Solidarität ohne Ablaufdatum
Der Freiwilligenverein Offenes Scherli in Niederscherli ist von der spontanen Hilfsgruppe zur hartnäckigen Instanz in der Flüchtlingsdebatte geworden. Was braucht es, damit ausdauernde Solidarität entsteht?
Rolf Bornhauser, Jürg Schneider und Andreas Guler sinken ins Sofa, über ihnen das eindrückliche Bild einer iranischen Malerin, das Bornhauser an der Wohnzimmerwand seines Hauses in Niederscherli aufgehängt hat. Man sieht auf dem Bild Menschen, die sich über eine spiegelglatte Fläche bewegen. Man weiss nicht recht, ist es die flirrende Hitze des Südens oder die Kälte der ungerechten Welt.
Den drei Männern darunter fällt es erst gar nicht ein, sich im Sofa zurückzulehnen. Kaum sitzen sie, geht eine engagierte Diskussion los. Das Thema? Geflüchtete Menschen.
«Jetzt hat es sogar der Ständerat kapiert», sagt Jürg Schneider, «das ist ja wahnsinnig.» Was er damit meint: Die kleine Kammer des eidgenössischen Parlaments hat Mitte Dezember überraschend eine Motion angenommen, die verlangt, dass ausländische Lernende mit negativem Asylentscheid ihre in der Schweiz begonnene Berufslehre nun doch abschliessen können.
Zu Aktivisten geworden
Bundesrat und vorberatende Kommission waren dagegen, trotzdem macht der Ständerat nun den Weg frei für die Lösung eines Problems, das viele Lehrmeister*innen sowie die nach Fachkräften rufende Wirtschaft enerviert hatte. Auch Jürg Schneider und seine Mitstreiter*innen hatten sich dafür eingesetzt, «diese Ungerechtigkeit» aus der Welt zu schaffen.
Jetzt ist es passiert – und die Momentaufnahme auf dem Wohnzimmersofa fasst zusammen, was mit Bornhauser, Schneider und Guler in den letzten sieben Jahren passiert ist: Sie sind Menschenrechts-Aktivisten geworden. In Niederscherli, Gemeinde Köniz.
Begonnen hatte alles 2015, als der Kanton die unterirdische Zivilschutzanlage unter dem Schulhaus von Niederscherli als Notunterkunft für Asylsuchende öffnete, betrieben von der Heilsarmee. Über 100 meist junge Männer, viele von ihnen aus Afghanistan und Eritrea, wurden einquartiert.
Ziviles Widerstandsgen
Im Vorfeld machten rechte Kreise in Niederscherli Stimmung gegen die Asylunterkunft. Das weckte in Bornhauser und Schneider sowie in Dutzenden Frauen und Männern, etwa im damaligen Pfarrer Jochen Matthäus und der Kirchenkreispräsidentin Therese Riesen, das zivile Widerstandsgen.
«Offenes Scherli» war zuerst eine formlose Gruppe von Freiwilligen, die agil Sprachkurse, Sportangebote oder gemeinsame Nachtessen organisierten. Von biederen Vereinsstrukturen wollte niemand etwas wissen. Aber rasch zeigte sich, dass Kontinuität und Verbindlichkeit nicht entstehen, wenn der organisatorische Rahmen fehlt. Also tat man, was man in der Schweiz fast immer tut: Man gründete einen Verein. Und weil es sonst niemand machen wollte, wurde Jürg Schneider Präsident.
Wenn man die Frage stelle, warum ausgerechnet in Niederscherli aus der spontanen Solidarität von 2015 ein langfristiges menschenrechtliches Engagement wurde, sei die Vereinsgründung ein entscheidender Punkt, sagt Andreas Guler: «Wenn Strukturen da sind, zieht man etwas eher durch, auch wenn es vorübergehend mal nicht so läuft.»
Persönliche Beziehungen
Auf Initiative von Pfarrer Matthäus begann «Offenes Scherli», einmal wöchentlich das sogenannte «Begegnungs-Kafi» auszurichten. Nicht immer war der Besucher*innenandrang gross, «aber wir fuhren einfach weiter». Längst ist aus dem «Kafi» der monatliche «Freitags-Treff» geworden, ein abendlicher Fixpunkt mit Geselligkeit, Informationsaustausch und Essen, zu dem ehemals in Niederscherli untergebrachte Geflüchtete mit ihren neuen Freund*innen von auswärts anreisen.
Der existierende Verein ist im Rückblick wohl ein Grund, warum «Offenes Scherli» seine Arbeit einfach fortsetzte, als die Asylunterkunft 2017 wegen rückläufiger Asylgesuchszahlen geschlossen wurde. «Wir merkten, dass wir jetzt nicht einfach aufhören können. Dass unsere Unterstützung nur dann nachhaltig wirkt, wenn sie langfristig und persönlich ist. Denn genau das ist es, was die Menschen, die damals geflüchtet sind, brauchen», sagt Rolf Bornhauser.
Persönliche Beziehungen begannen eine wichtige Rolle zu spielen. Bornhauser erzählt ein Beispiel: Er und seine Familie unterstützten eine syrische Kurdin, die mit ihren drei Kindern nach dreimonatiger Flucht auf dem Landweg in die Schweiz gelangt war und in Köniz unterkam.
Heute lebe die Frau in Niederscherli, sie arbeite als interkulturelle Dolmetscherin. Vor zwei Wochen, erzählt Bornhauser bewegt, sei er mit ihrer ältesten Tochter mitgegangen, als sie ihren Lehrvertrag als Mediamatikerin unterschrieb.
Bornhauser entwickelte sich im Rahmen seiner Freiwilligen-Arbeit quasi zum Spezialisten für den Gang durch die Sozialbehörden. Er sieht das auch als Akt der Auflehnung gegen die destruktive Kraft der Bürokratie.
18 Lehrverträge unterschrieben
Er habe mehrmals gesehen, sagt Bornhauser, wie Flüchtlinge alleine diesem Apparat gegenüberstanden, ungenügend informiert, ja gar unfair behandelt worden seien. «Mir», sagt er, «macht heute nicht mehr so schnell jemand etwas vor.» Seine Kompetenz werde von den überlasteten Behörden manchmal auch geschätzt. In den letzten Jahren unterstützte «Offenes Scherli» 18 junge Asylsuchende erfolgreich dabei, eine Lehrstelle zu finden.
«Klar», hält Rolf Bornhauser fest, «wir geben viel mit diesem Engagement. Aber wir erhalten auch sehr viel zurück. Das erwärmt das Herz.» Er selber verstehe seinen Einsatz auch als eine Art Prävention für sich selber, sagt Bornhauser.
Er habe in den letzten Jahren bei den unzähligen Behördengängen einiges an unterschwelligem Rassismus gesehen. Auch er selber sei nicht immer gefeit davor, sagt Bornhauser. Sich aktiv für Geflüchtete einzusetzen, sei für ihn auch ein Mittel, dagegen anzukämpfen.
Etwas anders verlief die Metamorphose zum Menschenrechts-Aktivisten bei Jürg Schneider. Er habe im Verlauf seiner Aktivität für die Geflüchteten «immer mehr Zweifel daran entwickelt, dass es eine gewisse Politik und die Behörden mit der Rechtsstaatlichkeit Ernst meinen».
Seiner Ansicht nach würden Grundrechte «gerade im Asyl- und Ausländerrecht zum Teil bis über die Grenzen zu Gunsten einseitiger Abschreckung strapaziert und verletzt». Der in der Präambel der schweizerischen Verfassung verankerte Grundsatz, wonach sich «die Stärke des Volkes sich am Wohle der Schwachen misst», werde ausgeblendet: «Das erfüllt mich mit Sorge und auch Wut, die mich antreiben.»
Im Gespräch mit dem Dorf
Drei Jahre lang beherbergten Schneider und seine Frau in ihrem Haus einen jungen Äthiopier und begleiteten ihn durch zahlreiche Krisen. Schneider begann sich aufzulehnen gegen «die Ungleichbehandlung von Flüchtlingen».
Zum Beispiel dagegen, dass «Kinder und Frauen im Schengen-System wie Tomaten oder Vieh» herumgeschoben würden. Oder dagegen, dass Asylsuchende mit einem negativen Entscheid, deren Rückschaffung aber nicht vollzogen werden kann, «auf sogenannter Langzeitnothilfe in einem Rückkehrzentrum gehalten werden, ohne jede Perspektive, mit kaputtmacherischem Arbeitsverbot», wie sich Schneider ausdrückt. Dort würden sie mit der Zeit garantiert unfähig, ihr Leben selber zu gestalten.
Heute ist der pensionierte Professor, der einst Non-Profit-Management lehrte, mit seinem Knowhow als Aktivist im ganzen Kanton tätig, «nicht unbedingt zur Freude der Behörden», wie er heiter anfügt. «Ich bin bald 79-jährig, aber wenn ich ehrlich bin, treibt mich mein Engagement praktisch zu Vollzeitarbeit an», sagt Schneider und lacht.
Auch er bezieht aus seiner freiwilligen Langzeit-Solidarität Befriedigung. «Verbindliche Kontinuität ist für die Menschen, die wir unterstützten, unglaublich wichtig», sagt er. Allerdings ging auch ihm eine neue Welt auf. Jahrelang sei er von Niederscherli aus zur Arbeit gependelt, habe an seinem Wohnort kaum soziale Kontakte ausserhalb des Familienhaushalts gehabt: «Heute bin ich mit dem halben Dorf im Gespräch.»
Andreas Guler fand den Draht zu den geflüchteten Menschen auf dem Fussballfeld. Seit Jahrzehnten trifft sich eine Gruppe von Hobbyfussballern jahraus jahrein jeden Samstag auf dem Kunstrasen des Oberstufenzentrums Niederscherli. Ab 2015 luden sie Geflüchtete aus der Kollektivunterkunft ein, um mitzukicken. Manchmal waren so viele dabei, dass man gleich mit vier Mannschaften im Turniermodus spielen konnte.
Freundschaft und Fussball
«Als die Asylunterkunft 2017 schloss, dachte ich, das war es jetzt», sagt Guler. Aber der solidarische Fussballtreff findet bis heute jeden Samstag statt. Es gibt geflüchtete Afghanen, die über eine Stunde mit dem ÖV von ihrem heutigen Wohnort anreisen, um mit ihren Unterstützern Fussball zu spielen.
«Da sind echte Freundschaften entstanden», so Guler. Gerade kürzlich habe einer ein Empfehlungsschreiben gebraucht, weil er im Verfahren für den Aufenthaltsstatus B sei. Natürlich habe man das nach dem Training zusammen formuliert.
Mit einem Netzwerk Gleichgesinnter verbunden zu sein, das ist es, was Andreas Guler an seinem jahrelangen Engagement für Geflüchtete beflügelt: «Man soll es nicht romantisieren. Was wir machen, ist oft zäh, manchmal frustrierend. Aber man erhält eben auch Energie aus dem Kollektiv von Menschen, die am gleichen Strick ziehen.»
Vor zehn Monaten löste Russlands Krieg gegen die Ukraine eine Solidaritätswelle in der Schweiz aus. Zehntausende Familien nahmen Geflüchtete bei sich auf. Auch «Offenes Scherli» engagierte sich, jedoch merkte man schnell, dass in einer Art Hype so viele neue Gruppierungen entstanden, «dass es uns nicht auch noch braucht», wie Andreas Guler sagt: «Wir fanden es sehr wichtig, dass wir den früheren Flüchtlingen, die wir betreuen, versicherten: Wir sind weiterhin für euch da. Weil sie manchmal fast vergessen gingen.»
Erfahrungen abholen?
Inzwischen hat sich die Situation erneut verändert, aktuell befinden sich die Asylgesuchszahlen in der Schweiz auf Rekordniveau, die Geflüchteten kommen neben der Ukraine aus Syrien, Afghanistan oder der Türkei. Der Kanton Bern eröffnet kollektive Unterkünfte, unter anderem im abgelegenen Gurnigelbad und unterirdisch in Bern-Brünnen.
Aus der Erfahrung von «Offenes Scherli» könnte man den Schluss ziehen: Grossunterkünfte sind nur dann tragbar, wenn in ihrer Umgebung die Chance besteht, dass eine Solidaritätsbewegung von Freiwilligen aufblühen kann. «Ich finde es manchmal extrem schade», sagt Jürg Schneider, «dass die Behörden die Erfahrungen von bestehenden Freiwilligen-Organisationen nicht abholen, um wenigstens zu verhindern, dass frühere Fehler erneut gemacht werden.»
Anfang Dezember erhielt der Verein Offenes Scherli den Förderpreis Migration der reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn. Für Jürg Schneider, Rolf Bornhauser und Andreas Guler ist klar: Die Solidarität von «Offenes Scherli» soll kein Verfalldatum haben.