Die Asyl-Nothilfe gefährdet Kinder

Eine neue schweizweite Studie stellt grosse Mängel bei den Lebensbedingungen von Kindern in der Nothilfe fest. Auch die Kantone stehen in der Verantwortung.

Enggistein Rückkehrzentrum Reportage 24.06.2022
Im Kanton Bern leben 128 Kinder in der Nothilfe. Das Bild zeigt ein Kind im Rückkehrzentrum Enggistein im Sommer 2022. (Bild: Talal Doukmak)

128 Kinder leben im Kanton Bern in der Nothilfe. Die Umstände, unter denen sie leben müssen, verletzen systematisch ihre Rechte. Zu diesem Schluss kommt eine neue Untersuchung der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM). 

Die Studie hat erstmals schweizweit Daten zu den Lebensbedingungen von insgesamt rund 700 Minderjährigen in der Nothilfe erhoben und rechtlich eingeordnet. Die Forschenden führten Interviews mit Nothilfebeziehenden in der ganzen Schweiz, erhoben Daten von Unterkünften, befragten Fachpersonen und schickten allen kantonalen Migrationsbehörden einen Fragebogen zu.

Das Resultat: Die betroffenen Kinder und Jugendlichen seien in ihrer Gesundheit, Entwicklung und ihrem Wohl gefährdet. Ihre Lebensbedingungen seien weder mit der Bundesverfassung noch mit der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar. Besonders besorgniserregend sei der schlechte psychische Zustand der Kinder.

Abschreckende Migrationspolitik trifft Kinder besonders hart

In der Nothilfe zu leben heisst: Betroffene haben keine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz, leben aber trotzdem hier. Oft über Jahre. Zum Beispiel, weil ihr Asylgesuch abgewiesen wurde, sie aber (noch) nicht ausgeschafft werden können. 

Sie sind von der Sozialhilfe ausgeschlossen und erhalten nur die grundrechtlich garantierte Nothilfe von rund zehn Franken pro Tag. Untergebracht sind sie meist in Rückkehrzentren. Im Kanton Bern gibt es seit 2022 zwei Rückkehrzentren speziell für Familien: in den abgelegenen Orten Bellelay und Enggistein bei Worb. Es gibt auch Kantone, in denen Familien mit Kindern in Wohnungen statt in Kollektivunterkünften untergebracht werden. In Bern wird das nicht gemacht.

Betroffene leben zudem in der ständigen Unsicherheit, doch plötzlich ausgeschafft zu werden – wie letztes Jahr etwa im Fall von zwei Familien aus dem Kanton Bern mit insgesamt vier Kindern, die alle in der Schweiz geboren wurden.

Die strengen Regeln sollen Personen ohne Aufenthaltsrecht zur Ausreise bewegen. So die migrationspolitische Absicht dahinter. Doch Kinder sind an ihrem fehlenden Aufenthaltsstatus völlig unschuldig. Manchmal kommen sie schon ohne Aufenthaltsrecht auf die Welt. Gleichzeitig treffen die restriktiven Bedingungen sie besonders hart. 

Sie leben oft mit der ganzen Familie in einem einzigen Zimmer ohne Rückzugsmöglichkeiten, wie die Studie aufzeigt. Sie sind in den Unterkünften auch traumatisierenden Erlebnissen ausgesetzt wie Gewalt, Suizide oder gewaltsame Ausschaffungen.

Kinder in der Nothilfe besuchen den Kindergarten und die obligatorische Schule. Bei weiterführenden Ausbildungen wird es aber schwierig. Denn Nothilfebeziehende dürfen in der Schweiz nicht arbeiten. Die Studie der EKM zeigt: Nur die Hälfte der untersuchten Kantone garantiert einen Zugang zu weiterführender Bildung wie einer Berufslehre oder dem Gymnasium. 

Kantone sollen Handlungsspielraum nutzen

Die EKM fordert dringend Massnahmen auf allen politischen Ebenen. Die Forderung richtet sich explizit auch an die Kantone. Denn sie sind für die konkrete Ausgestaltung der Nothilfe zuständig und haben Spielräume innerhalb der bundesgesetzlichen Vorschriften. 

Konkret sollen Kinder nicht mehr als ein Jahr in der Nothilfe verbleiben, und wenn doch, dann sollen ihre Lebensumstände gezielt verbessert werden. Auch der Zugang zu Freizeitbeschäftigungen, Bildung und medizinischer Versorgung soll erleichtert werden. 

Ausserdem brauche es einen «juristischen Paradigmenwechsel»: Die Behörden müssen das Wohl und die Interessen des Kindes bei allen Entscheidungen im Migrationsbereich ins Zentrum stellen. Denn Kinderrechte gelten unabhängig vom Aufenthaltsstatus.

Kanton Bern will Anpassungen evaluieren

Den Forderungen haben sich diverse Organisationen angeschlossen, so auch die Berner Anlaufstelle für Migrant*innen Solidaritätsnetz Bern und die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn.

SP-Grossrätin Karin Berger-Sturm prüft aktuell, ob sie im Berner Kantonsparlament als Folge der Studie Vorstösse einreichen wird. «Die Studie zeigt auf: Generell muss sich die Grundhaltung in der Migrationspolitik ändern», sagt sie. Kinderrechte müssten stärker gewichtet werden als das Interesse an einer restriktiven Asylpolitik.

Im Kanton Bern sieht sie konkreten Handlungsbedarf: Familien mit Kindern sollten in Wohnungen statt in Rückkehrzentren untergebracht werden, ausserdem müssten die Ausbildungsmöglichkeiten verbessert werden. Auch seine Praxis bei Härtefallgesuchen von Minderjährigen müsse der Kanton Bern verbessern. «Es darf nicht sein, dass wir als Gesellschaft die Rechte von Kindern und Jugendlichen missachten», sagt sie.

Ob der Kanton Bern aufgrund der Untersuchung Massnahmen ergreifen wird, ist noch nicht klar. Der Migrationsdienst habe den Bericht und die Forderungen zur Kenntnis genommen, teilt er auf Anfrage der «Hauptstadt» mit. Aktuell sei er dabei, den Bericht zu evaluieren, um mögliche Anpassungen zu überprüfen. Er betont, mit Bellelay und Enggistein bereits Unterkünfte ausschliesslich für Familien und Frauen eingerichtet zu haben, um deren Bedürfnissen besser Rechnung zu tragen. 

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