Was E-Trottis mit Demokratie zu tun haben
Unser Philosophie-Kolumnist wundert sich über E-Trottinetts, die quer auf dem Trottoir abgestellt werden. Wer das mache, vergesse, die Mitmenschen mitzudenken – ein Problem für die Demokratie.
Vor mehr als einem Jahr sind auf den Strassen unserer Stadt Elektro-Trottinetts zum Mieten aufgetaucht. Bern scheint dabei die ernüchternden Erfahrungen in anderen Städten berücksichtigt zu haben, denn die Auflagen für die Anbieter sind hier strenger.Man stolpert in unseren Quartieren nicht ständig über umherliegende E-Trottis, und in der Aare habe ich zum Glück auch noch keine gesichtet.
Ab und zu erinnern mich die Zweiräder jedoch an Fragestellungen aus dem Bereich der Demokratietheorie. Etwa dann, wenn Trottis quer auf dem Trottoir, direkt vor Eingangstüren oder genau an der Kante zum Fussgängerstreifen abgestellt wurden. Diese Fälle haben zweierlei gemeinsam: Erstens stellen die E-Trottis auf beinahe groteske Weise ein Hindernis für andere Menschen dar, und zweitens wäre es ein Leichtes, sie so zu parkieren, dass sie es nicht tun.
«Was solche Trotti-Konstellationen demokratietheoretisch bemerkenswert macht, ist die radikale Gedankenlosigkeit ihres Zustandekommens.»
Christian Budnik, Philosoph
Eben weil es so einfach wäre, die Trottis so zu parkieren, dass sie niemanden stören, scheint das Phänomen nicht unbedingt mit einer egoistischen Haltung zu tun zu haben, bei der die eigene Bequemlichkeit bewusst höher gewertet wird als die Bedürfnisse anderer Personen. Was solche Trotti-Konstellationen demokratietheoretisch bemerkenswert macht, ist die radikale Gedankenlosigkeit ihres Zustandekommens.
Den Personen, die ihre Trottis auf die skizzierte Weise abgestellt haben, ist offenbar nicht der Gedanke gekommen, dass ihre Handlung negative Konsequenzen für andere haben könnte. Es ist zu vermuten, dass ihnen in dem Moment, als sie vom Trotti abgestiegen sind, «die andere Person» als abstrakte Vorstellung von jemandem, der gerade das Haus verlassen oder auf dem Fussgängerstreifen die Strasse überqueren möchte, völlig fern gewesen ist.
Eine besorgniserregende Haltung, wenn man den Ansatz vertritt, dass ein deliberatives Element für die demokratische Praxis wesentlich ist. Deliberativ bedeutet, dass es für das Gelingen demokratischer Prozesse nicht reicht, wenn wir als Bürger*innen an Wahlen unsere individuellen Präferenzen äussern. Wenigstens im Hinblick auf bestimmte Fragen müssen wir uns vielmehr darum bemühen, einen Konsens zu finden, indem wir über diese Fragen miteinander debattieren.
«Gefordert ist lediglich, dass Individuen den Gedanken zulassen, dass es ausser ihnen noch andere Personen gibt, die eigene Sichtweisen und Bedürfnisse haben.»
Christian Budnik, Philosoph
Wie konkret die Forderung nach Zusammenkünften gemeint ist, in denen gemeinsam über Sachfragen diskutiert wird, ist in der philosophischen Debatte umstritten. Klar scheint aber, dass es für den Erfolg von Prozessen demokratischer Konsensfindung gewisse Vorbedingungen gibt. Dass Bürger*innen politische Herausforderungen überhaupt erst als kollektive Probleme betrachten, ist dafür zentral. Dazu müssen sie davon ausgehen, dass sie nicht die einzigen Wesen mit einer Perspektive auf die Welt sind, sondern in einer geteilten Welt leben.
Diese Forderung ist sehr grundlegend. Es geht dabei nicht darum, dass Bürger*innen aktiv Dinge tun, die dem Gemeinwohl zugutekommen – je nachdem, wie liberal die Demokratieauffassung ist, die man bevorzugt, wäre das möglicherweise auch zu viel des Guten. Gefordert ist lediglich, dass Individuen den Gedanken zulassen, dass es ausser ihnen noch andere Personen gibt, die eigene Sichtweisen und Bedürfnisse haben.
Eine Meinung haben reicht nicht
Wer nicht auf diese Weise zu denken in der Lage ist, kann an keiner Form der gemeinsamen Verständigung teilnehmen. Wie gefährlich das für die Demokratie sein kann, lässt sich an zahlreichen politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre – von Brexit über Trump bis zur Coronakrise – ablesen. Es sind dabei immer wieder Dynamiken zutage getreten, bei denen manche Bürger*innen sich verhalten haben, als würde es keine Mitbürger*innen geben.
Besonders deutlich kommt diese Haltung zum Vorschein, wenn Bürger*innen in öffentlichen Debatten einfach behaupten, was ihnen in den Kram passt. Wenn sie glauben, dass es in einer diskursiven Auseinandersetzung reicht, eine Meinung zu haben, ohne dass sie sich um die Gründe zu kümmern brauchen, die dafür oder dagegen sprechen. Wer in einer Debatte bei «Das ist halt meine Meinung» stehen bleibt, hat auf bestimmte Weise aufgehört, andere Debattenteilnehmer*innen wahrzunehmen und auf diese Weise die Debatte bereits verlassen. Für eine Demokratie ist das längerfristig kein haltbarer Zustand.
Nun wäre es selbstverständlich massiv übertrieben, unsere bizarr parkierenden Trotti-Fahrer*innen als Feinde des demokratischen Dialogs zu brandmarken. In vielen Fällen sind sie wohl einfach nur zerstreut gewesen. Das mitten auf dem Trottoir oder am Fussgängerstreifen stehende Trotti kann uns aber als Sinnbild daran erinnern, wie wichtig Bürger*innen, die ihre Mitmenschen mitdenken, für eine Demokratie sind.
Zur Person: Christian Budnik ist Philosoph. Er verbrachte seine ersten Lebensjahre in Polen, emigrierte dann mit seiner Familie nach Deutschland und lebt nun seit 15 Jahren in Bern.