Digital ist nicht immer besser

Unser Philosophie-Kolumnist Christian Budnik fragt sich, was für Folgen die Digitalisierung für unsere sozialen Kontakte hat.

Illustration für die Philo Kolumne
(Bild: Silja Elsener)

Digitalisierungsprozesse gehen schleichend vonstatten. Daran muss ich immer denken, wenn ich mich beim Einkaufen dabei erwische, wie ich im Supermarkt nahezu instinktiv zum Self-Checkout-Bereich gehe. Oder den immer offenen Quartierladen, in dem man sich selbst bedient, für einen schnellen Einkauf nach acht Uhr nutze. Noch vor wenigen Jahren war es das Natürlichste der Welt, Einkäufe auf einem Kassenband abzulegen und sie bei einer Person zu bezahlen, die eigens für diesen Zweck vom Supermarkt angestellt war.

Obwohl es gar nicht so lange her ist, kann ich mich nur schemenhaft daran erinnern, wie aufregend es war, das erste Mal die Einkäufe selbständig einzuscannen. Ich war so schnell fertig. Kein nervenaufreibendes Beobachten der Kund*innen vor mir, die in Schneckentempo ihre Waren aus- und einpacken. Keine belanglosen Höflichkeiten nach dem Bezahlen. Schnell rein, schnell wieder raus aus dem Supermarkt. Als würde man zu einer neuen Generation von Menschen gehören, die sich ihr Leben nicht von so unwichtigen Dingen wie dem Einkaufen ausbremsen lassen.

Es geschieht schleichend

Woran ich mich nicht mehr erinnern kann, ist der Zeitpunkt, an dem dieses abstruse Gefühl nachgelassen hat und ich einfach nur ohne weiter nachzudenken den Self-Checkout ansteuerte. Gewohnheiten entstehen oft auf diese unmerkliche Weise. Irgendwann ist der Tag erreicht, an dem man sich nicht mehr vorstellen kann, wie es war, anders zu leben.

Genau dieses Schleichende gehört zu den vernachlässigten Gefahren, die sich mit der Digitalisierung verbinden. Es werden in diesem Zusammenhang sehr oft dramatische Probleme thematisiert: Wie sollen selbstfahrende Autos entscheiden, wenn sie entweder eine Gruppe von Kindern oder zwei Erwachsene überfahren müssen? Wie steht es um den Wert der Privatheit angesichts der allgemeinen Verbreitung sensibler persönlicher Daten in den sozialen Netzwerken? Wie sollen wir mit Algorithmen umgehen, die statistische Diskriminierung betreiben, z.B. bei der Auswahl von Bewerber*innen für einen Arbeitsplatz?

Es passiert etwas mit uns, wenn wir uns auf digitale Angebote einlassen.

Es liesse sich beinahe beliebig mit solchen Fragestellungen fortfahren, die derzeit von der Politik, von der Forschung, aber auch von interessierten Bürger*innen intensiv diskutiert werden. Und das zurecht, weil es sich dabei offensichtlich um drängende, ja sogar existentielle Probleme handelt, mit denen wir uns als Gesellschaft beschäftigen müssen.

Weitaus schwieriger ist es aber, die Folgen einzuschätzen, die Digitalisierungsprozesse auf unsere alltäglichen Gewohnheiten, auf unsere über den Moment hinausgehenden Haltungen und Wertvorstellungen haben. Es passiert etwas mit uns, wenn wir uns auf digitale Angebote einlassen. Wir sind in dem Moment, in dem wir damit anfangen, nur in einer sehr schlechten Position, um einschätzen zu können, ob diese Veränderungen überhaupt wünschenswert sind.

Kommen wir auf das eingangs angesprochene Einkaufsszenario zurück, so lässt sich etwa argumentieren, dass der Self-Checkout keinesfalls eine harmlose Alternative zur althergebrachten Art einzukaufen darstellt. Der Kontakt mit der Kassiererin mag zwar belanglos sein, aber es ist immerhin ein zwischenmenschlicher Kontakt.

An der Kasse war es nicht immer banal

Nachdem sich meine anfängliche Self-Checkout-Begeisterung gelegt hatte, ist mir sogar aufgefallen, dass nicht alle meiner vergangenen Interaktionen an der Kasse völlig banal gewesen waren. Ich habe mich an die Kassiererin erinnert, die immer ein Lächeln und einen netten Satz für meine Tochter übrig hatte und an den Kassierer, der mir sofort geholfen hat, als ich aus Versehen einen Joghurtbecher in meinen Rucksack entleert habe.

Beide habe ich schon länger nicht mehr gesehen. Mir ist aufgefallen, dass ich mich der Chance auf solche kleinen Begegnungen beraube, wenn ich den Self-Checkout benutze, nur um etwas schneller aus dem Laden raus zu sein. Und dass mein Leben ohnehin ärmer an solchen Alltagskontakten zu Fremden geworden ist, seitdem alles, was nicht mit Freunden oder Familie zu tun hat – pandemiebedingt oder aus Bequemlichkeit – von mir auf digitalen Bahnen abgewickelt wird.

Das Gefühl der sozialen Nähe, so diffus es auch sein mag, darf nicht verwechselt werden mit der digitalen Nähe, die wir herstellen, wenn wir online Gleichgesinnte suchen und finden.

Dabei sind persönliche Kontakte zu Menschen, mit denen man ansonsten vielleicht nichts zu tun hätte, sehr wichtig. Aus ihnen speist sich das Gefühl, Bestandteil einer Gemeinschaft zu sein. Fallen sie weg, kann es vorkommen, dass man sich recht schnell als Fremder unter Fremden fühlt.

Befürworter*innen der Digitalisierung werden einwenden, dass man auch online sehr gut mit Menschen in Kontakt treten kann. Das möchte ich auch gar nicht anzweifeln. Aber die digitale Art der Kontaktaufnahme ist oft sehr selektiv: Wir folgen Menschen auf Twitter, weil wir ihr Leben oder das, was sie daraus machen, interessant finden, nicht weil sie auf irgendeine Weise repräsentativ für die Gesellschaft wären, in der wir leben.

Das Gefühl der sozialen Nähe, so diffus es auch sein mag, darf nicht verwechselt werden mit der digitalen Nähe, die wir herstellen, wenn wir online Gleichgesinnte suchen und finden. Ohne ein solches Gefühl fällt es allerdings nicht leicht, Probleme, die uns alle angehen, aus der Perspektive des Gemeinwohls anzugehen. Und das kann zu einem Problem für die Demokratie werden.

Wir müssen die Angebote nicht nutzen

Das Problem mit vielen Prozessen der Digitalisierung ist, dass wir ihre Folgen erst abschätzen können, wenn es unmöglich ist, sie umzukehren. In vielen der scheinbar banalen Digitalisierungskontexte geht es darum, dass unser Leben in irgendeinem kleinen Bereich etwas einfacher wird – beim Einkaufen, beim Finden einer Adresse oder beim Buchen eines Zugtickets. Wir nehmen dann die Neuerungen bereitwillig hin und richten uns so nach und nach in einem digitalen Alltag ein, der immer weniger Interaktionen mit ‘echten’ Menschen und Dingen beinhaltet: Der Mangel an persönlichen Kontakten zu Fremden kann im schlimmsten Fall eine Art soziale Orientierungslosigkeit im Denken und Fühlen auslösen, die so ähnlich ist, wie das Gefühl der räumlichen Orientierungslosigkeit, das einen beschleicht, wenn mal das Navi im Auto ausfällt.

Das alles heisst selbstverständlich nicht, dass wir sofort alle Self-Checkout-Bereiche in Läden schliessen sollten. In einer liberalen Gesellschaft wird sich nicht verhindern lassen, dass uns von Seiten von Unternehmen digitale Angebote gemacht werden, und vielleicht ist das auch gut so. Aber es ist nicht selbstverständlich, dass wir diese Angebote auch nutzen müssen.

Und wir sollten im Auge behalten, welch langfristige Wirkung davon ausgehen könnte. Seit es den Self-Checkout gibt, sind weniger Kassierer*innen in Läden angestellt. Das ist eine ganz reale Entwicklung, die sich nicht zurückdrehen lassen wird. Sie betrifft auf ähnliche Weise auch Postfilialen, Buchläden und Elektrogeschäfte. Die Frage ist, ob wir langfristig in einer Welt leben wollen, in der es diese Formen der persönlichen Interaktion gar nicht mehr gibt.

Ich will das nicht, und deshalb zwinge ich mich immer öfter, zu einem Menschen an der Kasse zu gehen, auch wenn es mich vielleicht zwei Minuten Lebenszeit kostet.

Christian Budnik posiert im Büro der Hauptstadt für ein Portrait, fotografiert am 03. März 2022 in Bern.
Zur Person

Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.

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Diskussion

Unsere Etikette
Rolf Helbling
22. September 2022 um 17:06

Ich bezahle wann immer möglich an der bedienten Kasse, in der Hoffnung, dass diese und vor allem die Arbeitsplätze erhalten bleiben.

Christoph Bloch
22. September 2022 um 05:42

Mit ist die Einschätzung etwas zu pessimistisch. Nicht, was die Möglichkeit schlimmer Folgen und die Unumkehrbarkeit gewisser Entwicklungen angeht, das sehe ich absolut. Aber die Fähigkeit des Menschen, die Folgen seines Tuns abzuschätzen, ist unsere Chance. Selbstbedienungskassen? Mir war im Voraus klar, dass das nichts ist für mich. Erstens bin ich mit meinen grossen Einkäufen an der bedienten Kasse sowieso schneller und vor allem entspannter. Zweitens habe ich null Bock auf Zoff mit einem Ladendetektiv, wenn ich einen Fehler mache. Drittens die soziale Komponente: Die Gesellschaft gewinnt nicht, wenn sie möglichst viele niedrigqualifizierte Stellen verschwinden lässt und die ohnehin prekären Existenzen in Richtung Sozialstaat drängt. Diese Verlagerung der Bedienungsarbeit auf die Kundschaft ist, viertens, wirtschaftlich höchstens im Partikularinteresse der (ehemaligen) Arbeitgeber.

Das ist, wenn man einen Moment drüber nachdenkt, alles im Voraus absehbar. Also, hirne bim Läbe.

Hanspeter Zaugg
21. September 2022 um 15:56

Ich freue mich wenn ich mit dem jeweiligen Kassenpersonal des Grossverteilers in unserem Dorf ein paar Worte reden kann nebenbei wird mir auch mein Einkauf freundlich und schön eingepackt, wieso dass so ist hat persönliche Gründe ich jedenfalls verzichte so lange wie möglich auf das Self Checking Danke für den Differenzierten Blick