Verrückte Mission
Als Läufer war Franco Noti talentiert, aber ständig verletzt. Jetzt will der Berner die grösste Segelregatta der Welt gewinnen. Auf dem Velo.
Wenn sich Franco Noti auf dem Segelschiff in Position begibt, dann sieht er nichts als einen Screen vor sich. Er liest darauf ab, wie stark er in die Pedale treten soll. Per Funk im Ohr hört er, welche Manöver anstehen. Wie das Schiff mit fast 100 Kilometern pro Stunde der Küste Barcelonas entlang brettert, das bekommt Franco Noti in seiner aerodynamischen Körperhaltung – tiefer Oberkörper, gesenkter Kopf – auf dem Spinning-Velo kaum mit. Nur ab und zu nimmt er sich im Training die Freiheit, kurz den Kopf zu heben.
Dann sieht Franco Noti die Skyline der Stadt vorüberziehen, davor rauschen das Meer und der Fahrtwind, und er merkt, was er hier eigentlich tut.
Ich sehe von Franco Noti vor allem den Mund. Er sitzt in einem Büro am Hafen von Barcelona und hat 45 Minuten Zeit für einen Videocall. Die Handykamera filmt nur den unteren Teil seines Gesichts. Er trägt ein Shirt des Segelteams «Alinghi Red Bull Racing». So heisst das Erfolgsprojekt des Schweizer Milliardärs Ernesto Bertarelli, seit er 2021 eine Kooperation mit Red Bull eingegangen ist.
Unter Franco Notis Kragen blitzt eine Perlenkette hervor, wie sie die coolen Jungs aus dem Lorrainequartier tragen. Ich frage den 27-jährigen Berner, wie er da gelandet ist: In diesem Segelteam, das im Oktober den America’s Cup gewinnen will. Die prestigeträchtigste Segelregatta der Welt. Denn Noti war bisher sein Leben lang Leichtathlet, und nicht Segler.
«Diese Mission ist ein bisschen verrückt. Deshalb reizt sie mich», sagt er.
Eine Karriere voller Knochenbrüche
Seit er ein Bub war, träumte Franco Noti von Olympia. «Ich war schon immer mega kompetitiv», sagt er. Ohne viel Training lief er schnelle Zeiten am Grand Prix von Bern und landete bald beim Berner Leichtathletikverein STB. Als 16-Jähriger lief er an den europäischen Jugendspielen über 3000 Meter auf den vierten Platz. Aber zu den Glanzresultaten gesellten sich bald die Stressfrakturen.
«Ich wusste: Könnte ich endlich richtig trainieren, dann würde viel drin liegen», erzählt Noti. Doch während sieben Jahren gelang ihm kein einziger Wettkampf. Ermüdungsbrüche bremsten das junge Talent immer wieder aus. Bis er 2021 an den Schweizermeisterschaften über 1500 Meter Bronze gewann. Und ein paar Wochen später am Berner Citius-Meeting eine Zeit von 3.41 Minuten lief. Das waren nur wenige Sekunden von einer Olympia-Qualifikation entfernt.
Plötzlich schien der grosse Traum wieder in Reichweite. Franco Noti unterbrach sein Medizin-Studium an der Uni Bern für zwei Jahre, um voll zu trainieren. «Wenn ich es jetzt auf die Reihe bringe mit den Verletzungen, dann schaffe ich das», dachte er sich.
Bis der Knochen im Fuss wieder brach.
Das war im Trainingslager in Spanien, wo er während der Wintermonate 2023 an der Wärme laufen wollte. «In diesem Moment merkte ich, es wird nichts mehr», sagt er. Franco Noti verlor das Vertrauen in seinen Körper. Und mietete sich aus Frust ein Rennvelo.
«Ich hatte schon immer Lust, mal zu schauen, wie weit am Stück ich Velo fahren kann, ohne zu schlafen», erzählt er. Im Trainingsplan eines Mittelstreckenläufers hatten solche Experimente aber keinen Platz. Nun, da die Träume geplatzt waren, war ihm das egal.
Nach 30 Stunden und 605 Kilometern stieg Franco Noti vom Velo. Er konnte kaum mehr gehen, so weh taten seine Knie. «Ich hatte einen schwachen Moment, deshalb gab ich auf», sagt er. Er nahm sich ein Hotelzimmer und bewegte sich da zwei Tage lang nicht vom Fleck.
«Ich hatte huere Muskelkater und konnte nicht richtig aufstehen, weil die Knie so schmerzten. Aber ich fands eigentlich geil.» Als es wieder einigermassen ging, nahm er den Zug zurück.
So bekam Franco Noti Lust aufs Velofahren. Alleine und ohne konkretes Ziel, aber mit viel Eifer begann er zu trainieren. Schnell wurde er gut. Letzten Herbst empfahl ihn ein Bekannter beim Segelteam Alinghi Red Bull.
Strampeln statt Kurbeln
Bei Segel-Wettkämpfen gilt die Regel: Was unter dem Wasser ist, darf mit Batterien betrieben werden. Bei den schnellsten Booten der Welt sind das die sogenannten Foils, Tragflächen aus Karbon, die das Boot aus dem Wasser heben und es wortwörtlich übers Wasser fliegen lassen.
Was aber über der Wasseroberfläche passiert, darf auf dem Boot nur mit menschlicher Kraft angetrieben werden. Zum Beispiel die Segel bewegen. Früher setzte man dafür schnellkräftige Muskelpakete ein, etwa ehemalige Kugelstösser, die mit ihren Armen Kurbeln bedienten.
Bis 2017 das neuseeländische Segelteam am America’s Cup mit einer neuen Idee auftauchte und das Rennen prompt gewann: Velofahrer. Statt mit den Armen lieferten sie die Energie für die Segelmanöver mit den Beinen. Beim nächsten America’s Cup, vier Jahre später, traten alle Teams mit Radfahrern an.
Das Schweizer Team hat seit über zehn Jahren nicht mehr am America’s Cup teilgenommen. Diesen Herbst kehrt Alinghi Red Bull Racing zurück. Ziel ist der Sieg. Wie 2003, als Alinghi die Sensation gelang, als erstes europäisches Team den Cup zu gewinnen. Und 2007, als es den Sieg erfolgreich verteidigte.
Im Oktober werden auch bei Alinghi Red Bull vier Männer an Bord auf Spinning-Velos ein hydraulisches System speisen. «Power Group» heisst die Auswahl von neun Athleten, die dafür zuständig sind. Einer davon ist Franco Noti. Seine Aufgabe: Möglichst viele Watt liefern.
Letzten Herbst hat er das Team davon überzeugt, dass er das kann – nach nur wenigen Monaten Radtraining. Nach Leistungstests und mehreren Interviews gab ihm Alinghi Red Bull Racing die Zusage. Nur fünf Tage später sollte er nach Barcelona ziehen, um dort bis zur Regatta im Oktober mit dem Team zu trainieren.
Franco Noti hatte knapp zwei Monate davor sein Medizinstudium an der Uni Bern wieder aufgenommen. Er hatte eine tolle WG in Bern. Und gute Freund*innen.
«Immer wieder für ein spezielles Projekt Vollgas zu geben, ist mein Traum im Leben», sagt er. «Und perfekt ready bist du nie. Wenn eine Türe aufgeht, musst du sie nehmen. Deshalb war mir schnell klar, dass ich das will. Auch wenn ich ein paar Sacrifices machen muss.»
Er sagte zu. Und zog wenige Tage darauf nach Barcelona. Sein Studium unterbrach er noch einmal, die WG gab er auf.
Den Sieg in der DNA
Als ich das zweite Mal mit ihm telefoniere, ist Franco Noti auf Mallorca im Trainingslager. Er sitzt auf einem Hotelbett. Wenn er die Kamera dreht, kann er mir Strand und Meer vor dem Hotelfenster zeigen.
Eine Woche lang trainiert die «Power Group», bestehend aus ehemaligen Olympia-Ruderern, einem Ex-Bahn-Radfahrer, drei Seglern und Noti, auf den Strassen Mallorcas. Danach geht’s zurück nach Barcelona, wo Franco Noti sich mit zwei Teamkollegen zusammen eine Wohnung im Stadtzentrum teilt. Das Team bezahlt die Miete. Für alle Mahlzeiten trifft sich die Belegschaft von Alinghi Red Bull in einer Basis direkt am Hafen. Das ganze Team zählt über 150 Personen: Athleten, Ingenieur*innen, Segelmacher*innen, Hydrodynamiker*innen.
«Das sind alles extreme Spezialisten in ihrem Fach», sagt Noti. Dass es nichts als den Sieg gebe, sagt er, gehöre bei diesem Projekt zur DNA. Das beeindruckt ihn. Ausserdem sei es schön, an einem Ort gelandet zu sein, der gegenüber der Leichtathletik viel mehr finanzielle Ressourcen zur Verfügung habe. Das Budget der neuen Alinghi-Red Bull-Kooperation ist geheim. Laut Blick handelt es sich aber «sicher um eine dreistellige Millionensumme».
Ende August beginnen mit dem «Louis Vuitton Cup» die Vorausscheidungen für den grossen America’s Cup. Bis dahin trainieren Noti und seine Kollegen von der «Power Group» rund 20 Stunden pro Woche, auf dem Boot, auf dem Rennvelo oder im Kraftraum. Damit sie, wenn es dann ernst gilt, während den rund 25 Minuten, die eine Regatta dauert, so viele Watt in die Pedale treten können wie nur möglich.
Vermisst Noti das Laufen nicht, das vorher sein halbes Leben dirigiert hat?
«Manchmal, wenn ich Leuten dabei zusehe», sagt er. «Aber das Lauftraining kenne ich gut. Was ich jetzt interessant finde, ist die neue Challenge.»