Nicht für lange Fluchten geschaffen
Einst war das Reh fast ausgestorben. Mittlerweile haben sich die Bestände erholt. Und weil es weniger natürliche Feinde hat, ist es öfter mal auch in der Stadt anzutreffen.
Derzeit begegnet man dem Reh (Capreolus capreolus) in der Stadt Bern vor allem auf dem Teller. Es ist Wildzeit. Durchschnittlich 40‘000 Rehe werden jedes Jahr in der Schweiz erlegt. Das stillt unseren Hunger jedoch bei weitem nicht. Gut zwei Drittel des Wildfleisches auf Schweizer Tellern stammt daher aus dem Ausland. Eine einheimische Jagd dieses Ausmasses wäre gar nicht möglich, die Schweizer Rehpopulation wird derzeit auf etwa 140‘000 Tiere geschätzt.
Selbstverständlich ist diese Bestandesgrösse nicht. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schien es mit dem Reh hierzulande ebenfalls zu Ende zu gehen. Denn auch früher ass man gern Reh, und das nicht zu knapp. Bis zur Gründung der Helvetischen Republik im Jahr 1798 war die Jagd ein herrschaftliches Privileg. Doch damit war mit der Republik Schluss. Im Jahr 1800 wurde die Jagd freigegeben, jeder durfte sein Gewehr schultern. Es wird für den einen oder anderen Jäger eine ergiebige Zeit gewesen sein, denn rechtlich herrschte Wildwuchs.
Jagdgesetz als Rettung
Ein nationales, einheitliches Jagdgesetz scheiterte im Parlament, und die kantonalen Jagdgesetze reichten nicht aus, um die Bestände zu schützen. Die Folgen waren desolat. Der Rothirsch und der Steinbock wurden bis auf das letzte Tier geschossen; die Gämse und das Reh überlebten nur in sehr kleinen Beständen. Die Bevölkerung war entsetzt. 1875 wurde schliesslich das erste Bundesgesetz über die Jagd erlassen. Es ging dabei vor allem um den Erhalt und das Management der Arten, die man zum Verzehr jagen konnte.
Die wildlebenden Jagdkonkurrenten wie der Wolf wurden dabei grosszügig ausgeklammert. Für das Reh hingegen war das Jagdgesetz ein Segen. Endlich war der Abschuss von Mutter- und Jungtieren verboten, die Jagd wurde verkürzt und obendrein wurden Schutzgebiete eingerichtet. Dem Reh half zudem, dass im Jahr darauf, 1876, die Wälder durch das Forstpolizeigesetz geschützt wurden. Die Helvetische Republik und die anschliessende Privatisierungswelle hatten nämlich auch da ihre Spuren hinterlassen. Wo der Wald privatisiert worden war, folgte umgehend die Säge. Das Forstgesetz setzte einen nachhaltigen Umgang mit dem Wald fest. Damit wurde nicht nur das Reh, sondern auch sein Lebensraum geschützt.
Hinterbeine sind länger
Wobei: So einfach lässt sich kein Reh in eine Schublade stecken. Zwar gilt das Reh als Waldtier, doch es ist in seiner Lebensraumwahl flexibel. Je vielfältiger der Lebensraum, je mehr Wechsel zwischen Wald, Offenland und Hecken, desto besser gefällt es dem Reh. Gelegentlich sieht man auch Rehe, die sich tagsüber im offenen Feld aufhalten. Diese Form der Lebensraumnutzung, so wird vermutet, klappt nur da, wo die grossen ausdauernden Beutegreifer wie der Wolf und der Luchs fehlen. Das Reh ist nämlich nicht für lange Fluchten geschaffen, sondern sucht bei Gefahr möglichst rasch Deckung in dichter Vegetation. Und das kann es aufgrund seines Körperbaus sehr gut. Beim Reh sind die Hinterbeine länger als die Vorderbeine. Mit dieser vegetationsdynamischen Körperform kann sich das Reh effizient und rasch durch dichtes Unterholz bewegen.
In der Stadt hilft diese Statur nur bedingt. Doch wagt sich immer wieder das eine oder andere Reh in den urbanen Raum. Meist eher unbemerkt und mit weniger medialem Echo als beim Rehbock im Mai dieses Jahres. Er hatte sich bei seinem Ausflug in die grosse Stadt auf dem Spitz, dem Fussballfeld des FC Breitenrain, wiedergefunden. Er landete jedoch nicht auf einem Teller, sondern wurde eingefangen und zurück in den Wald spediert. So geht das.
Die Bernerin Irene Weinberger ist als Biologin spezialisiert auf einheimische Wildtiere und das Konfliktmanagement zwischen Natur und Mensch.