Mut zur Lücke

Im Kanton Bern stehen zu Schuljahresbeginn 1500 Lehrer*innen ohne Lehrdiplom vor der Klasse. Einige von ihnen haben vorab zumindest ein Sommercamp besucht, um sich auf ihre neue Rolle vorzubereiten. Die «Hauptstadt» war dabei.

PH Bern, Sommercamp

© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus.
Kurz und knackig – das Sommercamp ist als Unterstützungsangebot für Schulen gedacht. (Bild: Dres Hubacher)

«Die drei Minuten sind um», sagt Kurt Muhmenthaler in die Runde. Er ist Dozent im Sommercamp und erarbeitet mit den Teilnehmenden aus dem ganzen Kanton «10 Merkmale von gutem Unterricht».

Das Ziel ist, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die Unterrichtenden ohne Lehrdiplom sollen sich nicht nur die Inhalte einprägen, sondern gleichzeitig auch die Methodik lernen, welche sie dann mit in ihren eigenen Unterricht tragen. Oder in den Worten Muhmenthalers: «Sie lernen didaktische Formen, indem sie selbst an ihnen teilnehmen.»

PH Bern, Sommercamp

© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus.
Tafelbild statt Sommerferien – Dozent Kurt Muhmenthaler (rechts) gibt Teilnehmenden Feedback. (Bild: Dres Hubacher)

Aktuell sind rund 21‘000 Lehrpersonen im Kanton Bern angestellt – Anfang August waren auf dem Stellenportal des Kantons noch rund 110 Positionen unbesetzt. Der Lehrer*innenmangel wird in den nächsten Jahren fortdauern – viele Lehrkräfte der geburtenstarken Babyboomer-Generation gehen in Pension. Allerdings ist das Problem unterschiedlich ausgeprägt: Schulen in Randlagen und Primarschulen haben mehr zu kämpfen als weiterführende Schulen in Zentren. 

Der Kanton Bern versucht, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit für unbesetzte Lehrer*innenstellen geeignetes Personal gefunden werden kann. Einerseits wird das Reservoir von Studierenden der PH Bern angezapft: 1500 von ihnen haben eine Anstellung an einer Schule oder übernehmen regelmässig Stellvertretungen.

Weil das allein aber nicht ausreicht, stehen zusätzlich 1500 wiedereinsteigende oder neueinsteigende Lehrkräfte vor der Klasse – die kantonale Bildungsdirektion geht demnach davon aus, dass 3000 angestellte Lehrpersonen «die Ausbildungsanforderungen in weiten Teilen nicht erfüllen». Für die neueinsteigenden oder quereinsteigenden Lehrkräfte gibt es Weiterbildungen in einzelnen Fächern, Einzelcoachings, ein Beratungstelefon oder Onlinekurse.

Ein bedeutender Pfeiler im Unterstützungsangebot ist ausserdem das Sommercamp. Es findet dieses Jahr zum zweiten Mal statt. Der Kanton unterstützt es mit maximal 255‘000 Franken. 2024 haben sich 92 Teilnehmende für zwei Wochen an einem PH-Standort in der Nähe des Paul Klee Zentrums zusammengefunden. An einem Donnerstag Mitte Juli war auch die «Hauptstadt» mit von der Partie. 

PH Bern, Sommercamp

Andrea Meuli gibt dem SRF Auskunft 

© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus.
Sommercamp-Leiter Andrea Meuli im Gespräch mit Journalistinnen. (Bild: Dres Hubacher)

Die Gruppe an diesem Morgen weist einen hohen Frauenanteil auf. Eine Teilnehmerin erklärt, wie sie Kinder mit Beispielen aus ihrem Lebensumfeld ansprechen will: «Wie viel Wasser braucht die Kuh pro Tag – wie viel in einer Woche?».

Dozent Muhmenthaler ruft in Erinnerung, dass Unterricht Angebote schaffen soll – nimmt das Kind mehr über die Augen auf oder lernt es stärker beim Schreiben? «Es braucht Flexibilität im Kopf – und trotzdem den Plan vor Augen», fasst er zusammen.

Grosser Aufwand

Den Plan vom Grossen und Ganzen vor Augen hat auch Andrea Meuli. Er leitet das Sommercamp und hat im Vorfeld die Einsätze von 50 Dozierenden koordiniert. Ausserdem sind weitere 20 Personen in der Logistik involviert. Mit dem Camp sieht die PH Bern sich schweizweit in einer Pionierrolle. Der Kanton Zug kennt zumindest verschiedene Ausbildungsmöglichkeiten für Quereinsteigende. Bei der PH Zürich heisst es auf Nachfrage, dass sie über Unterstützungsangebote für Personen ohne Lehrdiplom verfügt, und dies eigenständig und ohne Orientierung an einem bereits bestehenden Modell entwickelt habe. Dieses Jahr werden Einführungswochen und Gruppencoachings im Oktober beziehungsweise Dezember durchgeführt.

Andrea Meuli wird nicht müde zu betonen, dass das Sommercamp kein reguläres Studium ersetzt. Es handele sich um eine kompakte Vermittlung und Befähigung, damit die jeweiligen Schulen durch vorbereitetes Personal optimal unterstützt werden können. Auf dem Menü des Sommercamps – die Bezeichnung «Schnellbleiche» verbittet er sich – steht laut Meuli das Wesen der bernischen Schule, der Lehrplan 21, die Unterrichtsplanung, Merkmale guten Unterrichts sowie die Elternarbeit. Viel Stoff in wenig Zeit also. 

Die Teilnehmenden nehmen das in Kauf – ebenso wie den Lohnabzug von 20 Prozent in ihrer neuen Stelle, den es aufgrund des fehlenden Diploms gibt.

Von der Kaserne ins Lehrerzimmer

Eine, die den Sprung wagt, ist Marion Freiburghaus. Die ehemalige Berufsoffizierin wird im Oberaargau Schulleiterin und übernimmt ausserdem ein Teilpensum in Französisch. 

Nach einer Familienpause und einem Engagement als Hundetherapeutin wolle sie nun «Kinder positiv prägen und unterstützen». Mit dem Schulwesen ist die 40-Jährige auch konfrontiert, weil ihre Tochter diesen Sommer eingeschult wird. Sie nimmt am Sommercamp Teil, weil sie «beste Voraussetzungen» für ihren Französischunterricht schaffen wolle. Sie denkt dabei an die Fachdidaktik.

PH Bern, Sommercamp

Studentin Marion Freiburghaus

© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus.
Macht schon seit dem Frühjahr eine Übergabe mit dem alten Schulleiter – das sei eine grosse Hilfe, findet Marion Freiburghaus. (Bild: Dres Hubacher)

Gleichzeitig habe ihr das Camp auch eine Bestätigung geliefert: «Ich kann mit meinem Wissen Unterricht vor- und nachbereiten – und kenne meine Grenzen.» Das Sommercamp liefert Hinweise, an welche Stellen die Neu-Lehrer*innen sich wenden können, wenn sie während des Schuljahres Hilfe brauchen.

Freiburghaus ist beeindruckt von den anderen Teilnehmer*innen – allesamt Menschen, die Mut aufbrächten, einen anderen Weg einzuschlagen. «Sie haben entschieden, sich zu exponieren. Das sollte man wertschätzen», findet Freiburghaus. 

Sind wir nicht alle Quereinsteiger*innen?

Der Begriff «Quereinstieg» mag Tom Ryf nicht so recht gefallen. «Ich bin mein ganzes Leben quer eingestiegen», sagt der 47-Jährige. Maurer mit Berufsmatur, Mediamatiker, UX-Designer – dieses Pensum reduziert er auf 50 Prozent, um künftig häufiger in einer Schule am Thunersee zu unterrichten. Für Ryf war es ein schrittweiser Übergang: Er hat bereits im abgelaufenen Schuljahr zwei Lektionen Technisches Gestalten unterrichtet. Im neuen Schuljahr wird er noch häufiger im Lehrerzimmer anzutreffen sein. Er übernimmt eine Klassenlehrerstelle und unterrichtet 12 Lektionen Medien und Informatik, Sport, Deutsch, Natur-Mensch-Gesellschaft (NMG) und Technisches Gestalten.

PH Bern, Sommercamp

Student Tom Ryf 

© Dres Hubacher

Fotografiert für Hauptstadt, neuer Berner Journalismus.
Vielseitig und begeisterungsfähig – Tom Ryf. (Bild: Dres Hubacher)

Für das Sommercamp hat er extra zwei Wochen Ferien bei seiner IT-Stelle genommen. «Ich will den Job einfach so gut wie möglich machen», sagt Ryf zu seinen Beweggründen. Ausserdem habe es ihm der Schulleiter ans Herz gelegt. Der Austausch mit den erfahrenen Dozenten habe ihm geholfen, ein besseres Gespür für die Kompetenzen von Kindern zu entwickeln und wie man ihnen Vertrauen in ihre Fähigkeiten schenken kann, so der Vater zweier Kinder.

Ryfs Lernprozess endet nicht mit dem Sommercamp. In seiner Schule ist er in einem Mentoring-Programm: Eine Kollegin hilft ihm bei der Vorbereitung des ersten Schultags und bei der Elternkommunikation. Ryfs Eltern waren Lehrer, seine Partnerin hat sich ebenfalls dem Beruf zugewandt – kann es einem da nicht schnell überdrüssig werden? «Mir taugt es einfach, mit jungen Menschen zu arbeiten. Das hält auch mich jung», ist sich Ryf sicher.

tracking pixel

Das könnte dich auch interessieren