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«Hauptstadt» im Dialog

«Wir sollten als Gemeinschaft lernen, zu trauern»

Sind die Alten den Jungen etwas schuldig in Sachen Klimawandel? Ein Generationen-Gespräch anlässlich der Ausstellung «Mensch, Erde!» im Naturhistorischen Museum.

Dominic Müller und Rolf Blickle bei der Diskussion zu Verantwortungen bei der Ausstellung Mensch, Erde fotografiert am Mittwoch, 29. Oktober 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Dominic Müller (links) und Rolf Blickle (rechts) treffen sich im Naturhistorischen Museum zum Gespräch. (Bild: Simon Boschi)

Der eine ist 22, lebt in Thun und zählt zu den besten Orientierungsläufern der Schweiz. Der andere ist 78, wohnt im Westen Berns und blickt auf vier Jahrzehnte als Sozialarbeiter zurück.

Dominic Müller und Rolf Blickle trennen 56 Jahre, ihre Welten haben kaum etwas gemein – und doch sitzen sie an diesem Mittwochnachmittag am selben Tisch im Naturhistorischen Museum. Rolf hat zwei Fragen mitgebracht, die ihn umtreiben, seit er Grossvater ist: Was schulden die Älteren den Jungen im Hinblick auf den Klimawandel? Und wie geht man mit dieser Verantwortung um?

Rolf Blickle: Meine Generation hat bedenkenlos konsumiert. Wir sind geflogen ohne nachzudenken. Dabei hat der Bericht des Club of Rome schon vor über 50 Jahren die Grenzen des Wachstums aufgezeigt. So viele Chancen wurden verpasst. Das macht mich traurig. Ein Gedanke aus der Ausstellung hat mich besonders berührt: Wir sollten als Gemeinschaft lernen, zu trauern. Daraus könnte neue Kraft entstehen.

Wie meinen Sie das?

Rolf Blickle: Ich denke an die Trauer über verpasste Möglichkeiten, den Klimawandel zu bremsen. Wenn ich an meine Enkel oder an Dominic hier denke, frage ich mich, was wir durch unser Verhalten eurer Generation genommen haben. Dafür tragen wir Verantwortung.

Dominic Müller, was macht es mit Ihnen, wenn Sie das hören? Sind Sie hässig auf die Generation von Rolf Blickle?

Dominic Müller: Ich war am Gymnasium, als die Klimaproteste und Greta Thunberg gerade sehr aktuell waren. In den Medien hat man damals häufig gehört, die ältere Generation sei schuld. Ich habe das nie ganz verstanden.

Warum nicht?

Dominic Müller: Es war eine andere Zeit, als Herr Blickle jung war. Man kann heute sagen, dass vieles verantwortungslos war, aber damals wusste man weniger. In den letzten zehn Jahren hat die Wissenschaft enorme Fortschritte gemacht. Heute ist klar, dass wir so nicht weitermachen können. Doch das Verhalten ändert sich kaum.

Dominic Müller bei der Diskussion zu Verantwortungen bei der Ausstellung Mensch, Erde fotografiert am Mittwoch, 29. Oktober 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Müller absolviert ein Fernstudium der Informatik. (Bild: Simon Boschi)

Was könnte man tun?

Dominic Müller: Ich sehe die Verantwortung weniger zwischen den Generationen hier in der Schweiz, sondern eher im Nord-Süd-Gefälle. Mein CO₂-Fussabdruck ist viel grösser als der eines Menschen im globalen Süden, aber ich spüre die Folgen kaum.

Müssen wir heute mehr Verantwortung übernehmen, weil wir mehr wissen?

Dominic Müller: Ja, das spüre ich deutlich. Aber mit der Verantwortung kommt auch Hoffnungslosigkeit. Seit etwa zehn Jahren sehe ich, was unser Konsum anrichtet. Oft lese ich keine Klima-Nachrichten mehr, weil sie mich runterziehen.

Rolf Blickle: Dieses Gefühl kenne ich, aber ich weigere mich, hoffnungslos zu werden. Ich bin religiös geprägt und glaube, dass jede Geschichte eine Gegengeschichte hat. Martin Luther soll gesagt haben: «Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.»

Dominic Müller: Ich möchte noch ergänzen: Global bin ich vielleicht hoffnungslos, aber lokal, hier in der Schweiz, sehe ich Fortschritte. Es passiert etwas.

Was hilft, die Hoffnung nicht zu verlieren?

Rolf Blickle: Ich versuche, bewusster zu konsumieren. Aber ich frage mich auch, ob wir Älteren nicht öfter stören sollten – wie die «Klimakleber», die sich auf Strassen festkleben. Oder durch Steuerverweigerung.

Sie empfehlen also, im Alter radikaler zu werden? Rolf Blickle: Voilà.

Dominic Müller: Mein Gefühl ist, dass wir auf jeden Fall mehr bewirken könnten, wenn wir uns zusammentun zwischen den Generationen und auch risikofreudiger werden.

Rolf Blickle bei der Diskussion zu Verantwortungen bei der Ausstellung Mensch, Erde fotografiert am Mittwoch, 29. Oktober 2025 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Blickle ist seit 15 Jahren pensioniert und engagiert sich unter anderem in der Güterhilfe für die Ukraine. (Bild: Simon Boschi)

Sollte es einen finanziellen Ausgleich zwischen den Generationen geben? Ältere, die viel emittiert haben, zahlen in einen Fonds, der den Jungen beim ökologischen Umbau hilft?

Dominic Müller: Ich weiss nicht, ob das etwas bringen würde. Ich glaube nicht, dass du, Rolf, mir konkret etwas schuldig bist durch dein früheres Verhalten.

Rolf Blickle: Ein Bonus-Malus-System wurde schon in den 1990ern beim Verkehr diskutiert: Jeder hat ein jährliches Emissionsbudget. Wer weniger verbraucht, bekommt einen Bonus. Wer mehr verbraucht, zahlt drauf. Dieser Gedanke ist immer noch interessant – als Solidarität zwischen Generationen und zwischen Nord und Süd.

Dominic Müller: Das finde ich eine schöne Idee, aber ich glaube, das ist in unserer Welt nicht umsetzbar.

Rolf Blickle: Die Juso-Initiative, über die am 30. November abgestimmt wird, geht in eine ähnliche Richtung. Sie will Einnahmen aus einer Erbschaftssteuer für den Klimaschutz nutzen. Vermögende würden mehr Verantwortung übernehmen – zumindest finanziell. Was denkst du, Dominic?

Dominic Müller: Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass es eine gute Idee ist. Es gibt Studien, die zeigen, dass Superreiche unverhältnismässig viele Emissionen verursachen. Eine Steuer, die sie stärker belastet, wäre sinnvoll.

Zum Schluss noch einmal zur Trauer, die Sie, Rolf Blickle, erwähnt haben …

Rolf Blickle: … genau. Ich meine die Trauer über nicht wahrgenommene Verantwortung in Sachen Klima. Vielleicht fehlt uns in der Schweiz eine starke Tradition für das «Betrauern». Auch meine geistige Heimat, die Kirche, hat in dieser Hinsicht wenig zu bieten. 

In St. Gallen gab es zumindest vor ein paar Jahren eine Trauerfeier für den geschmolzenen Pizol-Gletscher.

Rolf Blickle: Vielleicht brauchen wir grössere Plattformen. Eine Landesausstellung zu den Klimaveränderungen könnte viele Menschen zusammenbringen. Ich erinnere mich an die Expo 02 im Drei-Seen-Gebiet. Dort gab es eine Relief-Karte, die den steigenden Meeresspiegel simulierte. Das hat mich tief beeindruckt. Was damals utopisch schien, ist heute Realität. Solche Anlässe könnten uns aus der Starre holen.

Dominic Müller: Ja, ich glaube, so eine kollektive Trauer könnte einen bewussteren Umgang mit der Natur bewirken. Eine Expo, die sich nur den Gletschern widmet, hätte sicher eine grosse Strahlkraft und würde das Thema näher zu den Menschen bringen.

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