Die ergraute Siedlung

Das ist eine Geschichte über Generationen, die aufeinanderprallen, eine Siedlung, die einmal einer Geisterstadt glich und jetzt wieder auflebt und eine in die Jahre gekommene Vision eines Architekturbüros.

BOLL, April 2023; Siedlung von Atelier 5; Porträt von Cornelia & Hans-Jürg Adam mit Hund Toto; Fotografiert für die Hauptstadt; Foto: Jonahan Liechti
Die Schlossparksiedlung in Boll-Utzigen wurde 1996 gebaut. (Bild: Jonathan Liechti)

Grau, wohin man blickt. Ein leerer Gang. Daneben Briefkästen, die sich aneinanderreihen. Treppen führen hinab in Wohnungen, deren Fenster so spiegeln, dass man nicht sehen kann, ob jemand zuhause ist. Ein Fussball liegt ungebraucht mitten auf dem Dorfplatz. 27 Jahre ist es nun her, seit die ersten Bewohner*innen in die Beton-Siedlung in Boll-Utzigen gezogen sind, viele davon gründeten hier Familien. Doch was ist seither passiert?

Rückblende, Frühling 1995. Cornelia und Hans Jürg Adam, zu dieser Zeit ein frisch verheiratetes Paar, suchen in Bern nach einer Wohnung. Stattdessen treffen sie auf ein riesiges Inserat des Architekturkollektivs Atelier 5, das für eine neue Siedlung im Berner Vorort Boll-Utzigen wirbt. Darauf zu sehen ist eine Fotografie von einem idyllischen Park mit Kastanienbäumen. Versprochen werden lichtdurchflutete Wohnungen in einem mediterranen Ambiente und ein Wegkommen vom «kleinbürgerlichen Provinzklima». «Das war das erste Mal, dass jemand Lichtdurchflutung ins Spiel brachte», erzählt die heute 67-Jährige Cornelia Adam. 

BOLL, April 2023; Siedlung von Atelier 5; Porträt von Cornelia & Hans-Jürg Adam mit Hund Toto; Fotografiert für die Hauptstadt; Foto: Jonahan Liechti
Seit 27 Jahren wohnen Cornelia und Hans Jürg Adam in der Siedlung aus Beton. (Bild: Jonathan Liechti)

Interessiert an der Architektur und der Vision der Siedlung, reisen die beiden nach Boll und sind schnell von der Einbettung des Betons in die Naturlandschaft und der modernen Architektur überzeugt. Sie entscheiden sich, in eine 4 ½ Zimmer Wohnung in der Schlosspark-Siedlung, wie die Überbauung in Boll heisst, zu ziehen. Der Preis: 761’000 Franken. Für das Paar ist der Kauf nur möglich, weil Hans Jürg kurz zuvor geerbt hat. 

Es sind Architekt*innen, Künstler*innen, Literaturwissenschaftler*innen, Lehrer*innen und Ingenieur*innen, die in die 75 Einheiten der Siedlung aus Beton ziehen. Und deren Kinder, die durch die Gänge springen, mit Kreide den Boden verzieren und bis spät nachts Fünfzehn-Vierzehn spielen. Im Sommer findet wöchentlich ein Fest statt, die Bewohner*innen treffen sich bei Kartoffelsalat und Couscous, jung und alt spielen gemeinsam an den Ping-Pong-Tischen. Die Siedlung lebt. Genauso, wie es sich die Architekt*innen von Atelier 5 vorgestellt hatten.

BOLL, April 2023; Siedlung von Atelier 5; Porträt von Cornelia & Hans-Jürg Adam mit Hund Toto; Fotografiert für die Hauptstadt; Foto: Jonahan Liechti
Das Konzept der A5-Siedlungen

Die Arbeit von Atelier 5 ist geprägt von zwei Grundgedanken: Erstens dem Zusammenspiel von öffentlichem und privatem Raum. Und zweitens dem verdichteten Bauen. So gleichen die Beton-Siedlungen, von denen es in und um Bern sechs gibt, aufgrund der vielen Laubengänge und des verschachtelten Bauens der Berner Altstadt. Und die vielen Begegnungsorte wie der Dorfplatz, der Gemeinschaftsraum, der Dorfladen oder das Schwimmbad laden zum sozialen Austausch ein. 

Zu Beginn der Siedlungsbauten in den 1960er Jahren stossen die sozial und links orientierten Gedankenansätze auf viel Aufmerksamkeit. Heute gelten die Siedlungen in Halen, Thalmatt, Brunnadern, Bodenacher, Ried und Boll-Utzigen als Vorreiterprojekte und Inspiration für viele Architekt*innen. 

In den heutigen Projekten von Atelier 5 zeigen sich die Grundgedanken, die es seit der Gründung 1955 gibt, immer noch. Neben den Neubauten nimmt jedoch der Umbau und die Umnutzung in der Architektur immer mehr Raum ein. So auch beim Architekturkollektiv Atelier 5: Der Umbau für die Schweizer Botschaft im Vatikan, die Umnutzung eines Bürogebäudes in eine Schule oder das neue Dienstleistungsgebäude 131 sind Beispiele für aktuelle Arbeiten. 

Zwanzig Jahre vergehen, der Beton wird vom Grün der Pflanzen überwachsen, die Kinder werden älter und ziehen aus. Schon einige Zeit ist es her, seit das letzte Mal ein Fest stattfand. Cornelia und Hans Jürg Adam verbringen viel Zeit in ihrer Wohnung, weil es Hans Jürg gesundheitlich nicht gut geht. Seit Covid braucht er Sauerstoff und nach einer Schenkelhalsfraktur mussten sie einen Treppenlift einbauen. «Ich werde die Wohnung, solange ich lebe, nicht mehr viel verlassen», sagt Hans Jürg. Es stört ihn nicht. Ihm gefallen die Aussicht auf die Berge und die Ruhe, die er hier schon immer gerne hatte. 

«Viele ältere Menschen ziehen sich aus dem Aussenraum in ihre Wohnungen zurück», meint Cornelia Adam. Sie steht plötzlich auf, weil sie sich an etwas erinnert hat, und holt einen Katalog hervor, der aussieht, als wäre er mit seinen zerfledderten und vergilbten Seiten oft durchgeblättert worden. Es handelt sich um den Original-Verkaufs-Katalog der Schlosspark-Siedlung von 1996. Sie schiebt den aufgeschlagenen Katalog quer über den Tisch. Auf der Seite zu sehen ist der Grundriss aller 75 Wohn- und Ateliereinheiten. Fein säuberlich stehen die Namen aller Bewohner*innen darauf. 

BOLL, April 2023; Siedlung von Atelier 5; Porträt von Cornelia & Hans-Jürg Adam mit Hund Toto; Fotografiert für die Hauptstadt; Foto: Jonahan Liechti
Im Arbeitszimmer von Hans Jürg Adam blickt man vom Fenster aus auf die Berge. (Bild: Jonathan Liechti)

«Etwa 80 Prozent der ursprünglichen Wohnungsbesitzer*innen leben noch immer hier», sagt Cornelia Adam, nachdem sie die Namen durchgeschaut hat. Dann zeigt sie auf die grössten Einheiten - die 6 bis 71/2 Zimmer Wohnungen. In vielen davon wohnen heute nur noch zwei Personen. 

Die Wohnraum Thematik 

Es ist eines der grössten Probleme bei der aktuellen Wohnungsknappheit: Oft wird grosszügiger Wohnraum von älteren Menschen belegt, die auch alleine dort bleiben, wo sie mal als Familie eingezogen waren. «Das ist reiner Komfort», meint Martin Klingbacher, Nachbar von Cornelia und Hans Jürg Adam. Als Architekt bei Atelier 5 setzt er sich täglich mit dieser Thematik auseinander. Er wohnt mit seiner Familie seit zwei Jahren in der Siedlung.

«Die Problematik ist in vielen Siedlungen, aber auch in Einfamilienhausquartieren und ganzen Dörfern in der Schweiz bekannt. Man kann aber Leute, die teilweise ihr ganzes Leben in einem Haus verbracht haben, natürlich nicht dazu zwingen, wegzuziehen», sagt Klingbacher. Er hat 2017 in Basel an einem Projekt der Stiftung Habitat gearbeitet. Dabei handelte es sich um einen Wohnbau, der eine sogenannte «Mindestbelegung» vorschreibt. Das heisst, dass die Zimmeranzahl immer der Anzahl der Personen entsprechen muss. Zieht also beispielsweise die Tochter einer vierköpfigen Familie aus, müssen die restlichen drei Personen innerhalb einer angemessenen Frist in eine kleinere Wohnung ziehen. So kann das Problem der Unternutzung aktiv vermieden werden. Diese Klausel gibt es auch bei verschiedenen Genossenschaftsüberbauungen in Bern, beispielsweise bei der Eisenbahnersiedlung Weissenstein.

BOLL, April 2023; Siedlung von Atelier 5; Porträt von Cornelia & Hans-Jürg Adam mit Hund Toto; Fotografiert für die Hauptstadt; Foto: Jonahan Liechti
Der Dorfplatz in der Schlossparksiedlung steht verlassen da. (Bild: Jonathan Liechti)

«Das lässt sich aber nicht einfach auf die Schlosspark-Siedlung in Boll übertragen», meint Klingbacher. Alle 75 Einheiten im Betonbau sind Eigentumswohnungen. Zudem steckt keine Genossenschaft dahinter, welche kontrolliert, wer ein- und auszieht. Und niemand setzt sich von offizieller Seite gegen die schwindenden sozialen Kontakte und Austauschmöglichkeiten ein. «Atelier 5 plant und baut die Siedlungen und setzt einen gewissen Rahmen für die Gemeinschaft. Wie die Bewohner schlussendlich zusammenleben, ist nicht mehr in unserer Verantwortung», so Martin Klingbacher.

Das Auf- und Ableben 

Grauer Beton, wo man hinschaut. Die eigenen Schritte hallen fast gespenstisch durch die Gänge. Es fällt schwer, sich diese ausgestorbene Landschaft lebendig vorzustellen. Doch nach und nach komme das Leben wieder zurück, meinen sowohl Cornelia Adam als auch Martin Klingbacher. Wieso?

«Das Ganze lässt sich anhand eines Wellen-Beispiels erklären», sagt Martin Klingbacher. Zu Beginn ziehen viele junge Familien in die Siedlungen. Das ist die erste grosse Welle. Nach zehn bis fünfzehn Jahren ziehen die Kinder aus oder sind zu gross, um noch draussen spielen zu wollen. Der Aussenraum wird weniger genutzt. Die älteren Leute ziehen sich zurück. Das ist der sogenannte Tiefpunkt, oder man könnte auch sagen die Ebbe. Denn obwohl die Kinder ausziehen, bleiben die Eltern in den Wohnungen zurück.

BOLL, April 2023; Siedlung von Atelier 5; Porträt von Cornelia & Hans-Jürg Adam mit Hund Toto; Fotografiert für die Hauptstadt; Foto: Jonahan Liechti
Cornelia und Hans Jürg Adam sind mit der ersten grossen Welle in die Atelier 5 Siedlung gezogen. (Bild: Jonathan Liechti)

«Diese Wellen sind in allen Siedlungen beobachtbar», meint Klingbacher. Erst nach und nach werde die Ebbe überwunden und mache Platz für eine zweite grosse Welle, zwanzig bis dreissig Jahre nach der ersten. Es ziehen wieder neue Familien ein, die Siedlungen leben auf.  Doch: «Die älteren Leute haben sich an die Ruhe ohne die Kinder gewöhnt. Jetzt, wenn es wieder häufiger laut ist draussen, gibt es wieder mehr Konflikte», sagt Martin Klingbacher.

Der Architekt ist junger Vater und erlebt selber, wie die Generationen in der Schlossparksiedlung in Boll-Utzigen aufeinander prallen. Auch seine Nachbarin Cornelia Adam beschäftigen Auseinandersetzungen zwischen den Siedlungsbewohner*innen in letzter Zeit, die jedoch nicht nur zwischen Alt und Jungen entstehen, wie sie erzählt. «Es ist aber auch eine Illusion zu denken, dass 75 Einheiten so lange nah beieinander wohnen können, ohne Reibungen zu haben», meint die 67-Jährige. 

Ergraut auf gewisse Zeit 

Ist also die Siedlung in Boll-Utzigen ergraut? Nein, auf dem Betonboden sind wieder Kreideresten zu finden. Nach einer längeren ruhigen Phase kommt eine neue Welle an Bewohner*innen mit kleinen Kindern. Für die älteren Menschen beginnt eine Zeit der Umgewöhnung. 27 Jahre zuvor wollte Atelier 5 noch dem «kleinbürgerlichen Provinzklima» entrinnen. Heute hat sie die Realität eingeholt. 

Ist die Vision von Atelier 5 also alt geworden, wie die Mauern aus Beton? Ja, teilweise schon. «Die Siedlungen aus den 70er und 90er Jahren könnte man heute nicht mehr in dieser Form bauen», sagt Martin Klingbacher. Es liege an den gesetzlichen Vorschriften, der höheren Dichte, dem Preis und der Energiebilanz der Materialien und auch dem Bauland. «Würde man heute auf einer freien Waldlichtung eine Siedlung bauen wie in Halen, würden sich alle an den Kopf fassen», meint der Architekt. Heute müsse man andere Antworten auf Probleme finden als noch vor 20-30 Jahren. 

Doch etwas ist von den berühmten Beton-Siedlungen geblieben, was immer noch im Zentrum der Arbeit von Atelier 5 steht: Das gemeinsame Wohnen und den möglichst ungezwungenen Austausch zwischen den Bewohner*innen möglich machen.

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Diskussion

Unsere Etikette
Rose & Roland Lehmann
21. Juni 2023 um 09:01

Warum so negative Umschreibung der Sichtbetonbauten? Gealterter Beton hat eine schöne Patina und lebt durchaus. Im Gegensatz zu den aktuellen, Investorenfreundlichen Baumaterialien wie Aluminium und den unsäglichen Kunststoffen. Beton ist kein lebloses Kunstprodukt, Beton ist reine Natur, Sand, Kies, Wasser und etwas Zement und durchaus sehr nachhaltig und das Recycling ist problemlos!

Hanspeter Zaugg
20. Juni 2023 um 14:20

Danke für ein Kapitel des Wohnungsbaus dass ich nicht kannte

Interessant!

Ruedi Muggli
20. Juni 2023 um 13:26

Heute würde eine pioniersiedlung in Holz und als Nullenergiehäuser gebaut … die Herausforderungen ändern sich seit je immer wieder.