Plötzlich Rückkehrzentrum statt Gastfamilie
Abgewiesene Asylsuchende können im Kanton Bern bei Privaten wohnen. Eine Gesetzesänderung sollte ihre Situation verbessern. Doch Gäste und Gastfamilien erleben das Gegenteil.
Um sich kennenzulernen, ging Clément Moussa bei der Familie Meier in Burgdorf abendessen. Sie unterhielten sich gut. Die Kinder mochten ihn und er mochte die Kinder. Das passt, sagten sich Giulia Meier und ihr Mann, und liessen Clément Moussa, der eigentlich anders heisst, bei sich leben.
Das war vor drei Jahren. Giulia Meier und der abgewiesene Asylsuchende Clément Moussa unterschrieben im Juni 2020 einen Vertrag mit dem Berner Migrationsdienst: Moussa wurde bei der Familie privat untergebracht. Abgesehen von seiner Krankenkassenprämie übernahm die Gastfamilie – mit der Unterstützung von Bekannten – alle Kosten.
Clément Moussa zog sofort ein. Im Rückkehrzentrum Mühleberg, wo er davor lebte, hielt ihn nichts. An einer Burgdorfer Quartierstrasse wohnt die Familie Meier im dritten von drei identischen Einfamilienhäusern. Im Erdgeschoss bezog Clément Moussa sein neues Zimmer: klein und ruhig, mit Parkett und Sicht in den Garten, wo im Sommer ein Planschbecken steht. Viele seiner Gesundheitsbeschwerden seien sofort verflogen. «C’était la fête», sagt er, ein Fest sei es gewesen, bei den Meiers einzuziehen. Während drei Jahren funktionierte das Zusammenleben bestens.
Heute würde es immer noch bestens funktionieren. Aber heute darf Clément Moussa nicht mehr bei der Familie Meier wohnen.
Nicht, weil die Familie das nicht mehr möchte. Im Gegenteil, sie kämpfte sogar darum, dass er in seinem Zimmer bleiben kann. Trotzdem beendete der Kanton Bern die private Unterbringung per Ende Mai.
Abgewiesene Asylsuchende: regulär illegal
Der 46-jährige Mann stammt aus Benin. 2015 ersuchte er in der Schweiz um Asyl. Sein Gesuch wurde abgewiesen, aber er blieb hier. Er besitzt keine Papiere. Die beninische Botschaft stellte ihm bisher auch auf Anfrage keine aus. Clément Moussa sagt, er könne nicht nach Benin zurückkehren. Nach Schweizer Recht wäre er dazu verpflichtet. Ausgeschafft werden kann er jedoch nicht – weil Benin ihn nicht als seinen Staatsbürger anerkennt.
Im Kanton Bern leben offiziell 590 Personen mit einem rechtskräftigen Wegweisungsentscheid. Viele von ihnen befinden sich seit Jahren in diesem Zustand: Sie sind hier, obwohl sie nicht hier sein dürften, können aber auch nicht ausgeschafft werden. Etwa, weil eine Ausschaffung nicht möglich ist, da mit dem Herkunftsstaat kein Rückübernahmeabkommen besteht oder Identitätspapiere fehlen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe beschreibt ihren Status als «reguläre Illegalität».
Die Behörden machen solchen Personen das Leben so unbequem wie möglich, um sie dazu zu bewegen, das Land zu verlassen. Erwerbstätigkeit ist verboten. Sie werden aus der Sozialhilfe ausgeschlossen und erhalten nur die grundrechtlich garantierte Nothilfe von rund 10 Franken pro Tag und die obligatorische Krankenversicherung. Und sie werden in Rückkehrzentren untergebracht, mit weniger Komfort und mehr Kontrolle als in regulären Asylunterkünften.
Strenger Kanton, ziviles Engagement
Da die Kantone für die Unterbringung von abgewiesenen Asylsuchenden zuständig sind, steht ihnen ein gewisser Spielraum im Umgang mit ihnen zu. So variiert die Nothilfe je nach Kanton ungefähr zwischen 7.50 und 12 Franken pro Tag. In manchen Kantonen werden Familien generell in Wohnungen untergebracht. In manchen gibt es Beschäftigungsprogramme, in anderen sind solche explizit verboten. Der Kanton Bern ist dabei für seine strenge Praxis bekannt.
Aus der Zivilbevölkerung gibt es seit längerer Zeit Bestrebungen, die Situation von Nothilfebeziehenden erträglicher zu gestalten.
Dass abgewiesene Asylsuchende wie Clément Moussa bei Privatpersonen unterkommen können, geht zum Beispiel auf zivile Organisationen wie die «Aktionsgruppe Nothilfe» zurück.
Sie hat sich für die Privatunterbringung eingesetzt, und seit einigen Jahren erlaubt sie der Kanton Bern. Dazu müssen Gastgeber*innen, abgeweisene Asylsuchende und der Migrationsdienst einen Vertrag unterzeichnen. Der ist jeweils für sechs Monate gültig und muss dann verlängert werden. So, wie bei Clément Moussa und der Familie Meier.
Das neue Gesetz
Bis Ende Oktober 2022 kamen die Gastfamilien für den ganzen Unterhalt der Menschen auf, die bei ihnen lebten. Die privat untergebrachten Personen erhielten auch keine Nothilfe mehr.
Das hat sich geändert: Die Nothilfe wird jetzt auch an privat Untergebrachte ausbezahlt.
Ursprung dafür ist eine Motion im Berner Grossen Rat. Die private Unterbringung sei eine geeignete Ergänzung zu kantonalen Einrichtungen und gesellschaftspolitisch sinnvoll, heisst es darin. Der Kanton könne damit Kosten sparen und sogar auf ein Rückkehrzentrum verzichten. Darum solle die Nothilfe auch hier bezahlt werden.
Dem stimmte der Grosse Rat 2020 zu. Und vermittelte damit: Er will die private Unterbringung fördern.
Die Gesetzesänderung dazu trat am 1. November 2022 in Kraft. Es wurde so für die Privatunterbringungen – die bereits seit längerer Zeit praktiziert wurden – eine gesetzliche Grundlage geschaffen. Gleichzeitig wurde die Nothilfe im Kanton Bern von acht auf zehn Franken pro Tag erhöht.
Der 1. November hätte also ein guter Tag werden sollen für Leute wie Clément Moussa. Doch es kam anders.
Der Abbruch
Im Herbst 2022 wurde Clément Moussa zwar darüber informiert, dass ihm neu die Nothilfe ausbezahlt würde. Er wurde aber auch aufgefordert, beim Migrationsdienst vorzusprechen.
Die Mitarbeiterin, die bisher alle sechs Monate ohne Vorbehalte seinen Vertrag erneuert hatte, sagte: «Sie müssen einen Reisepass einreichen oder eine Bestätigung der Botschaft, dass Sie einen beantragt haben. Sonst werden wir die private Unterbringung nicht mehr verlängern.»
Benin hatte unterdessen gar keine Botschaft mehr in der Schweiz. Clément Moussa hätte dafür nach Paris reisen müssen – aber er darf die Schweiz wegen seines irregulären Aufenthalts nicht verlassen. Clément Moussa teilte dem Migrationsdienst mit, er habe die Botschaft angerufen. Wie früher schon habe man ihm gesagt, dass er keine Dokumente erhalten würde, solange er nicht beweisen könne, dass er aus Benin stamme.
Ende Mai 2023 brach der Migrationsdienst die private Unterbringung ab.
Clément Moussa habe die Mitwirkungspflicht verletzt. Er müsse wieder in ein Rückkehrzentrum. Wohne er weiterhin bei Giulia Meier, mache sie sich strafbar.
Clément Moussa blieb nichts anderes übrig, als sein Zimmer in Burgdorf zu verlassen. Gegen den Willen der Familie Meier, die ihn gratis bei sich leben lassen möchte. Seit Juni ist er im Rückkehrzentrum Konolfingen registriert.
Praxisverschärfung oder «Märchen»?
Clément Moussa ist mit seinem Problem nicht allein. Bereits seit Sommer 2022 beobachtet die «Aktionsgruppe Nothilfe», die einen Teil der Privatunterbringungen koordiniert, solche Drohungen seitens des Migrationsdienstes: Identitätsdokumente – oder zurück ins Rückkehrzentrum.
Auffällig häufig seien seither Privatunterbringungen gar nicht erst bewilligt worden wegen fehlender Identitätspapiere, einige seien abgebrochen worden. Bei einigen Verträgen, denen ein Abbruch droht, stehe der Entscheid im Juli oder August an.
Der Berner Aktivist Jürg Schneider sprach letzten Herbst gegenüber «Bund/BZ» und der «Republik» von einer Praxisverschärfung.
Der Kanton Bern bestreitet das. Eine Pflicht der abgewiesenen Asylsuchenden, bei der Beschaffung von Dokumenten mitzuwirken, habe schon immer bestanden.
Der zuständige Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) nannte im letzten Dezember den Vorwurf, er habe eine Verschärfung veranlasst, ein «Märchen». Auch heute bestreitet er auf Anfrage der «Hauptstadt» eine Praxisverschärfung vehement. Das sei eine wiederholte und widerlegte Falschbehauptung. Die Mitwirkungspflicht werde jetzt nicht anders gehandhabt als vorher. Die beendeten Verträge seien eine Handvoll Einzelfälle, und auch schon vor der Gesetzesänderung habe es solche gegeben. Die aktivistischen Kreise verbreiteten Verschwörungstheorien.
Märchen oder nicht – Clément Moussa lebt wieder im Rückkehrzentrum. Er sagt, einer seiner Mitbewohner aus Afghanistan sei in derselben Situation wie er. Auch die Berner Aktivistin Selam Habtemariam berichtet von fünf Privatunterbringungen, die in den vergangenen Monaten abgebrochen worden seien. Bei allen handle es sich um Personen, die seit längerer Zeit ohne Probleme so gelebt hätten. Ausserdem seien vermehrt Anträge für Privatunterbringungen gar nicht erst bewilligt worden – wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht. Selam Habtemariam sagt: «Es gab im November eine Reform.»
Grosser Rat vs. Sicherheitsdirektion
Der Grossrat Hanspeter Steiner (EVP) war eine der treibenden Kräfte hinter der Motion, die zum neuen Gesetz vom November führte. Er sagt: «Wenn Privatunterbringungen es jetzt tatsächlich schwerer haben als vorher, dann handelt die Sicherheitsdirektion damit gegen den Willen des Gesetzgebers.» Auch SP-Grossrätin Tanja Bauer sagte bereits im Dezember, die Kantonsregierung missachte den Willen des Parlaments.
Die kantonale Sicherheitsdirektion ist für die Umsetzung des neuen Gesetzes zuständig. Bei Akteur*innen aus der Politik und aus Organisationen, die sich mit den Privatunterbringungen beschäftigen, herrscht die Auffassung vor: Der Sicherheitsdirektion habe die Gesetzesänderung zugunsten der abgewiesenen Asylsuchenden nicht gepasst. Dass die Privatunterbringungen jetzt plötzlich beendet werden, sei die Reaktion darauf.
Auch das weist Philippe Müller weit von sich. Der Grosse Rat habe ein Gesetz gutgeheissen, das die Pflicht zur Beschaffung von Identitätsdokumenten unmissverständlich festhalte. Die Behauptung, die Migrationsbehörde handle gegen den Willen des Gesetzgebers, sei unhaltbar.
Keine Zahlen vom Kanton
Statistische Zahlen könnten wohl aufzeigen, ob der Kanton private Unterbringungen in den letzten Monaten häufiger beendete oder nicht bewilligte als zuvor. Die «Hauptstadt» hat den Kanton Bern danach gefragt. Sie wollte wissen, wie viele Privatunterbringungen seit November 2022 aufgehoben oder gar nicht erst bewilligt wurden, und wie viele in den Jahren davor.
Doch das Amt für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern will keine Zahlen nennen – obwohl es das gemäss Öffentlichkeitsprinzip eigentlich müsste.
Es teilt einzig mit: «Seit 1. November 2022 wurden in wenigen Einzelfällen Privatunterbringungen aufgrund Verletzung der Mitwirkungspflicht aufgehoben, dasselbe gilt für die Vorjahre. Auch bei den Privatunterbringungen, die nicht gewährt werden konnten, handelt es sich – seit Juli 2022 und auch in den Vorjahren – um Einzelfälle.»
Verfügbar ist nur die Gesamtzahl der Privatunterbringungen im Kanton Bern. Im Juni 2022 waren das laut Kanton 145, im November 2022 138 und aktuell sind es 125. Die Tendenz ist abnehmend. Was der Grund dafür ist, bleibt ohne weitere Angaben unklar.
Ein langer Beschwerdeweg
Mindestens ein Betroffener hat den Rechtsweg ergriffen. Der Berner Rechtsanwalt David Krummen hat eine Beschwerde eingereicht für einen Mann aus dem Iran. Seine Privatunterbringung wurde letztes Jahr beendet, weil er keine Identitätsdokumente beschafft hatte. Der Mann stellte daraufhin ein neues Gesuch um Privatunterbringung. Auch das wurde im Januar dieses Jahres abgelehnt.
Die Mitwirkungspflicht für eine Privatunterbringung vorauszusetzen sei verfassungswidrig, argumentiert er.
Die Beschwerde geht an die Sicherheitsdirektion – und landet damit früher oder später auf dem Schreibtisch von Philippe Müller. Erst danach könnte sie ans Berner Verwaltungsgericht weitergezogen werden.
Vom Einreichen der Beschwerde bei der Sicherheitsdirektion bis zu einem Entscheid des Verwaltungsgerichts könnten aber gut zwei Jahre vergehen, sagt Rechtsanwalt David Krummen.
«Tauziehen»
Giulia Meier sitzt an ihrem Gartentisch in Burgdorf, direkt vor dem Zimmer, das sie nach wie vor gerne Clément Moussa überlassen würde. Die Beziehung zwischen ihm und der ganzen Familie sei mit den Jahren vertraut geworden. Für sie gebe es keinen nachvollziehbaren Grund, weshalb Moussa nicht mehr hier leben sollte.
«Als Gastfamilien entlasten wir den Kanton. Wir übernehmen die Kosten für die Unterbringung der Personen. Gleichzeitig wird überall beklagt, dass Asylunterkünfte aus allen Nähten platzen», sagt sie.
Giulia Meier sagt, auf sie wirke dieser Vertragsabbruch wie sinnlose Bürokratie. Sie findet den Entscheid unvernünftig. Es sei wohl ein Tauziehen zwischen Parlament und Regierung. «Es ist nicht fair, dass unser Gast und wir das ausbaden müssen», sagt sie.