«Architektur beeinflusst uns alle»
Das neue Architekturfestival Open House verschafft am kommenden Wochenende kostenlosen Zugang zu 48 Gebäuden in Bern. Eine Entdeckungsreise zu heimlichen Ikonen und überraschenden Umnutzungen.
220 Meter oder zwei Fussballfelder lang ist der zeilenförmige Bau im Quartier Hardegg. Das aussergewöhnliche Langhaus umfasst 114 Mietwohnungen sowie Ateliers. Es steht genau an der Grenze zwischen Köniz und Bern im Liebefeld und ist eines der eindrücklichsten modernen Wohnhäuser der Agglomeration Bern, erbaut zwischen 2005 und 2008.
Am westlichen Ende der Monbijoubrücke sticht hoch über dem Marzili ein graues Bürohochhaus aus den 60er-Jahren in den Himmel. Auf den ersten Blick denkt man nicht daran, dort zu wohnen. Seit 2021 kann man das nach einer Umnutzung aber schon, und wie: In 53 Kleinwohnungen und einigen Lofts, mit teilweise spektakulärem Blick in die Berge.
Je nach Blickwinkel greifen die Betonerker wie Haifischzähne in die Luft, wenn man im edlen Villen- und Botschaftsquartier der Brunnadernstrasse entlangfährt. Die aus vier Bauten bestehende Siedlung Brunnadern gehört zu den ikonischen Werken des Architekturbüros Atelier 5 aus den 70er-Jahren. Die Siedlung versuchte schon vor 50 Jahren, hohe Individualität der Wohnungen zu kombinieren mit gestaltetem Gemeinschaftsraum.
Mitten im Leben
Hardegg, Brückenkopf, Brunnadern: Das sind drei der insgesamt 48 Häuser und Anlagen, die am kommenden Samstag und Sonntag während der ersten Ausgabe von Open House Bern gratis besucht und betreten werden können, teilweise mit kundiger Führung. Das Format Open House könnte man als Architekturausstellung am lebenden Objekt bezeichnen: Besucher*innen haben die Möglichkeit, hinter die Fassaden von Gebäuden zu blicken, in denen gewohnt, gearbeitet oder relaxt wird.
«Es steckt vielleicht schon nicht gerade im bernischen Charakter zu sagen: Hey, das ist mein Haus, ich zeige es der Öffentlichkeit», sagt Rahel Gugelmann, mitten in Flyern und Plakaten sitzend, im Festivalzentrum Affspace an der Münstergasse. Die Berner Architekturhistorikerin ist Initiantin und ehrenamtliche Leiterin von Open House Bern, das von einem Team von Freiwilligen organisiert wird.
Open House ist ein Format, das weltweit in über 50 Städten veranstaltet wird, in der Schweiz bisher in Basel und Zürich. Vor ein paar Jahren machte Gugelmann in Basel als Freiwillige mit und brachte die Idee nach Bern.
Rahel Gugelmann und ihr Team identifizierten zu Beginn rund 300 Gebäude, die aus ihrer Sicht für Open House in Frage kommen, wobei die Liste laufend erweitert werde. Danach prüfte ein externes Fachgremium aus den Bereichen Architektur, Denkmalpflege und Forschung die Auswahl. Einige passten dann aufgrund ihrer Lage nicht ins Konzept, bei anderen sagten die Besitzer*innen für dieses Jahr ab. Am Schluss blieben für die Erstausgabe 58 Programmpunkte, wovon 48 Gebäude sind.
Neuer Blick auf bekannte Stadt
«Als Veranstaltende ist es nicht unsere Rolle über die Qualität der Architektur, die man bei Open House sehen kann, zu urteilen», so Gugelmann. Hinter dem Stararchitekten-Kult übernehme vielfältige Architektur eine wichtige Rolle im Alltag, die oft weniger sichtbar sei. Das bewusster zu machen, dazu wolle Open House einen Beitrag leisten. Hinzu komme, dass der Publikumsgeschmack nicht unbedingt demjenigen der Fachwelt entspricht. «Wir sind gespannt, welche Bauten bei den Besuchenden besonders beliebt sind», sagt Gugelmann.
Es gehe bei Open House nicht darum, die Schlüsselloch-Neugier des Blicks in fremde Haushalte zu befriedigen. Und auch nicht, Architektur als Prestigeobjekt zu feiern. «Wir alle wohnen und bewegen uns in der Stadt», sagt Rahel Gugelmann. «Die Art, wie die Stadt und ihre Häuser gebaut sind, beeinflusst uns deshalb alle. Darum finden wir es wichtig, städtische Baukultur für alle erlebbar und zugänglich zu machen und das nicht Expert*innen vorzubehalten.» Man könne, so Gugelmann, bei Open House niederschwellig zu einem intensiven Stadterlebnis kommen und die eigene Stadt auf eine neue Art und Weise kennenlernen.
Open House, Samstag, 1. Juni, Sonntag, 2 Juni, Programm, Führungen, Events: hier.