Notenfreie Schule
Der Berner Schulkreis Mattenhof will auf eine notenfreie Beurteilung umstellen. Das Team um Schulleiterin Barbara Muntwyler setzt statt der Ziffern auf mehr inhaltliches Feedback und eine Visualisierung des Gelernten.
Sie brechen mit einer Tradition, die gut zweihundert Jahre alt ist. Die Volksschule im Berner Quartier Mattenhof-Weissenbühl will künftig auf Ziffernnoten verzichten. In einem Elternschreiben kündigen die Schulleitungen zu Beginn des Schuljahres an, dass der Schulkreis bis 2027 schrittweise auf eine notenfreie Beurteilung umstellen wolle. Im Zeugnis am Ende des Schuljahres werde es wegen der kantonalen Richtlinien ab der vierten Klasse nach wie vor Noten geben.
Eingeführt wurden Schulnoten Ende des 18. Jahrhunderts, um die Chancengerechtigkeit in der Bildung zu fördern, unabhängig vom sozialen Status. Mittlerweile ist die Gesellschaft an einem ganz anderen Punkt. «In der Fachwelt ist die Ziffernnote seit über 100 Jahren umstritten», sagt Barbara Muntwyler. Schon 1971 habe eine breite wissenschaftliche Studie gezeigt, dass Ziffernnoten nicht zielführend seien.
Muntwyler ist Co-Schulleiterin der Mosaikschule Munzinger, dem Oberstufenschulhaus im Fischermätteli. Und sie koordiniert das Projekt «notenfreie Beurteilung» im Schulkreis. Im Gespräch mit der «Hauptstadt» erläutert sie die Motivation und die Beweggründe für das Projekt, das von den elf Schulleitungen des Quartiers in Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen gemeinsam beschlossen und initiiert wurde.
«Eigentlich wollen wir ja mit Leistungstests die Kinder zum Lernen und Verbessern motivieren», so Muntwyler. Aber man habe schon 1971 in der Studie festgestellt: Die Rückmeldung kommt wegen der Noten nicht an.
Die Schulleiterin macht ein Beispiel:
«Nach einer Deutschpräsentation gebe ich dem Kind zuerst eine präzise Rückmeldung: Du hast deutlich gesprochen, die Botschaft war inhaltlich klar, aber du warst zu lange und man konnte die Folien nicht gut lesen. Ich gebe dir dafür eine 5. Beim Kind kommt nur an: Ich habe eine 5 und das ist gut. Der Rest geht vergessen. Das ist aber nicht das, was wir wollen.»
Man wolle, dass das Kind erkennt: Ich war ein wenig zu lang und beim nächsten Mal sollten die Folien besser sein. «Aber diese Information wird von der Zahl überstrahlt und darum weggefiltert», so Muntwyler. Und diese Erkenntnis habe man schon seit den 70er Jahren.
Ziffernnoten führen zu Ablasshandel
Die zweite Erkenntnis der damaligen Studie sei: Mit Ziffernnoten beginne ein Ablasshandel. Die Jugendlichen berechnen, wo sie stehen und lassen oft nach mit dem Lernen, wenn sie merken, dass der Notenschnitt für den nächsten Schulschritt reiche. «Oder sie sagen sich: Da ich in Mathe sehr gut bin, kann ich das Französischlernen ja sein lassen, der Durchschnitt reicht alleweil.» Die Schule wolle aber in allen Fächern Lernziele erreichen.
«Man weiss also schon lange, dass Ziffernnoten dem Lernen abträglich sind», so Muntwyler. Aber eine bessere, fairere Alternative hat sich bisher gesellschaftlich noch nicht durchgesetzt.
Nun ist aber in vielen Schulen Bewegung in die Sache gekommen. Vor zwei Jahren startete die Schule Hochfeld in der Länggasse ein entsprechendes Projekt. Auch in der Schule Ostermundigen werde an einer notenfreien Beurteilung gearbeitet, sagt Muntwyler. Mit diesen Schulen sind Muntwyler und die Kolleg*innen im Austausch. Auch von der Privatschule «Institut Beatenberg» könne man viel lernen und in didaktischer Hinsicht werde das Projekt auch von Fachpersonen der PH Bern begleitet.
Eigentlich hatten die Schulleitungen im Mattenhof-Weissenbühl laut Muntwyler auf einen Schulversuch ohne Endjahresnote gehofft, wie ihn der Stadtrat 2022 gefordert hatte. Doch der Kanton habe einen solchen leider nicht bewilligt. «Uns wurde dann bewusst, dass wir zeigen wollen, dass es ohne Noten geht. Wir wollen den Spielraum nutzen und eine sinnvollere Lösung erarbeiten», erklärt Muntwyler. Der Lehrplan 21 gebe eigentlich auch diese Richtung vor, denn er setze auf Kompetenzen. «Wenn man den Lehrplan ernst nimmt, sollte man auf Ziffern verzichten», so Muntwyler.
Wie die neuen Beurteilungsinstrumente ab 2027 ausgestaltet sein werden, steht noch nicht fest. «Der Schulkreis nimmt sich bewusst Zeit, verschiedene erprobte Ansätze sorgfältig zu prüfen und in der Praxis zu erproben, bevor eine endgültige Entscheidung getroffen wird», so Muntwyler. «Klar ist: Eine Lernzielkontrolle soll den Lernprozess fördern und nicht abbrechen.» Und klar sei auch, dass man das Berechnen von Durchschnitten und den Ablasshandel verhindern wolle. Stattdessen soll das Lernen besser sichtbar werden. «Wir wollen visualisieren, wo ein Kind in seinen Kompetenzen steht, vor allem in Hinblick auf einen Berufswunsch.»
Optionen, die nun getestet werden, sind laut Muntwyler:
- Lehrpersonen lassen bei den Lernzielkontrollen einfach die Note weg. Man sieht, welche Aufgaben man gut gemacht hat, welche nicht. Aber es gibt keine Note.
- Man vergibt Prädikate statt Noten (nicht erreicht, erreicht, super). Das Problem sei: Je mehr Prädikate, desto näher sei man wieder bei Noten.
- Lehrpersonen bauen bei Prüfungen das Feedback aus, mit Sprachnachrichten oder schriftlich. Auch Anschlusshandlungen an die Leistungskontrolle seien sehr wichtig: Wie und wann arbeite ich den Stoff auf, den ich noch nicht begriffen habe? «Wir kennen das alle aus unserer Schulzeit», so Muntwyler, «man erhielt eine 3,5 und die Erwartung der Lehrperson war, dass man die Sache nochmal anschauen solle. Aber man erhielt weder Zeit noch Unterstützung, den Stoff aufzuholen.» Darum sei das nie gemacht worden.
- Lehrpersonen erstellen gemeinsam mit den Schüler*innen ein Portfolio, das die Leistungen der Schüler*innen dokumentiert.
- Wichtig sei das Entkoppeln von Feedback und Ziffer. In einer Übergangsphase sei folgender Prozess denkbar: Schüler*innen erhalten eine Prüfung mit Feedback zurück und machen eine Anschlusshandlung, um den nicht begriffenen Stoff nachzuholen. Und erst wenn diese gemacht ist, erhält man eine Note. So werde das Feedback nicht von der Ziffer überstrahlt.
Die Stossrichtung ist klar: Weniger Ziffern, mehr Feedback, aber noch immer Leistungstests. Keine Noten heisse nicht weniger Leistung, so Muntwyler.
Erlerntes soll visualisiert werden
Ein wichtiger Schritt ist laut Muntwyler zudem die Visualisierung des Erlernten. Das könne motivieren. «In meiner Schulzeit dachte ich immer, mein Französisch ist nicht gut, denn ich hatte immer nur eine 4,5.» Dennoch könne sie heute recht gut Französisch, denn sie habe in der Schule schliesslich sieben Jahre lang Französisch gelernt. «Aber wegen der mittelmässigen Note war mein Selbstbild lange nicht gut.» Nun wolle man die Zunahme des Erlernten mit Kompetenzrastern visualisieren. «Ich sehe dann, dass ich immer mehr Kompetenzen in Französisch habe, obwohl ich meine Fehler mache. Das ist motivierend.»
Für diese Visualisierung will der Schulkreis einige Online-Tools testen, welche erlernte Kompetenzen abbilden, zum Beispiel in einer Spider-Grafik. Und allein schon die Schul-App KLAPP habe die Kommunikation mit den Eltern sehr vereinfacht. Und diese Kommunikation sei wichtig, denn auch ohne Ziffernnoten sollen Eltern transparent über den Fortschritt ihrer Kinder informiert sein. Zentral sind hierbei laut Muntwyler die Standortgespräche.
Note ist schon heute ein Experten-Urteil
Doch wie wird künftig die Endjahresnote bestimmt? «Die Note ist schon heute ein Experten-Urteil auf Basis von Daten und Rückmeldungen», sagt Muntwyler. Das sei auch künftig nicht anders. Wichtig sei aber auch die Selbsteinschätzung der Jugendlichen. «Erfahrungen aus Notengesprächen mit Jugendlichen zeigen: Die Einschätzungen sind nahe beieinander, häufig innerhalb eines halben Notenpunktes», so Muntwyler.
Und wenn sich Schüler*innen und Eltern Gedanken über den Übertritt ins Gymnasium machen, brauche es schon heute und auch künftig Standortgespräche und das Expertenurteil. Es gebe zwar klare Fälle: Mit durchgehend 5,5er- und 6er-Noten komme es gut. Mit Noten von 4 bis 4,5 reiche es nicht. «Aber dazwischen gibt es auch heute einen Bereich, wo die Lehrpersonen eine prognostische Einschätzung machen müssen.» Wie hat sich die Leistung entwickelt? Arbeitet das Kind jetzt schon am Anschlag? Hat es das Potenzial, im Gymnasium zu bestehen?
Von der notenfreien Beurteilung erhofft sich Schulleiterin Barbara Muntwyler auch Linderung beim sogenannten Absentismus. «Seit der Pandemie haben wir deutlich mehr Kinder, die sehr viele Absenzen verzeichnen, weil sie psychosomatische Beschwerden haben.» Früher habe das alle fünf Jahre ein Kind betroffen, nun habe man im Schulhaus mehrere Kinder, die ein bis zwei Tage pro Woche fehlen würden. Dieser Trend zeige sich leider auch an vielen anderen Schulen, sagt Muntwyler und verweist zudem auf eine Studie von Pro Juventute. Gründe für den Absentismus seien oft psychische Belastungen, Stress und sozialer Druck, in der Familie oder durch die sozialen Medien. «Und Schulnoten lösen auch oft Druck aus», sagt Muntwyler. Im Schulhaus Munzinger versuche man nun früh festzustellen, ob ein Problem bestehe. «Wir halten die Absenzen besser im Blick und sprechen schneller mit Eltern, wenn sich diese häufen», sagt Muntwyler.
Die Schüler*innen und deren Eltern will man im Schulkreis mit Feedback, Visualisierungen und Gesprächen mitnehmen im Prozess zur notenfreien Beurteilung. Muntwyler zitiert den Bildungsforscher Winfried Kronig: «Das einzig gute an der Note ist: Sie ist massentauglich.» Viele Eltern hätten dank vieler Zahlen das Gefühl, sie begriffen, was gesagt werde.
Mehr Leistung ohne Ziffern
Bleibt eine Frage: Wie gehen die Schüler*innen mit der Abschaffung von Noten um? «Dazu gibt es faszinierende Studien», sagt Muntwyler. Viele Jugendliche hätten zu Beginn zwar Mühe, wenn man ihnen die Noten wegnehme, vor allem die leistungsstarken. «Denn die 6 ist immer ihre Auszeichnung, ein Goldsternchen.» Kinder im mittleren Leistungsspektrum hingegen fänden die notenfreie Situation von Beginn weg cool. «Die unerreichbare 6 ist weg, sondern jetzt schaut man mehr auf die individuelle Leistungssteigerung.»
Und die entscheidende Erkenntnis ist laut Muntwyler: «Wo die Ziffern weg sind, bringen alle bessere Leistungen.» Das habe eine Studie zur Lesekompetenz deutlich gezeigt. «Wir nehmen die angebliche Belohnung via Note weg, und dafür beginnt eine Schlaufe des intrinsischen Lernens.» Das ist auch bei den Leistungsstarken der Fall. «Aus unserer Sicht spricht also alles für eine notenfreie Beurteilung», findet Muntwyler.
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