«Der Staat wird häufiger in Frage gestellt»
Die Stadtberner Ombudsfrau Mirjam Graf hatte 2023 so viele Beschwerdefälle zu behandeln wie noch nie. Läuft etwas schief in der Stadtverwaltung?
Wenn man wissen will, ob die Stadtverwaltung gut und im Interesse ihrer Bürger*innen arbeitet, ist man im Büro von Mirjam Graf an der Effingerstrasse richtig. Graf, Rechtsanwältin und Mediatorin, leitet seit 2016 die mit 200 Stellenprozenten ausgestattete Ombudsstelle der Stadt Bern. «Wir sind eine Art Permanence-Klinik für Bürger*innen, die irgendein Problem mit der Verwaltung haben», sagt sie mit trockenem Humor.
An die Ombudsfrau können sich alle Menschen wenden, die Streit oder Stress mit der städtischen Verwaltung oder den stadtnahen Betrieben Bernmobil und ewb haben. Grafs Job besteht darin, allen Beteiligten unvoreingenommen zuzuhören. Die Gespräche sind vertraulich und unentgeltlich.
Ihr wichtigstes Arbeitsinstrument ist der vermittelnde Dialog. Je nachdem kann sie aber auch prüfen, ob die Stadtverwaltung angemessen und rechtmässig gehandelt hat. «Unser Ziel ist es, das Vertrauen der Bürger*innen in den Staat zu stärken oder durch engagierte Fehlerkultur wieder aufzubauen», sagt Graf.
Jedes Jahr veröffentlicht die Ombudsstelle einen Tätigkeitsbericht zuhanden von Stadtrat und Öffentlichkeit. Er erregt kaum je Aufsehen. Erstaunlich, denn er benennt ohne Umschweife Schwachstellen der Stadtverwaltung, was besonders in einem Wahljahr von Bedeutung wäre. Drei Punkte stechen im jüngsten Report hervor:
Die Fallzahlen der Ombudsstelle befinden sich auf einem Rekordhoch.
Frappant ist die sprunghafte Zunahme von Personalbeschwerden in der Stadtverwaltung, auch wegen problematischen Führungsverhaltens.
Im Amt für Erwachsenenschutz und im Sozialamt gibt es tiefliegende Überlastungs- und Organisationsprobleme. Das politisch heftig diskutierte IT-Debakel mit Citysoftnet in diesen Ämtern ist höchstens die Spitze des Eisbergs.
Im Gespräch mit der «Hauptstadt» vertieft Mirjam Graf, wo sie aus dem Blickwinkel ihrer Arbeit Problemzonen in der Stadtverwaltung sieht.
Frau Graf, die Fallzahlen, die Sie und Ihr Team bearbeiten, nehmen seit Jahren zu. 2023 meldeten sich über 800 Menschen bei der Ombudsstelle. Arbeitet die Stadtverwaltung immer schlechter?
Mirjam Graf: So kann man das nicht sagen. Die Stadtverwaltung beschäftigt – mit Bernmobil und ewb – rund 6450 Mitarbeitende. Im Verhältnis dazu hält sich die Zahl der Beschwerden in Grenzen. Trotzdem ist die Zunahme der Fälle ein Signal. Sie zeigt erstens, dass die Ombudsstelle eine hohe Akzeptanz hat als Ort, wo Menschen Hilfe finden, wenn sie Probleme mit der Stadtverwaltung haben.
Und zweitens?
Zeigt sie, dass sich die Beziehung zwischen Bürger*innen und Verwaltung verändert.
Wie genau?
Corona war eine Zäsur, die nachwirkt. Wir erleben eine politische Polarisierung, aber auch Kriege, die verunsichern. Die Teuerung bringt mehr Menschen ökonomisch in Schwierigkeiten. Das alles trägt dazu bei, dass der Staat häufiger in Frage gestellt wird, was sich auf unsere Fallzahlen auswirkt. Ein wichtiger verstärkender Faktor ist zudem der Digitalisierungsschub.
Inwiefern – die Digitalisierung sollte doch die Verwaltung effizienter und flexibler machen?
Aber sie kann Bürger*innen wie Angestellte der Verwaltung auch an ihre Grenzen bringen. Menschen, die weniger geübt sind im Umgang mit digitalen Geräten, fehlen plötzlich die direkten Ansprechpartner*innen, wenn es Probleme mit einer staatlichen Stelle gibt. Das kann bei Betroffenen vor allem im sozialen Bereich zu verzweifelten Situationen führen. Für sie ist es ohnehin schwieriger, sich selber zu helfen oder Hilfe zu organisieren. Die Digitalisierung kann zu einer zusätzlichen Hürde werden. Dem muss die Stadt meiner Meinung nach Beachtung schenken.
Auffallend ist, dass die Ombudsstelle einen starken Anstieg verwaltungsinterner Personalbeschwerden feststellt. Was sind die Ursachen?
Der Anstieg war tatsächlich sprunghaft. 2022 hatten wir es mit 33 Fällen zu tun, 2023 waren es schon 80. Viele hängen mit Überlastung und Digitalisierungsprojekten zusammen. Aber wir haben teilweise auch registriert, dass respektvoller und wertschätzender Umgang am Arbeitsplatz fehlt.
Wie sorgen Sie für Verbesserungen?
Die Ombudsstelle ist keine Behörde, die Ämter kontrolliert oder Massnahmen verordnet.
Sondern?
Wir sind eine Dienstleistungsstelle, die möglichst unkompliziert berät, vermittelt, schlichtet. So tragen wir dazu bei, dass sich Konflikte entschärfen, bevor sie eskalieren, und Verantwortliche Verbesserungen einleiten. Erfreulicherweise ist die Bereitschaft in der Verwaltung gross, auf unsere Beratung einzugehen. Wir erkennen allerdings auch deutlich, wo sich Probleme zuspitzen oder ungelöst bleiben, wenn sich Meldungen dazu häufen.
Wo ist das der Fall?
Vor allem im Sozialamt und im Amt für Erwachsenen- und Kindesschutz (EKS) hat der Stress am Arbeitsplatz noch einmal markant zugenommen.
Das Grund dafür wurde vor den Sommerferien öffentlich diskutiert: Das Debakel mit der neuen Fallführungssoftware Citysoftnet, die nicht funktionstüchtig war. Allerdings hat der Gemeinderat reagiert und Entlastungsmassnahmen eingeleitet.
Ja. Das Bild, das wir aufgrund der Beschwerdefälle aus der EKS haben, zeigt allerdings, dass die Probleme tiefer liegen.
Was heisst das?
Citysoftnet hat den Stress zweifellos erhöht. Aber: Bereits vor Einführung dieser neuen Fallführungssoftware war die Arbeitsbelastung für Verwaltungsangestellte, die für Personen als Beistände zuständig sind, enorm. Die interkantonale Fachstelle empfiehlt, dass pro Vollzeitstelle maximal 60 Dossiers bearbeitet werden sollten, wenn pro Mandat auch die Sachbearbeitung mehrheitlich durch die Beistandsperson zu erledigen ist. Schon das ist viel, wenn es einige darunter hat, die komplex sind. In der Stadt Bern liegt die Vorgabe jedoch sogar bei 85 Dossiers pro Vollzeitstelle. Hinzu kommt noch die Problematik des Sammelkontos.
Was ist damit gemeint?
Ein- und Ausgaben werden bei Beistandschaften über ein Sammelkonto abgewickelt. Das erschwert es den Mitarbeitenden, den Überblick über die Finanzen der Beistandschaftsmandate zu behalten, für die sie zuständig sind. Es ist ihnen deshalb fast nicht möglich, ihre Sorgfaltspflicht seriös wahrzunehmen. Das ist schwierig auszuhalten, wenn man den Job gut machen will.
Ist Besserung in Sicht?
Gemäss den Vorgaben des Kantons müsste die Stadt schon seit Jahren auf Individualkonti umstellen. Das ist bisher nicht passiert. Dazu kommt: Nicht nur bei der EKS, sondern auch auf dem Sozialamt bestand gemäss unserem Bild bereits vor Einführung von Citysoftnet eine sehr hohe Arbeitslast. Mit anderen Worten: Selbst wenn die Software in absehbarer Zeit besser funktioniert, ist die Krise in beiden Ämtern längst nicht ausgebadet. Die Mitarbeitenden und die Personen, für die sie zuständig sind, werden noch lange unter den Folgen leiden. Das bereitet mir grosse Sorgen.
Leidtragende sind oft ohnehin vulnerable Menschen, die freiwillig oder auf Anordnung von Behörden ihre Einkommens- und Vermögensverwaltung einer Beistandschaft der Stadt übergeben. Die Ombudsstelle hat ein besonders krasses Beispiel aufgearbeitet.
Eine lange Verkettung nicht bemerkter Fehler sowohl durch die Beistandsperson wie die Fallverantwortliche beim Sozialdienst hat dazu geführt, dass jemandem zu viel Sozialhilfe ausbezahlt wurde. Nun muss die betroffene Person 18’700 Franken zurückzahlen – ein enormer Betrag für jemanden, der Sozialhilfe bezieht. Das bedeutet wohl eine lange, auch psychisch belastende Schuldensituation. Obschon aus unserer Sicht ein klassischer Fall von Staatshaftung vorliegt, haben sowohl die Versicherung der Stadt wie die Stadtbehörden selber die Haftung abgelehnt.
Wie reagiert die Ombudsstelle?
Wir sind in diesem Fall sehr weit gegangen, haben zahlreiche Abklärungen gemacht und sind immer noch bemüht, eine befriedigende Lösung zu finden. Meiner Meinung nach darf es nicht sein, dass sich die Stadt hinter Formalismen versteckt und damit quasi sagt, es ist dumm gelaufen, aber die Folgen lädt man einfach auf die Schultern der betroffenen, vulnerablen Person. Ein klares Statement, dass man sich um eine gute Lösung bemüht, wäre auch gegenüber den Mitarbeitenden wichtig, denen die Fehler unterliefen. Wie geschildert, arbeiten sie unverschuldet unter grossem Stress.
Es gibt auch auffällig viele Beschwerden über Ticketkontrollen in Trams und Bussen bei Bernmobil. Mehrere davon betreffen Fahrgäste, die gebüsst wurden, obschon sie ein E-Ticket hatten.
Die Zahl der Meldungen wegen dieses Problems nimmt spürbar zu. Wir erhielten sogar Beschwerden von Leuten, die gar nicht selber betroffen waren, sondern nur beobachteten, wie Bussen im Tram verhängt wurden und so die mangelnde Kundenfreundlichkeit von Bernmobil kritisieren.
In ihren lesenswerten Tätigkeitsberichten dokumentiert die Ombudsstelle teilweise skurrile Einzelfälle, die zeigen, wie vertrackt und mitunter emotional die Konflikte sind, mit denen sie konfrontiert wird. Ein Beispiel aus dem Bericht 2023:
In einem Bus von Bernmobil verlangten Kontrolleur*innen von einer Person einen Zuschlag, weil sie einen kleinen Hund in einer Tasche mitführte, ohne für ihn einen Fahrausweis gelöst zu haben. Weil Uneinigkeit darüber bestand, ob der Hund sich bei der Kontrolle inner- oder ausserhalb der Tasche befand und die Tasche regelkonform war, eskalierte die Kontrolle. Bei der Endstation zog der Kontrolldienst gar die Polizei bei. Die Person wandte sich an die Ombudsfrau, weil sie sich vom Kontrollpersonal diskriminiert führte. Mirjam Graf organisiert ein Vermittlungsgespräch, bei dem sich zeigt, dass die Anforderungen an eine konforme Hundetasche, auf der Bernmobil beharrt, nicht online abrufbar sind. Der ÖV-Anbieter zahlt darauf den Zuschlag zurück und lädt die betroffene Person mit ihrem Kind zu einer Betriebsbesichtigung ein. Zudem will er die Angaben über geeignete Behältnisse für den Tiertransport in Bus und Tram präzisieren. (jsz)
Was ist genau das Problem?
Bernmobil setzt die Praxis rigide um, dass ein E-Ticket ungültig ist, wenn es nicht eindeutig vor Abfahrt von Tram oder Bus gelöst wurde. Das auch, wenn der Kauf wegen technischen Problemen nicht abgeschlossen werden konnte. Wir kritisieren diese Praxis, doch Bernmobil argumentiert, das Kontrollpersonal könne nicht mit Sicherheit feststellen, ob ein Ticket versehentlich oder absichtlich zu spät gelöst wurde.
Was empfiehlt die Ombudsfrau?
Wir raten Bernmobil, die Kulanzpraxis auf knapp zu spät gelöste E-Tickets auszuweiten. Dem Personal kann und muss zugetraut werden, dass es die Kontrollaufgabe mit Augenmass ausüben kann. Aus unserer Sicht könnte Bernmobil damit sogar eine nationale Vorreiterrolle übernehmen, was die Kundenfreundlichkeit angeht.
Kontrollieren Sie eigentlich, ob Ihre Anregungen umgesetzt werden?
Wir könnten eine Überprüfung machen, aber das ist eine Kapazitätsfrage. Die Behörden melden der Ombudsstelle meist von sich aus, ob sie Massnahmen ergreifen.