Die Schweiz weiss nicht, wie viele Kinder sie inhaftiert
Weil nicht alle Kantone dem Bund Zahlen weitergeben, weiss niemand, wie viele Jugendliche schweizweit wegen fehlenden Aufenthaltspapieren im Gefängnis landen.
Die Administrativhaft ist rechtlich heikel: Menschen landen in Haft, weil sie kein Aufenthaltsrecht haben. Bis zu eineinhalb Jahre ist das laut Gesetz möglich – ohne Straftat, ohne Urteil. Oft auch ohne Anwalt.
Noch heikler ist: Auch Kinder ohne Aufenthaltspapiere dürfen inhaftiert werden. Meistens sind das unbegleitete, abgewiesene Asylsuchende.
Gemäss der Schweizer Anti-Folter-Kommission verstösst das gegen die Kinderrechte. Auch diverse internationale Organisationen sehen das so. Aber das nationale Recht erlaubt die Haft für Minderjährige ab 15 Jahren.
Kinder unter 15 Jahren kommen schweizweit nicht mehr in Administrativhaft, seit das 2018 von der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates angeprangert wurde – insbesondere beim Kanton Bern, der für fast 90 Prozent aller Fälle verantwortlich war. Das Regionalgefängnis Thun schloss daraufhin seine für Mütter mit Kindern vorgesehenen Zellen.
Nicht alle Kantone inhaftieren Jugendliche, Bern schon
Nicht alle Kantone inhaftieren Minderjährige. Es gibt insgesamt wenige Fälle. Genf und Neuenburg haben die Haft für Minderjährige explizit verboten.
Der Kanton Bern tut es weiterhin. Die Berner Sicherheitsdirektion schreibt dazu: «Weil die schweizerischen Gesetze dies so vorsehen.» Jede Haft werde zudem von einem Gericht beurteilt und genehmigt. Rechtsprofessorin Martina Caroni sagt dazu: «Das Gesetz erlaubt es. Aber es sagt nicht, die Behörden müssen es tun.»
Die «Hauptstadt» hat beim Kanton Bern angefragt, wie viele Minderjährige die Behörden in den letzten zwei Jahren in Administrativhaft nahmen. Um die Zahl in einen Vergleich setzen zu können, hat sie beim Staatssekretariat für Migration zusätzlich nach schweizweiten Zahlen gefragt.
Es folgte ein Durcheinander, das bei den Recherchen zur Ausschaffungshaft schon zuvor mehrfach aufgetreten ist, wie der erste Bericht der «Hauptstadt» zu diesem Thema aufzeigt. Aber diesmal kommt hinzu: Es geht um Jugendliche in Haft. Ein heiklerer Bereich von staatlichem Handeln ist kaum denkbar.
Inhaftiert Bern als einziger Kanton noch Jugendliche? Antwort: Unklar.
Der Kanton Bern gab an, 2023 und 2024 seien insgesamt 43 Minderjährige in Administrativhaft gewesen.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) gab für den gleichen Zeitraum – für die ganze Schweiz – ebenfalls 43 an.
Bedeutet das, dass nur noch der Kanton Bern Minderjährige inhaftiert? Anruf beim SEM. Das könne man sich nicht vorstellen, heisst es dort. Das sei sehr unwahrscheinlich. Beweisen könne man es aber nicht, weil die Daten nicht nach den einzelnen Kantonen ausgewertet werden. Grund sei der Persönlichkeitsschutz, weil es nur so wenige Fälle gebe.
Jetzt könnte man den Schluss ziehen: Wenn die schweizweite Zahl und die Berner Zahl übereinstimmen, dann muss es so sein, dass Bern als einziger Kanton noch Kinder einsperrt?
Wie viele Kinder inhaftiert die Schweiz? Antwort: Ebenfalls unklar.
Weitere Nachforschungen beim SEM ergeben: Auch das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Denn nicht alle Kantone geben dem SEM all ihre Daten zur Administrativhaft weiter.
Konkret machen nicht alle Kantone, darunter Zürich, im zentralen Migrationssystem (ZEMIS) Angaben zu kurzfristigen Festhaltungen. Das ist eine Haft von maximal drei Tagen für Menschen ohne Aufenthaltspapiere. In Bern geschehen kurzfristige Festhaltungen häufig im Regionalgefängnis. Es ist zwar kurz, aber es ist immer noch Haft – und es ist bei Jugendlichen die am häufigsten angewendete Form. Fast alle Haft-Fälle mit Minderjährigen sind kurzfristige Festhaltungen.
Das heisst: Die Schweizer Behörden wissen nicht, wie viele Kinder schweizweit tatsächlich inhaftiert werden. Ohne jeden der 26 Kantone einzeln nach Zahlen zu fragen, lässt sich das nicht überprüfen. Es lässt sich auch kein Vergleich zwischen den Kantonen anstellen, denn diese Informationen sind nirgendwo zentral und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar gesammelt.
Das bestätigt das SEM gegenüber der «Hauptstadt». Bezüglich der kurzfristigen Festhaltungen könnten die Schweizer Behörden keine genauen Aussagen machen zur Inhaftierung von Minderjährigen, schreibt das Amt. Es weist darauf hin, dass es jedoch bei kurzfristigen Festhaltungen auch darum gehen könne, die Identität einer Person festzustellen. In diesen Fällen wisse man zum Zeitpunkt der Festnahme noch gar nicht, wie alt sie sei.
Auch eine Anfrage beim Bundesamt für Statistik führt ins Leere: Dort werden Daten zur Administrativhaft nur nach Geschlecht und Staatsangehörigkeit unterschieden. «Wir können daher nicht wissen, wie alt die in Administrativhaft inhaftierten Personen sind», schreibt das Bundesamt.
Wenig Aufmerksamkeit in einem sensiblen Bereich
Der grüne Nationalrat Balthasar Glättli beschäftigt sich seit langer Zeit mit Asyl- und Migrationspolitik und sitzt in der entsprechenden Kommission. Von der «Hauptstadt» auf die Datenlage angesprochen, sagt er: «Kinder in Ausschaffungshaft sind ein extrem sensibler Bereich von staatlichem Handeln.» Das zeige nur schon die Tatsache, dass 2018 die Geschäftsprüfungskommission die Haft für Kinder unter 15 Jahren so stark kritisierte, dass sie schweizweit gestoppt wurde.
«Dass es heute in diesem Bereich keine konsolidierten Zahlen gibt, zeigt, wie wenig Aufmerksamkeit dem Thema gewidmet wird», so Glättli.
Wenn die Zahlen des SEM einzig eine «Summe freiwilliger Meldungen» seien, fehle der schweizweite Überblick über das Handeln der Kantone in diesem sensiblen Bereich. Ein solcher Überblick wäre aber für Behörden, die Öffentlichkeit und auch für die Politik wichtig – und zwar für alle politischen Lager, findet Glättli.
Kanton Zürich verzichtet auf Festhaltungen
Die «Hauptstadt» versuchte einzugrenzen, wie die Zahl von 43 Festhaltungen Minderjähriger des Kantons Bern einzuschätzen ist. Sie hat bei den Kantonen Zürich und Basel-Stadt nachgefragt.
Basel-Stadt hat in den letzten zwei Jahren keine Minderjährigen in Administrativhaft genommen, im letzten Jahr jedoch 16 Minderjährige kurzfristig festgehalten und im Jahr davor 3 Minderjährige. Ein möglicher Grund dafür sei zum Beispiel eine Zuführung in den Ursprungskanton, schreibt das Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt auf Anfrage.
Der Kanton Zürich gibt die Daten zu den kurzfristigen Festhaltungen nicht an das SEM weiter. Als bevölkerungsreichster Kanton dürfte er die grösste Lücke in der nationalen Datensammlung bewirken. Das Amt für Justizvollzug teilt auf Anfrage mit: Das Zürcher Zentrum für Ausländerrechtliche Administrativhaft nehme seit einigen Jahren gestützt auf einen Entscheid der kantonalen Sicherheitsdirektion keine Minderjährigen mehr auf. In den letzten zwei Jahren seien im Kanton Zürich weder Administrativhaft noch kurzfristige Festhaltungen bei Minderjährigen angeordnet worden.
Diese Recherche wurde mit Unterstützung von JournaFONDS realisiert.
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