgaben. Der Tag endet irgendwann um Mitternacht mit Masturbation und dem abermaligen Aufschlagen des Mathebuchs. Die Tage sind vollgepackt, lassen kaum Zeit zum Atmen.

Auch wenn bei dieser Aufzählung alle Tagesabläufe der jungen Schauspieler*innen aufeinander gelegt wurden: Das Publikum erhält trotzdem einen Eindruck, unter welchem Stress junge Menschen heute stehen. Wie müde das machen kann, oder dann, im Gegenteil, aufmüpfig.

Sex und Schule

Zehn Berner Jugendliche haben zusammen mit einem Team um Regisseurin Joanna Praml ein Stück für Bühnen Bern erarbeitet. Am Samstag feierte es in den Vidmarhallen Premiere. Angelehnt ist die Handlung an Frank Wedekinds Schock-Klassiker «Frühlings Erwachen» von 1891. Darin geht es um 14-Jährige, die ihre Sexualität entdecken, die an der Schule verzweifeln, aber auch Vergewaltigung, eine misslungene Abtreibung und Suizid kommen explizit vor.

Die heutigen Probleme sind andere. Und doch ähneln sie sich in mindestens zwei Dingen: Noch immer sind Schule oder Ausbildung für junge Menschen in Bern ein grosser Stressfaktor. Und auch die Jugendlichen des 21. Jahrhunderts denken exzessiv über Sex, oder frei nach Wedekind, über «männliche und weibliche Regungen» nach.

Bern 10.10.2024 -  HP2 zu Frühlingserwachen von Frank Wedekind © Annette Boutellier

Regie: Joanna Praml
Ausstattung: Inga Timm
Musik: Hajo Wiesemann
Licht: Rolf Lehmann, Hanspeter Liechti
Dramaturgie: Elisa Elwert
Darsteller*innen: Emil Barmettler, Blue Burri, Noée Burri, Silas Ganzmann, Max Häusler, Guillaume Mourgue d`Algue, Mariam Rifqui, Sahra Schärer, Marie-Hélène Steinfels, Lars Antoni Weber
Seit Mai haben die Jugendlichen, die zuvor an einem Casting teilgenommen hatten, am Stück gearbeitet. (Bild: Annette Boutellier)

Längst nicht alle der 15- bis 19-Jährigen, die auf der Bühne stehen, haben das erste Mal schon hinter sich. Stattdessen sehnen sich einige von ihnen nach diesem Gefühl, das Wedekind als «über Stromschnellen gerissen» zu werden beschreibt.

Die Jugendlichen, die Sahra, Silas, Noée oder Guillaume heissen, geben dabei viel von sich preis – und bewegen sich doch im geschützten Rahmen einer Bühne. Es ist nie ganz klar, ob sie jetzt wirklich von sich selbst sprechen, ein Zitat einer anderen Person auf der Bühne als ihr eigenes ausgeben, oder sogar eine Figur aus Wedekinds Stück zitieren. Das ist der sorgfältigen Arbeit des Regieteams zu verdanken, das vor allem in Deutschland immer wieder Stücke gemeinsam mit Jugendlichen erarbeitet. Daraus entsteht jedoch kein Laienstück, sondern ein professionelles Werk mit nicht ausgebildeten Schauspieler*innen.

Nicht aufgeklärt, Gymer abgebrochen

Und dieses seit dem Frühling erarbeitete Berner «Frühlings Erwachen» ist ein lustvolles Verwirrspiel, dem das Publikum jedoch stets einfach folgen kann. Schon nur, weil die Spieler*innen authentisch und mit Augenkontakt zum Publikum vorne stehen.

So erfahren wir, dass die eine Spielerin von ihren Eltern nicht aufgeklärt worden ist. Und dass der andere den Gymer abgebrochen hat, weil er «zu schlau fürs Gymnasium» war. Maryam ist eine Frohnatur und Blue war noch nie verliebt. Max und Emil werden sich auf der Bühne küssen. Machen dabei aber klar, dass es nicht aus Liebe geschieht, sondern weil es überall möglich sein sollte, dass zwei Jungen sich küssen, ohne sich zu verstecken.

Und wer jetzt denkt: Natürlich, diese «woke» Generation mit ihrem «Gender-Gaga». Auch diese Kritik nehmen die Jugendlichen vorweg, indem sie all die Meinungen und Vorurteile der Erwachsenen in einer Performance herunterrattern und so wunderbar persiflieren.

Sie sind dabei nicht anders als die Jugendlichen vor ihnen. Verloren in diesen Gefühlen, die immer ein Zuviel sind. Zu euphorisch, zu traurig, zu wütend, zu unverstanden. Die grosse Leistung dieser Inszenierung ist, dass diese Stimmungen auf der Bühne spürbar werden. Dass der ganze Abend getragen ist von dieser ansteckenden Energie, von Wut und Poesie und Freude.

Am Ende will das Publikum gar nicht mehr aufhören zu klatschen. Und ja, ein Besuch der Vidmarhallen lohnt sich. Um besser zu verstehen, wie es den Berner Jugendlichen geht. Und um sich zu erinnern, dass es einem in diesem Alter gar nicht viel anders ging.

«Frühlings Erwachen», bis 17.12., je 19.30 Uhr, Vidmar 1.

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