Atmen für Fortgeschrittene

Die von Bühnen Bern uraufgeführte Oper «Sycorax» thematisiert Kolonialismus, Naturzerstörung, kapitalistische Ausbeutung. Ein Wagnis. Und ein Erlebnis.

Illustration Kulturkritik
(Bild: Jörg Kühni)

Der Zugang zu Sycorax wird einem nicht gerade leicht gemacht. Sycorax ist eine Hexen-Figur, die der englische Dichter William Shakespeare im 17. Jahrhundert für sein Werk «Der Sturm» schuf. Muss man englische Literatur studiert haben, um mit der experimentellen Opernversion etwas anfangen zu können, die der Komponist Georg Friedrich Haas extra für Bühnen Bern schrieb?

Nein, muss man nicht. Nicht einmal als krasser Opern-Laie. Was aber zwingend ist: Sich vor dem Besuch der Oper für zwei Franken das Leporello zu «Sycorax» kaufen, auf dem Handlung und Hintergrund beschrieben sind. So kann man sich der Kunst hingeben, ohne dass man ständig Angst haben muss, die Handlung nicht zu verstehen.

Recht praktisch ist auch, dass die englischen Texte wie immer bei Opern auf deutsch übersetzt auf Bildschirmen mitlaufen (sofern diese nicht gerade vom Bühnenbild verdeckt werden). Und dass die Oper nicht einmal so lange dauert wie ein Fussballspiel (80 Minuten). Die Bereitschaft, sich auf eine klanglich unbekannte Welt einzulassen, steigt, wenn man weiss, dass man bei akuter Langeweile nicht lange ausharren muss.

Die Szenerie stellt eine Insel im fortgeschrittenen Zustand der Naturzerstörung dar. Der Sauerstoff ist so knapp, dass ihn der weisse Herrscher Prospero, der mit seiner Tochter Miranda hier gestrandet ist, rationiert und seine Macht darauf aufbaut. Sycorax, eine Schwarze, ist von Prospero in einen Baum gesperrt worden, ihrem Sohn Caliban hat er erzählt, dass seine Mutter ihn verlassen habe.

Weil Prospero von der  Insel ziehen will, entledigt er sich seines Luftmantels, was dazu führt, dass Sycorax erwacht und ihre Unterdrückung bekannt macht. Caliban, Miranda und der Luftengel Ariel erkennen, wie Prospero seine Macht missbrauchte. Doch anstatt alle anzustiften, sich zu rächen, plädiert Sycorax für Versöhnung.

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Tief durchatmen: Mollena Williams (in Rot) mit Luftengel Gabriel (rechts) und den Chorsänger*innen auf der Vidmar-Bühne. (Bild: Rob Lewis/zvg)

Die Geschichte an sich, verfasst von der Schriftstellerin Harriet Scott Chessman, mag so kurz erzählt plattitüdenhaft wirken. Das wahre Erlebnis dieser Oper ist aber, den Sänger*innen in den Vidmarhallen von so nah beim schweisstreibenden Arbeiten zuschauen zu können. Sycorax wird von der imposanten amerikanischen Performerin Mollena Williams-Haas gegeben, der Partnerin von Komponist Georg Friedrich Haas. Er hat in der Partitur festgehalten, dass Sycorax und Sohn Caliban immer von People of Color verkörpert werden müssen.

Man glaubt fast nicht, dass auf der kleinen Bühne auch noch die Streicher*innen Platz finden, auf die das Berner Symphonieorchester für den Sound von Komponist Haas reduziert wurde. Sie schaffen einen mantraartigen Klangteppich, über dem plötzlich von balkonartigen Emporen die Stimmen des Chors von Bühnen Bern ertönen.

Dass die 30 Sänger*innen kurz darauf mitten im Bühnenbild auftauchen, wieder verschwinden, um später wieder zu erscheinen, passt zum kleinen Kulturrausch, den dieses Stück auslöst. Einzelne Sätze, die man sich während der Aufführung merken wollte, sind danach aus dem Gedächtnis verschwunden. Sie sind wohl andernorts gespeichert, in Herz oder Seele vielleicht. Oder in der Atemluft, sofern man nicht vergessen hat, sie einzusaugen.

Weitere Aufführungen: 20.9., 25.9., 30.9., 2.10. (Dernière).

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