«Warum kann ich nur eine romantische Beziehung haben?»

Diese drei Berner*innen leben in einer polyamoren Beziehung. Sie setzen sich dafür ein, dass alternative Beziehungsmodelle in der Gesellschaft akzeptiert werden.

Poly Reportage fotografiert am Mittwoch, 7. Februar 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Reyhana Hrnjadovic, Jonas Wittwer und Anina Jaussi leben in einer polyamoren Beziehung. (Bild: Simon Boschi)

Grenzen, Bedürfnisse und Definitionen spielen eine wichtige Rolle im Leben von Reyhana Hrnjadovic (27), Anina Jaussi (30) und Jonas Wittwer (35). Die drei leben in einer polyamoren Beziehung – und machen damit Aktivismus.

Monogamie habe für sie nie Sinn ergeben, erzählt Hrnjadovic beim Besuch der «Hauptstadt»: «Warum kann ich mehrere Freundschaften haben, aber nur eine romantische Beziehung?» Eifersucht spüre sie fast nie, im Gegenteil: «Wenn mein Beziehungsmensch Freude an anderen Beziehungen hat, freue ich mich mit.»

Anina Jaussi schätzt an der Polyamorie, dass sie unbeschwert neue Leute kennenlernen kann. «Ob wir kuscheln oder uns umarmen, hängt von unseren Bedürfnissen ab. Nicht von meinem Beziehungsstatus.»

Jaussi ist das erste Mal in Kontakt mit Polyamorie gekommen, als sie vor fünf Jahren Jonas Wittwer kennenlernte. «Lange sträubte sich etwas in mir gegen diese Beziehungsform. Ich konnte es aber nicht benennen», erinnert sich Jaussi.

Für Jonas Wittwer aber steht fest: «Für mich kommt nichts anderes als Polyamorie in Frage.»

Über die eigenen Bedürfnisse nachdenken

Polyamorie ist eine Beziehungsform, bei der eine Person mehrere Partner*innen liebt und zu allen einzeln eine Beziehung pflegt – und alle Beteiligten darüber Bescheid wissen und damit einverstanden sind. So wie bei Hrnjadovic, Jaussi und Wittwer: Alle führen sie mit den jeweils anderen eine Beziehung.

Als sich Jaussi und Wittwer kennenlernten, traf Wittwer auch andere Menschen. «Ich beobachtete, was das mit mir macht», erinnert sich Jaussi. Sie sinnierte immer stärker über ihre eigenen Bedürfnisse in Beziehungen. «Irgendwann habe ich bemerkt, dass Polyamorie mega gut mit meinen Werten übereinstimmt.» Sie tauschten das Label «Freundschaft» mit «Beziehung» aus.

Poly Reportage fotografiert am Mittwoch, 7. Februar 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Beziehungsgespräche nehmen drei Stunden pro Tag in Anspruch. «Klingt krasser, als es ist», sagt Anina Jaussi. (Bild: Simon Boschi)

Im Herbst 2019 organisierten Jaussi und Wittwer gemeinsam mit einer weiteren Person einen Vorleseabend für queere Liebesgeschichten in Bern. Reyhana Hrnjadovic besuchte diesen Anlass und lernte dort Jaussi und Wittwer kennen. Wenig später war auch sie Teil der Beziehung.

Rund drei Stunden pro Tag sprechen Wittwer, Jaussi und Hrnjadovic über ihre Bezieung. Es geht darum, die Agenden aufeinander abzustimmen, Haushaltsaufgaben aufzuteilen und über Bedürfnisse wie zum Beispiel Kuscheln, Sex oder Serienschauen zu sprechen. «Klingt krasser, als es ist», sagt Jaussi. «Nicht anstrengend», findet Wittwer. Sie beide teilen sich eine Wohnung in Bern, Hrnjadovic wohnt ein Haus weiter. Diese räumliche Nähe erleichtere die Koordination.

Zeit, die verhandelten Bedürfnisse auszuleben, bleibe genug. Und gerade weil sie ihre Bedürfnisse aktiv äussern, sei die Chance gross, dass sie befriedigt werden. Wittwer macht ein Beispiel: «Wenn ich das ganze Wochenende weg bin, plane ich extra am Freitag Zeit ein, um mit meiner Partnerin zu kuscheln. Weil ich weiss, dass ihr Bedürfnis nach Nähe sonst zu lange ungestillt bleiben würde.»

Minimalanforderung: zusammen essen

Wichtig ist ihnen der Begriff «Kitchentable-Poly», eine Art Sympathie-Check, wenn es um die Erweiterung der Beziehung geht: «Will jemand eine*n neue*n Partner*in treffen, müssen wir alle am gleichen Tisch essen können und uns alle dabei einigermassen wohl fühlen», so Wittwer. Einmal habe Jaussi eine Person, die Wittwer toll gefunden hat, nicht sympathisch gefunden. Kein gemeinsames Essen. Wittwer habe es dann sein lassen.

Wie viele Menschen zu ihrer Beziehung zählen, sei nicht so klar, sagen alle drei. Je nachdem, wo man die Grenze zieht, seien es inklusive ihnen drei etwa sieben. Dass sich die Zahl nicht so genau bestimmen lässt, hat auch mit dem Konzept der sogenannten Beziehungsanarchie zu tun, mit dem sich alle drei identifizieren. Dahinter steckt die Idee, dass man jede Beziehung – romantisch oder nicht – von Grund auf neu denkt und auf die Bedürfnisse aller Beteiligten abstimmt. Losgelöst von bereits bestehenden Konzepten oder gesellschaftlichen Erwartungen. «Scheiss auf die gesellschaftlichen Normen», fasst es Wittwer zusammen.

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Jonas Wittwer möchte mit dem Verein «bunt_lieben» gesellschaftliche und rechtliche Hürden alternativer Beziehungsformen abbauen. (Bild: Simon Boschi)

Der Aktivismus der drei läuft vor allem über den Verein «bunt_lieben», der sich aus dem Vorleseabend in Bern entwickelt hat. «Der Verein soll für Personen mit alternativen Beziehungsformen so etwas werden wie die LOS oder Pink Cross für Homosexuelle», erklärt Jonas Wittwer.

Der Verein organisiert Lesegruppen, Talks zu Themen wie «Neurodiversität und Kink» oder «Alternative Beziehungen und Recht», oder Spaziergänge, wo sich Menschen ungezwungen austauschen können.

Wittwer doktoriert in Philosophie, Jaussi arbeitet als Bibliothekarin und Hrnjadovic bezieht eine IV-Rente. Sie sehen sich in privilegierten Positionen – finanziell und von der sozialen Stellung her: «In meinem Arbeitsumfeld greift mich niemand an wegen meiner Lebensform. In meinem Gebiet sprechen wir über Gender und Sex, daher ist das kein Problem», erklärt Wittwer.

Wegen ihren Privilegien fühlen sie sich verpflichtet, für ihre Lebensform einzustehen und dazu beizutragen, dass diese normalisiert wird. Und dass gesellschaftliche und rechtliche Hürden fallen.

Um sich gegenseitig abzusichern, haben Jaussi und Wittwer ein Testament, einen Konkubinatsvertrag und eine Patientenverfügung geschrieben. Kompliziert sei das gewesen. «Am einfachsten hätten wir geheiratet», so Jaussi. Aber das gehe halt nur für zwei Personen – und sei nicht in Frage gekommen. Immerhin hätten sie weder Kinder noch Wohneigentum, damit wäre es noch komplizierter geworden.

Poly Reportage fotografiert am Mittwoch, 7. Februar 2024 in Bern. (hauptstadt.be / Simon Boschi)
Für Reyhana Hrnjadovic hat Monogamie nie Sinn ergeben. (Bild: Simon Boschi)

Jonas Wittwer ist seit diesem Jahr zu 20 Prozent bei dem Verein angestellt. Anina Jaussi und Reyhana Hrnjadovic arbeiten ehrenamtlich mit. Doch der Verein prägt die Beziehung stärker, als es sich in Arbeitsstunden ausdrücken lässt: «Der Aktivismus ist immer präsent in unserem Leben. Da gibt es keinen Feierabend», so Jaussi.

Wenn sie zum Beispiel Veranstaltungen für den Verein planen, würden sie vom entsprechenden Thema rasch die Brücke schlagen zu ihrer eigenen Beziehung und das weiterdiskutieren. Eine Grenze zwischen Beziehungs- und Vereinsleben existiere nur begrenzt.

Für Jaussi ist das in Ordnung. Aktivismus bedeutet für sie auch Selbstfürsorge. «Ich setze mich mit Themen auseinander, die mein Leben beschäftigen. Und lerne mich selbst so immer besser kennen.»

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Diskussion

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Peter Birrer
29. Februar 2024 um 15:43

Über drei Stunden PRO TAG über Beziehung(en) sprechen? Ehrenwert. Aber da muss viel Zeit und Musse sein.