Hauptstadt der Arbeitsgruppen
Alle vier Jahre definieren die Wirtschaftsverbände von Stadt und Region Bern, was ihnen auf der politischen Agenda wichtig ist. Neu ist: Umwelt und Klima sind erstmals explizit ein Thema. Und: Der Dialog mit der rot-grünen Stadtregierung soll forciert werden.
30 Jahre ist die Stadt Bern politisch fest in der Hand der rot-grünen Parteien. Wenn es einen gesellschaftlichen Bereich gibt, mit dem Rot-Grün den Dialog nie so richtig gefunden hat, ist das die Wirtschaft. Zum Ausdruck kommt das etwa bei den Legislaturrichtlinien, in denen sich der Gemeinderat die strategischen Leitplanken für seine Regierungsarbeit gibt. 2017 ging das Wort Wirtschaft in dem Strategiepapier ganz vergessen. In der aktuellen Version von 2021 findet man ein paar wirtschaftliche Überlegungen. Etwa das Bekenntnis, man wolle die von der Pandemie stark gebeutelten Branchen wie Gastro, Event und Detailhandel in der Innenstadt unterstützen.
Trotzdem fühlt sich die Wirtschaft in Bern sehr oft unverstanden – als Teil der Stadt, der als gegeben hingenommen wird. Und über dessen Bedeutung und Probleme sich namentlich die regierende Mehrheit, aber auch Teile der Bevölkerung wenig Gedanken machen.
Versöhnlicher Ton
Quasi als Gegengewicht zu den Regierungsleitlinien legen die Wirtschaftsverbände von Stadt und Region Bern – gemeint sind damit der Gewerbeverband KMU Stadt Bern, der Handels- und Industrieverein, der Arbeitgeberverband, der Hauseigentümerverband und die Innenstadtvereinigung Berncity – alle vier Jahre ihr Prioritätenprogramm vor. Die neueste, am Montag präsentierte Ausgabe heisst: «Bern braucht Zukunft».
Die zehnseitige, sehr knapp formulierte Broschüre kann hier konsultiert werden. Was sofort auffällt: Die Forderungen sind dezidiert wirtschaftsfreundlich, aber in dialogbereitem Ton formuliert. Es geht nicht nur um den Steuerfuss, sondern auch um Kultur oder die Förderung von Tagesschulen. Allerdings ist die Auslegeordnung der wirtschaftlichen Forderungen auch nicht frei von Widersprüchen. Schon nur, dass eine Agenda namens «Bern braucht Zukunft» den Medien ausschliesslich von Männern präsentiert wurde.
Man liest in dem Papier zahlreiche Evergreens der wirtschaftspolitischen Lokalagenda, die bereits im Wirtschaftsprogramm von 2018 aufgelistet waren. Dass die Stadt Bern in ihrem Weingut nicht weiter öffentliche Finanzmittel verbrennen soll. Dass sie darauf verzichten soll, für zu viel Geld selber Häuser aufzukaufen, um den Bedarf nach günstigem Wohnraum zu befriedigen. Dass sie endlich den Carterminal im Neufeld auf Vordermann bringen soll. Dass sie die Stadtgärtnerei nicht vergrössern, sondern verkleinern soll. Und vor allem: Dass sie nicht mehr Geld ausgeben soll, als sie einnimmt.
Wenn das Wirtschaftsprogramm auch Langzeittraktanden repetiere, bedeute das nicht, dass die Forderungen der Verbände ungehört verhallten, beteuerte Uwe E. Jocham, Direktionspräsident der Insel-Gruppe und Präsident des Arbeitgeberverbands Region Bern: «Steter Tropfen höhlt den Stein», sagte er, die Aushandlung unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen sei ein Ausdauerprojekt. Man müsse, wie in jeder Unternehmung, einfach immer dranbleiben.
Priorität Klima
Besonders interessant am jüngsten Wirtschaftsprogramm: Erstmals widmen die Wirtschaftsvertreter Umwelt und Klima ein eigenes Kapitel. «Und zwar nicht, weil es in den letzten Wochen so heiss war und das Klima plötzlich alle interessiert», sagt HIV-Präsident Giorgio Albisetti. Sondern: «Weil das Thema in den Unternehmungen längst Priorität hat.» Beispielsweise will man sich zugunsten der Biodiversität einsetzen, etwa bei der Umgebungsgestaltung von Gewerbe- und Industriearealen.
Das Problem ist allerdings, dass diese Areale in der Stadt immer seltener werden. Weil die Stadt den verdichteten Wohnungsbau forciert – in den Augen der Wirtschaft jedoch zu wenig dezidiert – kommen Gewerbeareale immer stärker unter Druck. Namentlich, wenn die angesiedelten Betriebe Verkehr, Lärm oder Geruch verursachen. Die Folgen: Unternehmen – und damit auch Betriebe, die Lehrlinge beschäftigen – ziehen aus der Stadt weg. Im grossen Überbauungsprojekt Weyermannshaus West an der Grenze zu Bümpliz wird dieser Konflikt aktuell gerade ausgefochten.
HIV-Präsident Giorgio Albisetti plädierte dafür – trotz klar wirtschaftsliberaler Haltung – die politischen Realitäten in der Stadt zu akzeptieren. Der Dialog sei fundamental, wenn man vorwärtskommen wolle. Besonders im umstrittenen Dossier Verkehr (Tempo 30, Parkplätze) finde dieser wieder auf Augenhöhe statt, seit Gemeinderätin Marieke Kruit (SP) der Direktion für Tiefbau, Verkehr und Stadtgrün vorstehe.
Die Gesprächsbereitschaft seitens Verwaltung und Politik sei gross. So gross, dass «wir von Seiten Wirtschaft pro Woche wohl an drei Arbeitsgruppensitzungen teilnehmen könnten», lobte Sven Gubler, Direktor der Innenstadtvereinigung Berncity, die Offenheit für den Dialog. Gelegentlich stosse man angesichts des Hangs, zu jedem Thema eine Arbeitsgruppe zu bilden, an Kapazitätsgrenzen – und «am Ende des Tags zählt natürlich das Resultat, zu dem der Dialog führt».
Thomas Balmer, Präsident von KMU Stadt Bern, ist vom Ergebnis der diversen Dialoge häufig nicht befriedigt. Er versuche seit 30 Jahren, in der rot-grünen Stadt «zu erklären, wie Wirtschaft funktioniert», sagte er leicht ironisch. In der Hauptstadt der Arbeitsgruppen wird ihm die Arbeit nie ausgehen.