Seit 500 Tagen im Bunker

In Bern-Brünnen sind abgewiesene Asylsuchende unterirdisch untergebracht – viel länger, als der Kanton ursprünglich kommunizierte. Zu schaffen macht ihnen vor allem fehlende Privatsphäre.

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Die temporäre Unterkunft in Bern-Brünnen ist seit Anfang 2023 in Betrieb. Für Journalist*innen ist das Zentrum nicht zugänglich. Die Bilder stammen von einem Medienrundgang aus dem Jahr 2016, als die Zivilschutzanlage erstmals als Asylunterkunft genutzt wurde. (Bild: Danielle Liniger)

Anfang Juni sitzen auf Parkbänken in der Nähe des Shoppingcenters Westside fünf Männer. Es ist ein regenfreier Vormittag. Die Männer haben sich bereit erklärt, von ihrem Alltag zu erzählen. Ihre Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen, auch nicht ihre Herkunftsländer. 

Sie sind zwischen 18 und 33 Jahre alt und haben in der Schweiz um Asyl ersucht. Allen wurde es verwehrt. Zum Beispiel, weil sie zuvor in Italien registriert wurden und gemäss Dublin-Abkommen dort statt in der Schweiz ein Asylverfahren durchlaufen müssten. Allerdings nimmt Italien seit längerer Zeit keine Personen aufgrund des Dublin-Abkommens mehr zurück. Also liefert die Schweiz die Männer vorläufig nicht aus. Hier sein dürfen sie rechtlich gesehen trotzdem nicht. 

Wegen ihres Status als Weggewiesene wurden die Männer in einem Rückkehrzentrum untergebracht. Sie dürfen nicht arbeiten und erhalten lediglich Nothilfe. Das Zentrum, in dem die fünf zusammen mit über 50 weiteren Männern leben, steht etwa zehn Minuten vom Shoppingcenter Westside entfernt. Versteckt ist es gelegen, auf dem Areal eines Coop-Verteilzentrums zwischen Bahnlinie und Autobahn. Es ist eine unterirdische Zivilschutzanlage.

«Für uns allein sein können wir dort nur, wenn wir im Bett liegen und aufs Handy schauen», sagt einer der Männer. 

Zwei von ihnen sprechen Englisch, bei den anderen übersetzt ein Bekannter auf Deutsch. Es gebe keine Privatsphäre in der Unterkunft, sagen sie. Die Schlafsäle seien unterschiedlich gross, im grössten schliefen 21 Personen. «Es ist nie still. Es ist immer ein Kommen und Gehen, auch in der Nacht.» 

Einer zeigt ein Video: Ein fensterloser Raum mit dreistöckigen Etagenbetten. Die Bettgestelle sind behelfsmässig mit Laken und Tüchern verhängt. «Um ein bisschen alleine zu sein.»

Eineinhalb Jahre statt einige Wochen

Das Rückkehrzentrum in Bern-Brünnen wurde im Januar 2023 als temporäre Unterkunft mit 100 Plätzen eröffnet, ausschliesslich für alleinstehende Männer. Der Kanton Bern befristete den Betrieb vorläufig auf ein Jahr. 

Die «Hauptstadt» hat schon mehrfach über die prekäre Situation in der unterirdischen Zivilschutzanlage berichtet. Das Berner Stadtparlament stellt sich seit längerem gegen unterirdische Unterbringungen. Auch die städtische Sozialdirektorin Franziska Teuscher hat sich dagegen ausgesprochen. Geändert hat sich bisher aber nichts. Im Gegenteil: Das Rückkehrzentrum ist weiterhin in Betrieb. Und die Aufenthaltsdauer ist viel länger, als vom Kanton kommuniziert.

Ende Mai 2024 teilte die kantonale Sicherheitsdirektion auf Anfrage der «Hauptstadt» mit, aufgrund der weiterhin angespannten Asylsituation bleibe der Kanton auf die Plätze in Brünnen angewiesen. 

«Der Kanton ist stetig dabei, alternative oberirdische Unterkünfte zu suchen», schreibt die Sicherheitsdirektion. Hierfür fänden regelmässig Austausche mit Gemeinden und Städten statt. «Bisher konnte jedoch keine geeignete oberirdische Alternative gefunden werden.» Das Zentrum bleibe voraussichtlich so lange in Betrieb, bis sich die Asylsituation entweder entspannt habe oder eine oberirdische Alternative gefunden werden konnte. 

Bei der Eröffnung des Zentrums vor eineinhalb Jahren teilte der Kanton mit, die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Bewohner werde «einige Wochen» betragen. 

Nun gibt die Sicherheitsdirektion auf Anfrage der «Hauptstadt» bekannt: Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer betrage 113 Tage. Das sind rund 16 Wochen. Und die längste Aufenthaltsdauer betrage 500 Tage. Das sind fast eineinhalb Jahre – so lange, wie es die temporäre Unterkunft schon gibt.

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Einmal pro Tag müssen die Bewohner mit Unterschrift ihre Anwesenheit im Zentrum bestätigen. (Bild: Danielle Liniger)

«Hierzu erlauben wir uns den Hinweis, dass Personen mit einem rechtskräftigen Wegweisungsentscheid die Schweiz verlassen müssen. Viele der hier noch Anwesenden weigern sich, die Schweiz zu verlassen, obwohl sie im Heimatland nicht verfolgt sind», schreibt die Sicherheitsdirektion.

Ende Mai waren 57 Männer in Brünnen untergebracht. Es handle sich dabei ausschliesslich um alleinreisende Männer mit rechtskräftigem Wegweisungsentscheid, schreibt die Sicherheitsdirektion. Sie seien im Schnitt 29 Jahre alt und kämen hauptsächlich aus Südsudan, Sri Lanka, Afghanistan und Eritrea.

Verständigungsprobleme und nichts zu tun

Die fünf Männer leben seit zwei bis vier Monaten in Brünnen. «Wenn ich in den Bunker reingehe, fühle ich mich wie in einem Gefängnis», sagt einer. Sie könnten sich nur schwer verständigen mit dem Personal. Es gebe oft Sprachprobleme. «Und niemanden interessiert es, wenn du etwas brauchst.» Im Bundesasylzentrum Bern, wo er vorher war, habe er sich einfacher an Ansprechpersonen wenden können.

Für die Betreuung im Zentrum ist die Firma ORS zuständig. Die kantonale Sicherheitsdirektion schreibt hierzu, das Personal sei mehrsprachig, rund um die Uhr anwesend und setze sich für einen reibungslosen Betrieb ein. Für behördliche oder medizinische Anliegen könne auch ein*e Übersetzer*in hinzugezogen werden. Im Dialog mit den Bewohnern werde nach einvernehmlichen Lösungen gesucht. 

«Nach Rücksprache mit ORS besteht das Unverständnis weniger sprachlich, sondern inhaltlich. Meistens handelt es sich um den Wunsch, Ausnahmen bei der Präsenzpflicht zu bekommen. Diesen kann das Personal aufgrund der kantonalen Vorgaben nicht nachkommen», so die Sicherheitsdirektion.

Oft verbringen die Bewohner den ganzen Tag in der Unterkunft, vor allem bei schlechtem Wetter. Jeden Morgen müssen sie ihre Anwesenheit per Unterschrift bestätigen. Ansonsten sind sie frei, die Unterkunft zu verlassen – nur haben sie kaum Geld, dürfen nicht arbeiten und es gibt auch keine Beschäftigungsprogramme. «Es gibt nichts zu tun für uns. Tickets für den Bus können wir uns nicht leisten. Wenn wir schwarzfahren, werden wir gebüsst.» 

Im Sommer 2023 stellte die Stadt Bern den Bewohnern des Zentrums einen oberirdischen Aufenthaltsraum im Quartierzentrum Tscharnergut zur Verfügung. Er ist zweieinhalb Kilometer vom Zentrum entfernt. Angesprochen auf den Raum, sagen vier von den fünf Bewohnern, sie hätten noch nie davon gehört. Nur einer geht manchmal hin. «Etwa alle zwei Wochen.» Er habe von einem früheren Bewohner von diesem Ort erfahren. 

Die Sicherheitsdirektion teilt mit, auf den Raum werde durch einen Plakataushang aufmerksam gemacht. Am Anfang habe man aktiv Werbung dafür gemacht, allerdings sei das Angebot auf wenig Interesse bei den Bewohnern gestossen.

Kämpfe und Drogen

Über fenster- und trostlose Räume wollen sich die fünf Männer nicht beklagen. Es gebe auch genügend warmes Wasser. «Diese Dinge belasten uns nicht so stark», sagt ein Mann. Belastend sei aber, dass es oft zu Konflikten komme mit Bewohnern, die Drogenprobleme hätten. Und das auf höchst engem Raum.

«Es gibt oft Kämpfe, die Drogensucht macht die Leute aggressiv», sagt ein 18-Jähriger. Und wegen der engen Platzverhältnisse gebe es keine Möglichkeit, diesen Konflikten auszuweichen. «Ich bin ständig auf der Hut, ob ich mich verteidigen muss», sagt er. «Es gibt keine Ruhe an diesem Ort.»

Er schlägt vor, dass Personen mit Drogenproblemen getrennt untergebracht werden sollten. Die anderen Männer pflichten ihm bei. «Wir können keinen Abstand halten von den Problemen der anderen. Es ist deprimierend», sagt ein anderer. «Der einzige Weg, andere zu meiden ist, den ganzen Tag zu schlafen.»

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«Für uns allein sein können wir dort nur, wenn wir im Bett liegen und aufs Handy schauen», sagt einer der Bewohner.  (Bild: Danielle Liniger)

Die Sicherheitsdirektion hält dazu fest, die Hausordnung verbiete den Konsum von Alkohol und Drogen. Das Personal achte auf deren Einhaltung. Zudem seien alle Mitarbeitenden in Gewaltprävention geschult, schritten bei Konflikten unmittelbar ein und böten, wenn nötig, die Polizei auf. 

«Sowohl dem Kanton Bern als auch der Betreiberin des Zentrums ist bewusst, dass ein Zusammenleben mit verschiedenen Persönlichkeiten und Geschichten auch immer ein gewisses Konfliktpotenzial mit sich bringen kann», schreibt der Kanton. 

Es werde bei der Raumzuteilung darauf geachtet, Auseinandersetzungen unter den Bewohnern möglichst zu vermeiden. Das Zentrum werde zudem bewusst nicht voll belegt. Abgesehen von medizinischen Notfällen sei eine separate Unterbringung von Drogensüchtigen jedoch nicht beabsichtigt. Als letztes Mittel könnten schwierige Bewohner temporär der Unterkunft verwiesen werden, allerdings gebe es wenig Alternativen in anderen Rückkehrzentren.

«Hier können wir unsere Gedanken nicht verarbeiten»

Manche Bewohner hätten «mental breakdowns», sagt der 18-Jährige. Alle seien psychisch belastet. «Wir müssen mit unseren Gedanken zurechtkommen», sagt er. Die Lebensumstände in der Unterkunft erschwerten das. 

«Vielleicht gäbe es Musiker unter uns, oder Sportler», sagt er. «Aber hier können wir unsere Gedanken nicht verarbeiten. Ich habe gerade das Meer überquert. Ich wünsche mir etwas, das ich tun könnte, um über alles hinwegzukommen, was ich erlebt habe.»

Keiner der Männer weiss, wie lange er noch in Brünnen leben wird. Die Gründe, weshalb die Bewohner eines Rückkehrzentrums die Schweiz (noch) nicht verlassen können oder wollen, sind divers. Manche erwartet eine Dublin-Überstellung, die – wie im Fall von Italien – nicht ausgeführt werden kann. Andere erhielten in der Schweiz einen negativen Asylentscheid, können aber nicht ausgeschafft werden. 

Die fünf Männer möchten nicht über ihre individuellen Situationen sprechen. Alle hoffen darauf, dass sie bald in einer anderen Unterkunft sind. «Aber an dieser Unterkunft ändert sich nichts. Die Nächsten haben dieselben Probleme», sagt ein Bewohner. Andere nicken. Die Männer verabschieden sich freundlich, schütteln Hände, richten Hoodies. Dann schlendern sie wieder in Richtung Riedbachstrasse, an der die Zivilschutzanlage liegt. Eilig hat es niemand. 

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