Starke Momente der Verletzlichkeit
Mögen an Krebs erkrankte Frauen Karaoke singen? Sicher, sagt die Berner Regisseurin Emily Magorrian. Sie erzählt über ihre eigene Krebsgeschichte, ihr Theaterstück «Krebskaraoke» und wie stark es ist, verletzlich zu sein.
Emily Magorrian spricht gleichermassen leicht über ihre Lebensgeschichte wie über ihre Krebserkrankung. Sie ist freie Theaterschaffende, hat einen Partner, kleine Kinder, lebt in Baden und arbeitet in Bern. Doch begonnen hat ihre Geschichte an einem anderen Ort.
Magorrian ist in England aufgewachsen. Mit zehn Jahren spielt sie erstmals in einem Theaterstück mit. Von da an lässt es sie nicht mehr los. Am Gymnasium wählt sie die Fächer Englisch, Geschichte und Theater, obwohl ihre Stärken eigentlich in den Naturwissenschaften liegen. Darüber lacht sie noch heute: «Als ich damals die Saison-Vorschau für die Royal Shakespeare Company gesehen und dabei geweint habe, da wusste ich, um mich ist es geschehen.»
2014 wird ihr erstes Stück «unfinished place» in Schottland und England aufgeführt. Im gleichen Jahr zieht sie zusammen mit ihrem Partner nach Bern, macht den Master of Scenic Arts Practice an der Hochschule der Künste Bern und arbeitet von da an als freischaffende Theatermacherin. Bis sie 2016 ihre Diagnose erhält: Burkitt-Lymphom, eine aggressive und sich rasant ausbreitende Krebserkrankung. «Wenn man heute einen zwei Zentimeter grossen Knoten hat, ist er morgen vier Zentimeter gross», erzählt Emily Magorrian.
«Ich hatte einen Hollywood-Krebs.»
Drei Monate lang ist sie im Inselspital und bekommt ein Medikament namens Neupogen verabreicht. «Der Name des Medikamentes erinnerte mich an das Lied Purple Rain von Prince. Und so begann ich während der Therapie Neupogen in der Melodie des Liedes zu summen». Emily Magorrian lacht bei der Erinnerung an diese Zeit und summt dreimal leise: «Neupogen, Neupogen, Neupogen.»
Verarbeitung durch das Theater
Der Krebs habe für sie zwei Dinge gleichzeitig bedeutet: «Gift» wie im Deutschen und «Gift» wie im Englischen: ein Geschenk. «Seit meiner Diagnose habe ich mein Leben schätzen gelernt. Ich habe Entscheidungen getroffen, die ich vielleicht vorher nicht gefällt hätte», erzählt Emily Magorrian.
Entgegen den Erwartungen der Ärzt*innen übersteht die damals 25-Jährige die Chemotherapie, und der Tumor verschwindet. Ihr Partner unterstützt sie in dieser schweren Zeit. Sie erfährt, dass sie nach dem Krebs Kinder kriegen kann: «Ich hatte einen Hollywood-Krebs. So etwas, was man typisch nur in den Filmen sieht. Eine junge, weisse Frau, die überlebt und danach ein glückliches Leben ohne Reue führt.»
In der Zeit nach dem Spital wird ihr bewusst, dass es noch viele andere unerzählte Krebsgeschichten gibt. Und diese möchte sie an die Menschen bringen. Also wendet sich Magorrian an den Ort, der ihr am vertrautesten ist: das Theater. Zusammen mit Jonas Egloff, dem Leiter der B’bühne in Aarau, die sich auf professionelles Theater mit Laien spezialisiert hat, überlegt sie sich ein Konzept und druckt Flyer.
«Es war ein Bild von mir mit Glatze. Ich schrie. Es sah ein bisschen aus wie das Cover einer Grace-Jones-Platte», sagt Emily Magorrian und lächelt. Egloff und Magorrian verteilen die Flyer in Spitälern in Aarau und Bern und warten auf Antworten. Elf Frauen melden sich. Die Co-Regisseure interviewen jede einzeln bei sich zuhause und schreiben aus den Geschichten der Frauen die Texte für das Theater.
Im selben Boot
Beim ersten Treffen singt die Gruppe zusammen Karaoke, sie trinken und feiern. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung. Bis eine der Frauen auf ihrem Handy einen verpassten Anruf des Spitals sieht. «Wir wussten alle, was das bedeutet», erzählt Emily Magorrian. Es ist ein Moment, der ihr unter die Haut geht. Und ihr zeigt, wie stark die eigene Verletzlichkeit ist.
«Menschen gehen ins Theater, um etwas zu fühlen», sagt die Regisseurin. Ihr Theaterstück «Krebskaraoke» will dies mit rohen und echten Momenten bewirken. Mit Direktheit und purem schwarzen Humor. Und einer Prise von Emily Magorrian selbst. «Etwa 90 Prozent der Theaterstücke drehen sich um Themen, die mir selbst nahe sind», erzählt die Engländerin.
«Menschen gehen ins Theater, um etwas zu fühlen.»
Das kann auch schwer sein. Gerade im Fall von «Krebskaraoke»: «Manchmal ist es total schön, manchmal aber auch echt zu viel. Es ist, als würde man ständig mit dieser Angst leben. Es darf einfach nicht passieren, dass sie einen übermannt.»
Im letzten Winter ist eine der Schauspielerinnen gestorben. Danach hat sich das Stück verändert. Die Darstellerinnen halten während der Aufführung an einer bestimmten Stelle inne und teilen mit den Zuschauer*innen Erinnerungen an sie. Erzählen darüber, was für ein Mensch sie war. Erzählen über ihre Diagnose. Und stossen gemeinsam mit dem Publikum auf sie an. Danach nimmt der Karaoke-Abend weiter seinen Lauf. «Wir vermissen sie alle sehr», erzählt Magorrian, «die Theatergruppe ist über die Zeit zu einer Gemeinschaft geworden.»
Kritik an der Gesprächskultur
Im Stück geht es darum, die «Mauer des Schweigens», wie sie Emily Magorrian nennt, zu durchbrechen. Mit lautem Singen und auch etwas Provokation. Die Darstellerinnen reden offen über ihren Krebs und wehren sich gegen das «Es wird alles wieder gut», dass sie als Patientinnen oft von Menschen zu hören bekommen.
Auch Magorrian hat diese Erfahrung gemacht, als sie in Chemotherapie war. «Die Menschen nehmen einem so die eigenen Worte aus dem Mund. Weil sie nichts mehr über die Krankheit hören wollen», erzählt die Regisseurin. «Dabei braucht es Tage, an denen man heulen kann. Wütend sein kann. Denn bei Krebs weiss man eben nicht, ob es gut kommt».
Der Krebs liegt bei Emily Magorrian in der Familie. «Es würde mich sehr überraschen, wenn ich ein langes Leben hätte.» Das ist der Satz, der nach dem Gespräch mit ihr hängen bleibt. Sie ist sich bewusst, dass irgendwann eine zweite Diagnose kommen wird. Doch das hält sie nicht davon ab, das Leben zu geniessen. Und auf den Bühnen laut darüber zu singen. Auch wenn «Krebskaraoke» diese Woche im Tojo Theater in der Berner Reitschule Dernière feiert, werde ein Gefühl dieser Zeit in ihr erhalten bleiben.
Was passiert nach der letzten Vorstellung, Frau Magorrian? «Wir gehen Karaokesingen, in eine richtige Bar. Und stossen aufs Leben an.»