Ist das Münster noch das Münster?

Die Renovierungsarbeiten am Münster erinnern unseren Kolumnisten an ein klassisches Rätsel der Philosophiegeschichte: Bleibt ein Gebäude dasselbe, wenn man seine Teile ersetzt?

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Jedes Mal, wenn ich in letzter Zeit über die Kornhausbrücke in die Berner Altstadt gehe, überkommt mich der Drang, das Münster zu fotografieren. Gefühlt war der Münsterturm so lange mit Gerüsten drapiert, dass ich nun immerzu denke, ich sollte möglichst schnell die Gelegenheit ergreifen und den höchsten Kirchturm der Schweiz im gerüstfreien Zustand festhalten.

Dabei sind die Renovationsarbeiten an anderen Stellen des Münsters schon wieder im vollen Gange. Wann denn die Münsterrennovierung abgeschlossen sein werde, habe ich mal einen Berner Kollegen gefragt. Niemals, meinte er. Der Sandstein, der für die Fassade und die prächtigen Verzierungen verwendet wurde, müsse immer wieder ersetzt werden.

Ein Gebäude im stetigen Wandel?

Ganz so schlimm wird es wohl nicht sein. Für die jüngsten Restaurierungsarbeiten hat man offenbar den abblätternden Sandstein mit flüssigem Quarz verkitten können. Durch den Einsatz dieser Technik werden Restaurierungen weniger häufig notwendig sein, und es bleibt mehr von der originalen Sandsteinsubstanz erhalten. Dennoch hat sich in meinem Kopf die Vorstellung vom Münster als einer sich permanent erneuernden Baustruktur verfestigt.

Wo andere Gebäude bei mir die Illusion der Unveränderlichkeit erzeugen, kommt mir das Münster wie etwas vor, das sich im steten Wandel befindet. Das ist der Grund, weshalb ich mit dem Münster ein uraltes philosophisches Rätsel verbinde, das bis heute im Zusammenhang mit einem der grundlegenden Begriffe der Philosophie diskutiert wird – der Identität.

Dieser Begriff ist so grundlegend, dass es schwerfällt, ihn auf interessante Weise zu thematisieren. «Was ist identisch?», könnte man fragen, und eine gute Antwort wäre: «Alles». «Wann ist etwas identisch?», wäre eine andere Frage, und die Antwort darauf müsste ähnlich seltsam ausfallen: «Immer». 

Jedes Ding, das es gibt, ist immer identisch mit sich selbst. Wenn es mal nicht identisch mit sich selbst wäre, wäre es eben nicht das Ding, um das es in den Fragen geht, sondern es wären zwei unterschiedliche Dinge.

Und jetzt ein Gedankenexperiment

Das alles hört sich genau nach der Sorte von Dingen an, die jemand sagt, der besonders tiefgründig und rätselhaft erscheinen möchte. Zum Glück gibt es aber noch eine andere Weise über die Relation der Identität nachzudenken, und hier kommen die Münsterrenovierungen ins Spiel. 

Als Philosoph*innen sind wir in der dankbaren Lage, Dinge vereinfachen zu können, um den Blick fürs Wesentliche zu behalten. Genau das passiert, wenn man ein Gedankenexperiment anstellt.

Nehmen wir also an, dass das gesamte Münster aus genau eintausend Blöcken besteht, die nach und nach – sagen wir mal, zehn Blöcke pro Jahr – ausgetauscht werden. Im ersten Jahr der Renovierung werden zehn der tausend Blöcke ersetzt.

Niemand denkt, dass diese Renovierung etwas Problematisches darstellt. Das Münster ist immer noch das Münster. Ein Jahr später ist die Situation genauso zu bewerten, obwohl bereits zwanzig Blöcke ausgetauscht wurden. Drei Jahre später – das Münster ist immer noch da. Und so geht es weiter.

Es fällt schwer, sich einen bestimmten Zeitpunkt in einer hundertjährigen Renovierungsgeschichte vorzustellen, an dem das Münster durch das Ersetzen eines bestimmten Blocks plötzlich aufhört, dasselbe Münster zu sein. Nach hundert Jahren entspricht in unserem Szenario kein Teil des Münsters einem originalen Münsterteil. Und dennoch scheint es immer noch dasselbe Münster zu sein.

Dinge verändern sich eben

Ganz ähnlich wie in diesem vereinfachten Szenario sieht die Situation des tatsächlichen Berner Münsters aus. Es ist nicht alles an ursprünglichem Baumaterial durch neues ersetzt worden, aber es ist anzunehmen, dass das Münster, wie wir es heute kennen, zu nicht unwesentlichen Teilen aus erneuerten Elementen besteht. Und dennoch denkt niemand, dass es nicht immer noch dasselbe Berner Münster ist, das über die Jahrhunderte kontinuierlich existiert hat.

Bei manchen Dingen können manche Teile ersetzt werden, ohne dass diese Dinge dadurch zu existieren aufhören. Es können sogar Teile ganz entfernt oder dauerhaft hinzugefügt werden, ohne dass das betreffende Objekt zu existieren aufhört: Wenn ein Wasserspeier am Münster durch Hagelschlag zerstört wird, dann ist im Ergebnis das Münster beschädigt. Aber es wäre falsch, wollte man behaupten, dass es nicht mehr da ist, solange der Wasserspeier nicht repariert wird.

Die zwei Münstergebäude

So weit, so gut. Das philosophische Rätsel fängt erst an, wenn man die fiktive Geschichte des Münsters, das aus tausend Blöcken besteht, um eine weitere Komponente ergänzt. 

Nehmen wir an, dass die Chefin der Firma, die einhundert Jahre lang für die Renovierungsarbeiten am Münster zuständig war, nicht nur besonders langlebig ist, sondern auch sehr originelle Ideen hat. Statt die alten Blöcke zu entsorgen, lagert die sie die Blöcke in einer Halle und verkittet die abblätternden Stellen mit flüssigem Quarz, ohne den Auftraggeber*innen davon zu berichten, dass diese Technik prinzipiell auch beim eigentlichen Münster eingesetzt werden könnte.

Aus den auf diese Weise wieder zusammengekitteten Blöcken baut sie dann nach und nach das Münster wieder auf – auf der Grossen Allmend. Nach hundert Jahren stehen in Bern also zwei nahezu ununterscheidbare Münstergebäude, eines in der Altstadt und eines auf der Grossen Allmend. Welches ist nun das Berner Münster? Welches ist lediglich eine Kopie?

Zwei Antworten, die sich an dieser Stelle aufdrängen könnten, scheiden aus. Zum einen könnte jemand auf die Idee kommen, dass beide Gebäude das Berner Münster sind. Das ist aber aus logischen Gründen ausgeschlossen. Ein Ding kann nicht zwei Dinge sein. Das ist es ja gerade, worum es bei der Frage nach Identität geht.

Zum anderen könnte man behaupten, dass keines der beiden Gebäude das Berner Münster ist. Dann hätte man aber das Problem, dass völlig unerklärlich ist, wohin denn das Berner Münster verschwunden sein sollte, während zwei neue, völlig andere Gebäude in der Altstadt und auf der Allmend entstanden sind. 

Es wäre zudem sehr seltsam, dass das Berner Münster in unserem ursprünglichen Szenario weiterexistiert, während es in dem erweiterten Szenario zu existieren aufhört, nur weil ganz woanders jemand etwas mit alten Steinblöcken anstellt.

Es muss eine Antwort geben

Es scheint also, dass es eine eindeutige Antwort auf die Frage geben muss, welches der beiden Gebäude das Berner Münster ist: Es ist entweder das Münster in der Altstadt oder das Münster auf der Allmend, aber nicht beide. Stellt man sich die Situation hinreichend lebhaft vor, kann es sein, dass man selbst zu der einen oder der anderen Ansicht tendiert.

Die Aufgabe der Philosophie ist es nun, Argumente für die eine oder andere Sicht der Dinge zu formulieren. Und dann reden wir nicht mehr über das Berner Münster, sondern über etwas viel Allgemeineres: den Begriff der Identität von Objekten. Dieser ist genauso anwendbar, wenn es um Kirchengebäude geht, wie in Fällen, in denen wir von Tischen, Uhren oder – wie in dem ursprünglichen Beispiel aus der Philosophiegeschichte – von Schiffen reden.

Das Argument dafür, dass das Münster in der Altstadt das Berner Münster ist, ist in seinen Grundzügen bereits angesprochen worden: Dinge können sich verändern, ohne dass sie zu existieren aufhören.

Es wäre sehr seltsam, wenn wir jedes Mal, wenn wir einen Teil an einem Gegenstand ersetzen, dadurch einen nagelneuen Gegenstand erschaffen würden. Eine Person, die sich vornehmen würde, das Berner Münster während seiner hundertjährigen Renovierungsphase im Blick zu behalten, würde urteilen, dass es über die ganze Zeit in der Berner Altstadt gestanden hat. Nur haben daran eben Renovierungsarbeiten stattgefunden.

Gegner dieser Sicht der Dinge, Personen also, die die Ansicht stark machen wollen, dass das Gebäude auf der Grossen Allmend das Berner Münster ist, könnten auf ein anderes plausibles Prinzip verweisen: Gegenstände sind nichts anderes als die Summe ihrer Teile. Wenn irgendjemand vor der Renovierung beschlossen hätte, das Münster in seine tausend Teile zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen, würde am Ende immer noch dasselbe Gebäude in der Altstadt stehen. 

Und sowas Ähnliches ist ja auch in dem Szenario mit der findigen Chefin der Restaurierungsfirma passiert: Das Gebäude auf der Grossen Allmend besteht aus exakt denselben Teilen in derselben Anordnung wie das Gebäude, das vor dem Anfang der Renovierungsarbeiten in der Altstadt gestanden hat. Aus dieser Perspektive hat man in der Altstadt nach und nach eine Münsterkopie hergestellt.

Identische Objekte – identische Menschen?

Philosoph*innen streiten sich bis heute über die richtige Theorie der Identität. Dieser Streit geht so weit, dass manche von ihnen sogar ganz infrage stellen, ob wir den Identitätsbegriff angemessen verwenden, wenn wir im Alltag selbstverständliche Identitätsurteile wie «Das ist mein Auto» fällen. 

Gemäss dieser intuitiv nur schwer nachvollziehbaren Ansicht sind Gegenstände eher so etwas wie langgezogene Ereignisse, die aus zeitlichen Phasen bestehen. Die Frage, ob das Berner Münster immer noch dasselbe Berner Münster ist, wäre demzufolge nicht ganz richtig gestellt. Man müsste eher fragen, ob die verschiedenen Münsterphasen, die in den letzten Jahrhunderten vorgelegen haben, sich sinnvoll zu einem sehr lange andauernden «Münster-Ereignis» gruppieren lassen.

Eine scheinbar einfache Frage führt demnach sehr leicht in die Untiefen der Metaphysik, der Ontologie und der Sprachphilosophie, ohne dass abschliessende Antworten auf sie zu erwarten wären. 

Dass die Beschäftigung mit Identität eine spürbare Relevanz jenseits philosophischer Theorien hat, sieht man leicht, wenn man sich klar macht, dass man nicht nur bei unbelebten Gegenständen danach fragen kann, ob – beziehungsweise unter welchen Bedingungen – sie identisch sind. Wir alle verändern uns ständig. Noch mehr als das Berner Münster ist jede Person eine permanente Baustelle, könnte man auch sagen.

Und manchmal kann sich die Frage, ob man es noch mit derselben Person zu tun hat, mit einer ganz besonderen Schärfe stellen. Weil Personen viel komplexer als Gebäude sind, ist das aber schon wieder eine ganz andere Geschichte mit neuen philosophischen Herausforderungen ...

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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Diskussion

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Pascal Burri
05. Juli 2023 um 09:25

Das war jetzt aber ganz grosses Lichtspielhaus! Jede Zeile dieses Textes habe ich genüsslich gelesen und, ob das jetzt gut oder schlecht ist sei dahingestellt, ich werde das Münster in Bern fortan wohl mit anderen Augen betrachten. Auch könnte ich mir vorstellen, dass Mani Matter diesen Text gerne gelesen hätte. Vielen Dank, liebe Hauptstadt, für diesen prächtigen Text.

Armand Baeriswyl
05. Juli 2023 um 08:04

Das Gedankenexperiment ist anregend, es geht aber, was das Münster anbelangt, an der Realität vorbei. Das Münster besteht nicht aus „Blöcken“, sondern aus einem sog. Zweischalenmauerwerk d.h. aussen Schalen aus Sandsteinquadern, innen aus einem Kern mit Sandsteinbrocken, Kies, Steinen und viel Kalkmörtel. Das Genze hat eine beträchtliche Dicke. Dazu kommt noch ein mehrere Meter tiefes Fundament. Die Münsterbauhütte tauschte früher immer nur Schalensteine aus, und zwar auch nur an exponierten Stellen. Inzwischen macht sie ja nicht mal mehr das, sondern kittet bzw. mörtelt auf. Auf die gesamte Mauermasse des Münsters hochgerechnet dürften die ausgetauschten Sandsteinquader und Werkstücke höchstens wenige Prozent ausmachen. Das Münster hat also vielerorts eine jüngere „Haut“, aber der Körper ist nach wie vor weitgehend original (d.h. tw. aus den mittelalterlichen Bauphasen, tw. aus denjenigen des späten 16. Jhs. und der oberste Teil des Turms aus dem späten 19. Jh.).