Das Klima und die zukünftigen Generationen

Der Klimawandel wird immer spürbarer. Unser Kolumnist fragt sich, ob wir überhaupt noch an unsere Enkelkinder denken müssen, um die Dringlichkeit des Problems zu begründen.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

«Waldbrände in Kanada, Kalifornien, Spanien und auf Hawaii» – «Tropische Stürme am Atlantik» – «Griechenland in Flammen» – «42,9 Grad in Rom; 46,3 auf Sizilien» – «Hagelstürme in Deutschland» – «Überflutungen in Schweden und Slowenien» – «Das arktische Meereis schmilzt»: Die Nachrichten lesen sich dieses Jahr wie ein schlechter dystopischer Roman. Offenbar sind wir in der Zukunft, vor der Umweltschützer*innen seit mindestens dreissig Jahren warnen, angekommen. 

Auch in Bern ist die Augusthitze seit einigen Tagen bedrohlich drückend. Der Sprung in die Aare tröstet immer schlechter über den Gedanken hinweg, dass wir möglicherweise nicht nur eine ganz normale Hitzewelle erleben.

Ein Argument, das verpflichtet

Ein plausibles Argument für den Kampf gegen Klimawandel und Umweltverschmutzung lautete bislang etwa so: Wir spüren die Folgen des unregulierten Ausstosses von CO2 noch nicht direkt. Deswegen kann man sagen, dass die Nachteile des rücksichtslosen Verwendens fossiler Brennstoffe von den Vorteilen, die diese Praxis nun mal hat, überwogen werden.

Machen wir aber so weiter, wird irgendwann ein Zeitpunkt erreicht sein, an dem die negativen Folgen sehr wohl zu spüren sein werden. Vielleicht nicht von uns, vielleicht nicht von unseren Kindern oder Enkelkindern – aber von zukünftigen Generationen.

Die Angehörigen dieser zukünftigen Generationen, so das Argument weiter, haben ein moralisches Recht darauf, in einer Welt zu leben, die nicht von Klimakatastrophen aller Art bedroht ist. Und aus diesem Recht lässt sich direkt unsere Pflicht ableiten, alles daran zu setzen, den menschengemachten Klimawandel zu stoppen.

Wer sind diese zukünftigen Generationen?

Auf den ersten Blick ist an dieser Argumentation nichts besonders problematisch. Und doch hat es in der philosophischen Diskussion einen regen Streit um den moralischen Status der Personen gegeben, die in dem Argument die zentrale Rolle spielen. 

Immerhin reden wir hier von Menschen, die wir persönlich gar nicht kennen, ja, gar nicht kennen können – und von denen wir auch nicht viel wissen können. Das alles macht es sehr schwierig, sich auf sie in einer Argumentation zu beziehen, die das Ziel hat, eine moralische Pflicht zu begründen, die im besten Fall unser Verhalten ändern soll.

Eine ganz spezifische Facette dieses Problems ist in den Achtzigerjahren von Derek Parfit, einem der wichtigsten Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts, in die Debatte eingeführt worden. In der einfachsten Version besteht dieses Problem darin, dass manche unserer Entscheidungen nicht einfach nur den zukünftigen Lauf der Dinge verändern, sondern einen Einfluss darauf haben, welche Personen existieren oder nicht existieren werden. Und das kann unter Umständen Folgen für die moralischen Rechte von in der Zukunft lebenden Personen haben.

Paulas Leben in der Zukunft

Schauen wir uns der Einfachheit halber ein konkretes, wenn auch fiktives Beispiel an: Paula ist zwanzig und lebt unter schlimmsten Zuständen im Bern des Jahres 2100. Aufgrund des Klimawandels ist die Welt grösstenteils unbewohnbar geworden. In der Schweiz kann man die Sommer nicht mehr draussen verbringen. Einzelne Regionen des Landes haben sich vom Bund abgespalten. Hier und da herrschen Anarchie und Hungersnot.

Paula hat Glück gehabt. In Bern wurden rechtzeitig riesige unterirdische Wohnkomplexe gebaut, in denen sie und andere Berner*innen den Grossteil ihres Lebens verbringen. Manchmal schaut Paula sich alte Videoaufnahmen an, auf denen zu sehen ist, wie glückliche Menschen im Sommer in der Aare schwimmen. Ihr Herz krampft sich zusammen. Sie weiss, dass sie nie lachend in den Fluss springen wird. 

An dieser Stelle könnte man zunächst wiederum argumentieren, dass die Praxis, die zu den Zuständen geführt hat, unter denen Paula leben muss, moralisch zu verurteilen ist, weil sie das moralische Recht von Paula auf eine intakte Umwelt verletzt. Dass Paula ein solches Recht hat, ergibt sich daraus, dass sie sich angesichts ihrer Lebenssituation bei den Personen aus den vergangenen Generationen – z.B. bei den Personen, die heutzutage leben – legitimerweise beschweren könnte, dass sie nicht rechtzeitig notwendige Schritte unternommen haben, um den Klimawandel zu stoppen.

Kein Klimawandel, keine Paula

Parfits Grundidee ist nun, dass Paula sich nicht auf diese Weise beschweren kann, weil es sie in einer Welt, in der Menschen Anfang des 21. Jahrhunderts den Klimawandel gestoppt haben, höchstwahrscheinlich gar nicht geben würde.

Vielleicht haben sich die Grosseltern von Paula ja kennengelernt, als sie von der Polizei verhaftet wurden, nachdem sie aus Protest gegen den Klimawandel Bilder im Museum beschädigt haben. Vielleicht haben ihre Eltern sich ineinander verliebt, als sie nach dem Grossen Berner Aufstand von 2075 kurzfristig vor marodierenden Banden aus der Stadt fliehen mussten.

Das alles wäre nicht passiert, wenn wir eine umsichtigere Klimapolitik betrieben hätten. Es hätte Paula dann gar nicht gegeben, also kann sie sich nicht ernsthaft darüber beschweren, dass wir den Klimawandel nicht gestoppt haben. Und weil sie auf diese Weise kein moralisches Recht darauf hat, in einer weniger schrecklichen Welt zu leben, kann man nicht davon reden, dass wir wegen ihr und anderer Mitglieder zukünftiger Generationen moralisch verpflichtet sind, etwas an unserer Klimapolitik zu ändern.

Das ist natürlich eine schwer zu akzeptierende Schlussfolgerung. Daran ändert sich übrigens nicht viel, nur weil wir klimatechnisch möglicherweise ohnehin am Beginn der apokalyptischen Endzeit stehen. Ja, wir gehören vielleicht zu den letzten Generationen, und insofern ist es gar nicht mehr nötig, in Argumenten gegen den Klimawandel auf zukünftige Generationen hinzuweisen.

Aber das Problem, auf das Parfit aufmerksam macht, funktioniert auch in die andere Richtung: Die griechische Bäuerin, die Haus und Hof bei einem Waldbrand verloren hat, kann sich nicht bei den vergangenen Generationen – z.B. den Industriellen des 20. Jahrhunderts, die ihre Vermögen auf Kosten der Umwelt gemacht haben – beschweren, weil sie vielleicht nicht geboren worden wäre, wenn man schon in den Sechzigerjahren global eine andere Klimapolitik betrieben hätte. Auch das ist eine unangenehme Schlussfolgerung.

Eine andere Strategie

Der Klimawandel ist von uns Menschen verursacht worden. Warum sollten wir ausgerechnet in diesem Zusammenhang Personen für einen Schaden, den sie erzeugt haben, nicht verantwortlich machen? 

Zum Glück sind wir nicht gezwungen, einen solchen Standpunkt einzunehmen. Das Problem, auf das Parfit aufmerksam macht, betrifft lediglich eine Strategie, wie man eine Pflicht zum Kampf gegen den Klimawandel begründen kann. Sein Verdienst ist, uns darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht aussichtsreich ist, die Begründung dieser Pflicht von der Frage abhängig zu machen, ob sich konkrete Einzelpersonen wie Paula in der Zukunft darüber beschweren können werden, dass sie nicht in einer anderen Welt leben.

Eine moralische Pflicht, den Klimawandel zu stoppen, kann nämlich auch ohne Bezugnahme auf die Perspektive von in der Zukunft lebenden Einzelpersonen gerechtfertigt werden. 

Hier kann man etwa eine konsequentialistische Perspektive einnehmen und dafür plädieren, dass eine Welt ohne Klimawandel etwas überpersönlich Gutes darstellt, das wir durch unsere Handlungen über die Generationen hinweg maximieren sollten. Aus dieser Perspektive können wir uns heutzutage bei den Industriellen des 20. Jahrhunderts vielleicht nicht in dem Sinne «persönlich» beschweren, indem wir fragen: «Wie konntet ihr mir dieses Leben antun?»

Aber immerhin können wir ihnen – und all den anderen Akteur*innen, die damals wie heute das Klima auf dem Altar egoistischer Selbstverwirklichung opfern – einen legitimen moralischen Vorwurf machen. Das ist nicht viel, mag man denken, aber gerade in politischen Auseinandersetzungen kann es nicht schaden, die Moral auf der eigenen Seite zu haben.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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